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Der Entschluss

Im Dokument Von Bremen in die Anderswelt (Seite 49-54)

»ungesicherten« Identität

1.2 Laupeyßers »Fluchten«: die Identitätskrise

1.2.2 Der Entschluss

Durch die Erfahrung des Films ist Laupeyßer vollends in eine Identitätskrise gestürzt, die als zweite Flucht bezeichnet wird (vgl.VG, 14). Er fasst am Tag nach dem Kinobe-such einen »Entschluß« (VG, 8), der im Kontext der Erwähnung nicht erläutert wird und daher einer eindeutigen Definition oder Zuordnung entbehrt. Durch verschiede-ne auf den Entschluss deutende Formulierungen kann er jedoch eingegrenzt werden.

19 Salò o le 120 giornate di Sodoma; auch inVGwird bei der einzigen Nennung des Titels der italieni-sche Kurztitel verwendet, sieheVG, 124.

20 Vgl. Dietrich Kuhlbrodt: »Große Schnitte, kleine Schnitte«, in:die tageszeitung, 7. Mai 2003.

Zum einen liegt der Entschluss wohl darin, »den Fragen« (ebd.) nicht mehr länger auszuweichen, die sich wie oben bereits erwähnt auf die deutsche Vergangenheit beziehen. Zum anderen, und darin ist deutlicher der Entschluss zu erkennen, nimmt er sich vor:

Nimmer nämlich […] werde ich ausführen wollen weiterhin, was genannt wird gut von mir fremden, entäußerlichten Instanzen, deren Durchsichtigkeit gelitten hat am Milchglas ihrer halbverborgenen Absicht; die sich aufgeteilt haben dann die Welt in große Begriffe von Freiheit und Sozialismus. Nein. (VG, 10f.)21

Eingebettet ist dieser Entschluss in Andeutungen politischer Positionen und Zitate.

Laupeyßer setzt sich von der marxistischen Ausrichtung der ›Neuen Linken‹ der 1968er ebenso wie der der DDR und UdSSR ab. Angedeutet wird die Unterstützung des chilenischen Diktators Pinochet nach dem Putsch von 1973 durch deutsche Politiker und nur noch wörtlich aufgeführt und damit in den Zusammenhang eingereiht der Korea- und der Vietnamkrieg. Laupeyßer fühlt sich also weder bei der Neuen Linken aufgehoben, kann auch nicht mit dem DDR-Sozialismus sympathisieren, noch fühlt er sich wohl in der Bundesrepublik, die Diktatoren und die USA in aus seiner Sicht unrechtmäßigen Kriegen unterstützt,22und wo ›nach Auschwitz‹ wieder Judenwitze auftauchen. Er sieht sich folglich als (politisch) Heimatloser und sucht nach einem

»Ausweg aus Familie/Arbeit/Vaterland« (VG, 11). Der im Zitat formulierte Entschluss bedeutet zunächst also die Abkehr von ›normaler‹ Arbeit, gesehen als Produktion für Andere. Tatsächlich geht Laupeyßer auch nur noch unregelmäßig und später gar nicht mehr ins Büro, bis ihm in der Folge auch gekündigt wird.

Laupeyßer beginnt damit, seine Verwandten und Freunde zu befragen, vor allem die Generation der Großeltern, die »aktiv dabeigewesen« (VG, 8) waren, die die Generation der ›Täter‹ war. Er legt pedantisch genaue Aufzeichnungen an, macht Notizen, nimmt Gespräche heimlich mit Kassettenrekorder oder Diktiergerät auf, hört diese ab, aber verarbeitet sie nicht weiter. Er interessiert sich vor allem für die Details. Doch bald nimmt er davon Abstand, aus »Kraftmangel« und da die Fragen ihm »versieg[en]«

(VG, 9). Weder die Fragen noch die Antworten werden jedoch aufgeführt. Er hat nicht das Gefühl, durch die möglichen Antworten etwas klären zu können, vielmehr sieht er in den Fragen schon die Antworten, dass es also nicht um die Erfahrungen und Meinungen der Befragten geht, sondern um ihn als Fragenden selbst. Später gesteht Laupeyßer auch ein, dass es sich bei dem »eigentlichen Thema« (VG, 8), das anfangs die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit bedeutete, um die Auseinandersetzung mit sich selbst handelt:

Hatte ich nämlich durch Tonbandaufzeichnungen und Notizen vorgeblich über andere etwas herausfinden wollen, so wollte ich in Wahrheit dochmichhaben.

