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Agnes und das Verständnis

Im Dokument Von Bremen in die Anderswelt (Seite 74-81)

1.3 »Was bin ich nur? Wer bin ich?« 30 – Die Suche nach Selbsterkenntnis

1.4 Näherungen I: an sich und andere

1.4.1 Agnes und das Verständnis

Agnes ist eine Freundin von Laupeyßer, alleinerziehende Mutter eines kleinen Sohnes.

Ihr Verhältnis zu Laupeyßer ist prinzipiell erst einmal nicht von sexueller Anziehung geprägt, sondern manifestiert sich in regelmäßigen Besuchen Laupeyßers bei ihr mit langen Gesprächen. Zumindest während des Zeitraums der geschilderten Handlung stellt Agnes die wichtigste Gesprächspartnerin Laupeyßers und sogar seinen zen-tralen sozialen Kontakt dar. Er sucht sie alle ein bis zwei Tage auf und erzählt ihr seine Imaginationen um Falbin. Durch die Regelmäßigkeit, die nachfragende, aber ansonsten passive Rolle von Agnes, die nur durch die Achtsamkeit gegenüber ihrem kleinen Sohn gestörte Aufmerksamkeit des Zuhörens erhalten die »Agnes-Gespräche«

(VG, 118) den Charakter von Therapiegesprächen. Untermauert wird dieser Eindruck durch ihre einleitenden Nachfragen: »Du willst über Falbin sprechen ?« (VG, 118,

57 Ich übernehme diesen Begriff von Jannidis: »Gegenüber dem Begriff ›Realität‹ hat ›aktuale Welt‹ den Vorteil, durch die erkenntnistheoretischen Krisen und den linguistic turn hindurch gegangen zu sein, ohne die doch wesentliche Unterscheidung [zwischen Realität und Fiktion] zu verabschieden.«

(Jannidis:Figur und Person, 66 FN 117)

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vgl. auchVG, 145). Eine helfende Funktion ist wohl zumindest das, was Laupeyßer insgeheim erwartet, da er beispielsweise nach dem einschneidenden Erlebnis des Films sofort Agnes anruft, wobei die erwartete Hilfe weniger in Ratschlägen als im Zuhören liegt. Die erleichternde Funktion des Erzählens zeigt sich auchex negativo, denn als Laupeyßer seine Besuche bei Agnes abbricht, stellt er fest, dass »er so gern gesprochen hätte«, verstärkt sogar noch in der Formulierung »Es trieb ihn, zu beich-ten.« (VG, 166) Die unausgesprochenen Erwartungen gehen aber noch weiter, als die passive Rolle eines Gegenübers zum Beichten zu erfüllen, da Laupeyßer vor allem das fehlende Verständnis seitens Agnes nicht nur bedauert, sondern unter diesem leidet.

Wie mehrfach angedeutet und auch schon in der Bezeichnung Näherung erkennbar, fällt es Laupeyßer nicht leicht, seine Gefühle und Überlegungen in präzise Worte zu fassen. Auch seine Erzählungen um Falbin sind recht exzentrisch für freundschaftliche Kaffee-Gespräche und strapazieren zeitweise durch das Ausreizen geschmacklicher Extreme das Interesse eines Zuhörers. Dennoch erhofft sich Laupeyßer immer wieder das Verständnis von Agnes bzw. sogar eine vollständige Verständigung mit ihr. Seine Versuche, dies mitzuteilen, sind im Grunde zu vernachlässigen, wobei sie auch nur mit einem Schulterzucken darauf eingeht (vgl.VG, 18). Einmal teilt er ihr fast schon im Streit seinen Ärger über ihr Unverständnis mit (»Herrgott, du verstehst einfach nichts !«, 72), ansonsten stellt er die Vergeblichkeit dieser Hoffnung immer wieder für sich selbst fest (sieheVG, 42, 69, 102, 149, 232, 235). Einerseits verlangt er viel von ihr, im Grunde, dass sie ›zwischen den Zeilen‹ seinen Hilferuf hört,58andererseits ist ihm bewusst, dass sie ihn aus »Selbstschutz« (VG, 235) nicht habe verstehenkönnen, dass sie ihn aus diesem Grund wohl sogar immer abgelehnt habe. Er gesteht ihr in dieser Hinsicht zu, auch wenn dies die Distanz erhöht, an die »hautnahe Realität« (VG, 11), d. h. die Versorgung des Kindes, gebunden zu sein und daher keinen Sinn für seine extremen Gedankenexperimente zu haben, auch wenn diese für ihn existenziellen Charakter haben.