Alles andere interessierte gar nicht.« (VG, 101)

21 Beide Formulierungen enthalten den Aspekt des Auflehnens gegen etwas, der auch mehrfach noch betont wird: »Auf keinen Fall mehr klein begeben zu wollen.« (VG, 56) sowieex negativo erschlossen: »Ich fand mich immer noch ab, arrangierte mich.« (VG, 107)

22 Vgl. auch die späteren, mehrfachen Hinweise auf das Massaker von My Lai (1968), dazu mehr in Abschnitt 1.3.1 auf Seite 61.

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Die Befragungen lösen in ihm Reaktionen aus, die eine mentale und auch körperliche Veränderung in Gang setzen. Es baut sich durch die Befragungen die Empfindung von »Entfernung« (VG, 8) auf, als körperliche Reaktion stellt sich erst einmal ein Grippegefühl ein. Die mentale Reaktion ist noch drastischer. Es schwindet schließlich das natürliche Bewusstsein seiner selbst als Einheit, oder, in seiner Formulierung, es wird das »mir« (VG, 17) ihm fraglich. Das bedeutet die Infragestellung seiner Identität, die Erschütterung seines Selbst in seinen Grundfesten.

1.2.3 »Der Abstieg des hoffnungsvollen Laupeyßer-Ulf«23

Laupeyßers Entschluss beinhaltet oder geht zumindest einher mit einem planvollen

»Abstieg« (VG, 17). Die Tonbandaufnahmen und eigene Notizen häuft er nur noch an, er verarbeitet sie nicht mehr, wirft alles in den bereits erwähnten Pappkarton.24Die Kollegen bemerken ein Gefühl von Hass, das ihn umgibt, doch Laupeyßer zieht sich absichtlich zurück, schränkt seinen Kontakt auf wenige Treffen mit früheren Klassen-kameraden ein. Zwar sucht er noch täglich das bereits bekannte Café auf, doch ist sein Zustand einer der bewussten Isolation. Auf verschiedene Weisen durchbricht er diese anfangs noch. Er besucht regelmäßig Agnes, um ihr seine Imaginationen um Falbin zu erzählen und führt lange Gespräche mit ihr, er verbringt ein Wochenende unter nicht ganz geklärten Umständen in Frankfurt und besucht zwei Mal Freunde im Emsland und in Hamburg. Auch verbringt er einen unbeschwerten Tag mit Freunden an einem Badesee, wo er einmal nicht an seine neue Situation denkt. Durch diese lediglich am Rande erwähnten Episoden wird deutlich, dass Laupeyßer auch ›normale‹ soziale Kontakte zu haben und kein sozial gestörter pathologischer Fall zu sein scheint. Diese Deutung wäre naheliegend durch die Kennzeichen seiner sonstigen Entwicklung, die extrem ist. Gut eine Woche nach dem Kinobesuch, am 13.8.,25gibt er eine Annonce für den Verkauf seiner Wohnungseinrichtung auf, der am nächsten Tag erfolgt. Bis auf den Fernseher, einen Tisch, den Kühlschrank und ein wenig Besteck verkauft er alles, reißt dann auch das Telefonkabel aus der Wand und stellt die Türklingel ab.

Gleichzeitig wird die fundamentale Identitätskrise durch verschiedene Erfahrungen deutlich, die Laupeyßers tiefe Verunsicherung zeigen. Er stellt die Autonomie seiner Entscheidungen und seines Willens infrage, schließlich sogar die Wahrnehmung der Wirklichkeit; nichts scheint ihm mehr sicher zu sein. Dies drückt sich weniger durch theoretische Reflexionen aus, als durch von unscheinbaren Beobachtungen hervorgerufene emotionale Erlebnisse. So sinnt er beispielsweise lange dem Wort

»Löffel« (VG, 70) nach und stellt fest, dass er mit dem Wort an sich nichts mehr anzufangen weiß. Die Begriffe werden ihm fremd.26In der Folge geht ihm der Bezug zum Gegenstand, zu den mit Begriffen bezeichneten Dingen, dem Signifikat, verloren.

Er befreit sich also von der Außenperspektive und geht bis auf die Ebene der

(gesell-23 VG, 107, vgl. auch 14.

24 Vgl. dazu unten Abschnitt 1.6 auf Seite 90.

25 Zur Funktion dieser genauen Datumsangaben vgl. Abschnitt 2.4 auf Seite 114.

26 Vgl. auch schon vorher direkt nach seiner Rückkehr nach Bremen die sich entwickelnde »Distanz zu beliebigen Dingen«, die »nur Schatten in meinem Kopf warfen« (VG, 15), sowie später auch die

»Dinge in ihrer falben Begrifflichkeit«, die »ungreifbar« werden (VG, 76).

schaftlich) vorgegebenen Begriffe auf Distanz. Daraus entsteht die Sehnsucht und der Versuch, »Wirklichkeit herzustellen« (VG, 17, auf den später zurückzukommen ist), um dadurch Sicherheit oder Absicherung zu erreichen.

Es setzt auch eine körperliche Veränderung ein.27Ein unangenehmer Geruch geht von ihm aus, der auch durch sorgfältige Körperpflege nicht beseitigt werden kann, allerdings auch nur von ihm wahrgenommen zu werden scheint.28Es beginnen sich im Gesicht Pickel zu bilden, die vorher ausschließlich ein Charakteristikum in der Beschreibung von Falbin gewesen waren. Laupeyßer bemerkt auch eine Verfeinerung des Nervensystems und damit einhergehend die Ausbildung verschiedener körperli-cher Merkmale, die die Verwandlung in einen Vampir andeuten.29Nachdem er nicht mehr ins Büro gegangen war, erfolgt die Kündigung, woraufhin er seine Aktivitäten größtenteils in die Nacht verlegt. Er beginnt, exzessiv seine Zimmerpflanzen zu pfle-gen, jeden Tag einzeln die Blätter zu reinigen und mit ihnen zu ›kommunizieren‹.

Ansonsten läuft der Fernseher, wobei er bei Nachrichtensendungen den Ton abdreht, wie er auch keine Zeitung mehr liest und also keinerlei Informationen der Außenwelt zu sich dringen lässt.

Das Bedürfnis nach Isolation, nach fast völliger Abgeschiedenheit von der Außen-welt, steigert sich schließlich sogar zu einer »Manie« (VG, 162), zu einem Verfol-gungswahn, der sich in der Befürchtung ausdrückt, dass jederzeit jemand an seine Wohnungstür klopfen könnte. Grund für diese Befürchtung ist die Angst, gewalt-sam verschleppt zu werden. Diese gipfelt in mehreren (Wahn-)Phantasien, in denen Laupeyßer entweder aus seiner Wohnung oder aber aus Falbins Büro abgeholt und von einer Frau verhört wird, die eine Mischung verschiedener Frauenfiguren des Buches ist, aber vor allem als Agnes auftritt. Die Phantasie wird zunehmend brutal und rekurriert durch Anspielungen aufs Lachen der Jugendlichen im Kino auch auf die Thematik des Entsetzens und auf Pasolinis Film; sie gipfelt schließlich in der brutalen Tötung Laupeyßers.

Durch die Schilderung der Wahnvorstellungen ist ein objektives Geschehen nicht mehr wirklich festzumachen. Vornehmlich durch verschiedene Versionen eines ähn-lichen Vorgangs oder durch offene Widersprüche werden Geschehnisse als Imagi-nationen kenntlich gemacht. Andere dagegen werden zumindest als real präsentiert.

Demnach verbringt Laupeyßer immer mehr Zeit in seiner Wohnung, geht schließlich nicht mehr ins Café, hält sich dort aber in der Vorstellung auf. Dies geht soweit, dass er sich die Bedienung, mit der er oft im Café gesprochen hat, als wiederum auch in der Wohnung anwesend vorstellt, sie bedient ihn auch dort, bringt ihm seinen üblichen Kakao. Laupeyßer verlässt seine Wohnung nur noch durch das Fenster, da er Angst vor

27 Bereits im Motto des Buches, das aus Walter BenjaminsUrsprung des deutschen Trauerspiels entnom-men ist, wird diese Entwicklung vorweggenomentnom-men und kann sogar mit der Entsetzensthematik verbunden werden: »Die Ertötung der Affekte, mit der die Lebenswellen verebben, aus denen sie sich im Leibe erheben, vermag die Distanz von der Umwelt bis zur Entfremdung vom eigenen Körper zu führen. Indem man dies Symptom der Depersonalisation als schweren Grund des Trau-rigseins erfaßte, [etc.]« Vgl.VG, 5, sowie Walter Benjamin:Ursprung des deutschen Trauerspiels [1925], in: Ders.:Gesammelte Schriften, Bd. 1/1, hg. v. Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäu-ser, Frankfurt am Main 1974, 203–430, hier: 319 und 322.