Doch scheinen hinter seinen Erzählungen und auch hinter seiner Sehnsucht nach Verständnis – darin allerdings schon enthalten – der simple Wunsch nach Nähe und zärtlicher Annahme zu sein, der auch sonst verschiedentlich angedeutet wird. Nach seiner eingangs zitierten Beschreibung der Näherungen folgt der Kommentar: »In Wahrheit wollte ich ihr sagen, sie sollte mich endlich einmal berühren.« (VG, 32) Doch wie bereits erwähnt steht der sexuelle Aspekt der Nähe nicht im Vordergrund, wie dies im Verhältnis von ›Autor‹-Erzähler und B. der Fall ist. Zwar ist von einer gewissen »dem Instinkt verbundene[n] Spannung« (VG, 42) die Rede und es kommt zu mehreren mehr oder weniger erotischen Begegnungen (vgl.VG, 118 und 165f.);

Agnes werden jedoch Gedanken imaginativ zugeschrieben (von Laupeyßer?), die jegliches erotisches Gefallen an ihm von sich weisen (vgl.VG, 159f.), und Laupeyßers Träume von ihr werden durch Zärtlichkeit und Nähe charakterisiert (vgl.VG, 158 und 165). Bezeichnend ist jedoch, dass ihre Beziehung abbricht, als es zum einen zu einer zärtlich-erotischen Begegnung kommt, diese sich zum anderen aber auch gerade dann ergibt, als Agnes »jetzt sich bemühte um ihn, dabei vielleicht zum ersten Mal wirklich etwas begriff« (VG, 165). Durch ihre Mutterrolle vorsichtig und abgelenkt,

58 Vgl.VG, 149: »Schweig und hilf mir. // Was sie nicht hörte. Sie hörte einfach nie richtig zu, man muß ihr immer alles sagen. Immer muß man den Leuten alles sagen.«

›zerbricht‹ etwas zwischen ihnen durch dieses Nahekommen, das sie beide auf Distanz gehen lässt.

Die Bedeutung von Agnes zeigt sich in mehrfacher Hinsicht. So ist sie die präsen-teste Frauenfigur des Buches, die schließlich auch die verschiedenen Erzählebenen verbindet. Eigentlich eine Freundin von Laupeyßer, ruft sie später nach der Flucht nach Frankfurt den ›Autor‹-Erzähler an, der auch ihre Bedeutung für ihn erklärt:

»Und es ist mir, Agnes, durchaus ernst mit dieser Frage, genauso ernst wie Tatsache ist, daß alle diese Näherungen anfingen erst, als ich mein stummes Zwiegespräch begann mit dir.« (VG, 326) Auffällig ist, dass erstmals eine Verbindung zwischen ihr und dem ›Autor‹-Erzähler hergestellt wird, der sonst vornehmlich mit B. verbunden zu sein schien. Dann wird sie, ganz beiläufig, an den Anfang auch seiner Ausführungen gestellt. Schließlich fällt die paradoxe Formulierung des ›stummen Zwiegespräch‹

auf. Anzunehmen wäre eine ähnliche Konstellation zwischen ihnen wie zwischen Laupeyßer und ihr, was jedoch durch die Charakterisierung als stumm ausgeschlossen wird. Möglich wäre die Existenz einer Agnes in der Realität des ›Autor‹-Erzählers, der er über die Fiktion Laupeyßers die imaginären Zwiegespräche zuschreibt. Warum aber diese Agnes am Anfang der Näherungen steht, wird nicht weiter ausgeführt.

Für Laupeyßer verkörpert Agnes die zentrale Frauenrolle. Wie sich im Laufe der Darstellung mindestens Falbin und Laupeyßer, wenn nicht auch der ›Autor‹-Erzähler, aneinander annähern, so findet zumindest in den direkt als solche ausgewiesenen, in die ›Haupthandlung‹ eingeflochtenen Imaginationen auch eine Amalgamierung der Frauenfiguren statt. Zu Beginn der paranoiden Verhörphantasien Laupeyßers wird das Erscheinen der zentralen Frauenfigur wie folgt beschrieben: »Eine Frau folgt:

Die Kommissarin. Die Spinnin. Laupeyßer erkennt sie sofort wieder. Die Bedienung.