28 Weitere Darlegungen zum Geruch finden sich unten, vgl. Abschnitt 1.3.1 auf Seite 57.

29 Dazu vgl. unten Abschnitt 1.3.1 auf Seite 58.

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dem Treppenhaus hat. Er isst kaum noch und wenn dann nur noch nachts, außerdem reagiert sein Körper auf Essen hypersensibel. Die Pickel breiten sich nicht nur über das Gesicht, sondern über den gesamten Körper aus. Durch die ›Kommunikation‹ mit den Pflanzen verfällt er auf die Vermutung, der Geruch, der eigentlich von ihm ausgeht, setze sich in den Tapeten fest, woraufhin er diese herunterreißt. Dies bringt keine Linderung, der Geruch verfliegt erst, als durch beständiges Lüften ein Wind einsetzt, der wohl aber auch eingebildet ist, da er mit Schließen der Fenster nicht aufhört. Das Abklingen des Geruchs bedeutet wieder eine Veränderung, bei der allerdings nicht klar ist, ob es sich tatsächlich um einen Prozess des »Freiwerdens« (VG, 275) handelt.

Vielmehr folgt der Hinweis auf den Gebrauch von Psychopharmaka, die Laupeyßer von seinem Vater, der Apotheker ist, geklaut hat, und zu denen er allabendlich greift, wenn das sich einstellende Gefühl der Erträglichkeit sich wieder verflüchtigt hat.

Der Hinweis auf die Psychopharmaka stellt auch die Verbindung zu mehreren

›realistischen‹, d. h. real möglichen Versionen des Geschehens her, die dem Leser an-geboten werden. Das Klopfen an die Tür, das Laupeyßer in seinem Verfolgungswahn so sehr fürchtet, stellt sich tatsächlich ein, als sein Vater an die Tür klopft, nachdem er den Medikamentendiebstahl entdeckt hat. Doch kommt es zu keinem Kontakt und daher auch zu keiner Aufklärung. Schließlich werden im Stil von Zeitungsberichten zwei Varianten einer Entdeckung der Wohnung geschildert, die durch den kursiven (und damit dem ›Autor‹-Erzähler zugeschriebenen) Kommentar »Denkbar wäre aber auch:« (VG, 244) verbunden sind. In der einen Variante brechen Beamte aufgrund einer Beschwerde wegen Geruchsbelästigung die Wohnung auf, entdecken eine »Fi-xerhöhle« mit Spritzen und Resten von Morphium sowie mit den Merkmalen, die auch in den Imaginationen Laupeyßers beschrieben wurden (fast leere Wohnung, zerfetzte Tapeten, wuchernde Pflanzen, implodierter Fernseher). In der anderen wird ein 28-Jähriger beim Versuch festgenommen, unter Drogen die Außenwand seines Hauses hinunterzuklettern. Er wird in psychiatrische Verwahrung genommen, gibt an, sich vom Blut junger Frauen zu ernähren, die er auch ermordet habe, und äußert die Vermutung, ein Sohn Eichmanns zu sein. Die Wohnung riecht nach verwesendem Fleisch und an der Wand steht in großen Buchstaben: »ICH BIN FASCHIST.« (VG, 245).

Neben diesen beiden Varianten, die außerhalb der Imaginationen Laupeyßers gestellt werden, und mögliche Außensichten repräsentieren, wird auch aus seiner Sicht berichtet. In paralleler Handlungsführung zu den Geschehnissen um Falbin kommt es zu einer Begegnung mit der Bedienung des Cafés, die sich trotz seines angeblich entsetzlichen Aussehens auf ein Treffen und eine Nacht in einem Hotel mit ihm einlässt.

1.3 »Was bin ich nur? Wer bin ich?«

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– Die Suche nach

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