Agnes.« (VG, 169) Fast alle Frauen, mit denen Laupeyßer in Kontakt gekommen ist, werden hier vermengt zu einer Frauenfigur, die im Folgenden dann als Agnes benannt wird, eine Agnes jedoch, die sich völlig anders verhält als Laupeyßers Ge-sprächspartnerin. Bislang wurde sie vornehmlich in ihrer Mutterrolle beschrieben und in ihrer sexuellen Haltung von Laupeyßer als naiv charakterisiert.59In der Ver-hörphantasie wird sie komplett anders dargestellt: sie gibt sich selbst nicht als Agnes aus, ist dadurch distanziert zu Laupeyßer und geht mit extremer Brutalität gegen ihn vor, die schließlich in seiner Tötung gipfelt. Bereits bei ihrem Eintritt erschrickt Laupeyßer: »Ach Agnes, nicht auch das noch. Bitte nicht. Nicht auch du.« (VG, 169) Laupeyßer geht durch diese Imagination der Frage nach, die er auch an sich selbst gerichtet hatte: »Würde vielleicht auch sie mit ebensolcher Selbstverständlichkeit morden oder morden lassen?« (VG, 102) Dadurch, dass auch Agnes in die Entsetzens-und Schuldthematik ›integriert‹ ist, wird klargestellt, dass für Laupeyßer alle betroffen sind, selbst die als eindeutig positiv gesehenen Personen. Auch diese unterliegen für ihn den gleichen Prinzipien, was das ersehnte Erreichen von Nähe nicht leichter macht.

Durch Laupeyßers Hoffnung auf Nähe, auf Rettung durch Agnes, fungiert sie als die Erzählebenen überbrückende Vorgängerin von B. Dies wird noch deutlicher an einer

59 Siehe oben Abschnitt 1.3.1 auf Seite 62.

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einzelnen Stelle, in der Agnes mit dem im nächsten Abschnitt erläuterten »Prinzip Nadja« verbunden wird. Dieses hätte »sich schon in Agnes verkörpert[], als sie mir noch hätte helfen können, ganz zu Anfang also dieser Näherungskurve, […].« (VG, 247)

1.4.2 Das »Prinzip Nadja«: B. und der ›Autor‹-Erzähler

So wie Agnes für Laupeyßer die wichtigste Frau ist, ist es B. für den ›Autor‹-Erzähler.

Auch weitere Übereinstimmungen finden sich, werden jedoch eine ›Stufe‹ höher gehoben, was sich in der oberen Stellung in der Hierarchie der Erzählebenen sowohl wiederfindet als auch durch sie erklärt. Auch sie steht für mehrere Frauen, jedoch ist Agnes nun auch ›integriert‹, sie ist »gleichzeitig Agnes, Leopardenfrau, Anna« (VG, 212). Damit verkörpert sie mehrere Prinzipien: mit Agnes das der wohlwollenden Naivität und Begrenztheit, mit der Leopardenfrau das der sexuellen Enthemmtheit und mit Anna das der Verständigung und der Suche nach Ausbruchsmöglichkeit. Im Gegensatz zu den anderen scheint sie eine (auf der als ›real‹ angenommenen Ebene des ›Autor‹-Erzählers) ›reale‹ Person zu sein. Zwar wird konstatiert, »auch sie [sei]

eine Erfindung, sicher« (VG, 212), doch wird diese Aussage einschränkend erläutert:

Wenn sie merkt, wie sehr ich mir sie erfinde, versteckt sie ihre Augen mißtrauisch hinter den Pupillen. Sie merkt, daß meine Erfindung recht behalten wird. Sie hat Angst, sich zu verwandeln. Aber, wohlgemerkt, meine Erfindung von ihr ist keine Projektion.(VG, 212)

Sie ist also zum einen soweit Erfindung wie dies jede Person ist, die literarisch zur Figur wird,60und zum anderen wie es der ›Autor‹-Erzähler bewusst durch prinzipielle Stilisierung und Überhöhung betreibt. Doch dahinter lässt er einen Freiraum für die auf seiner Ebene reale Person, die misstrauisch gegenüber seiner Fiktionalisierung ist und sich gegen diese wehrt, die ihn schließlich in für ihn schmerzlicher Weise verlässt. Zunächst ist sie aber die Frau, mit der er in Frankfurt nach seiner ›Flucht‹

zusammen ist und von der er seine ›Rettung‹ erhofft.

Retten soll sie ihn vor der angeblichen Unmöglichkeit der Herstellung von Nähe.

Dem Leitsatz, nur die Fiktion sei nah, setzt der ›Autor‹-Erzähler das »Prinzip Nadja«

(VG, 247) entgegen. Dieses bezieht sich auf André Bretons ErzählungNadja(1928/63), was spätestens durch die explizite Nennung Bretons deutlich wird (vgl.VG, 230).

In dieser Erzählung, einem der klassischen Texte des Surrealismus, begegnet der Ich-Erzähler Breton zufällig auf einem seiner Spaziergänge einer jungen Frau, die sich selbst Nadja genannt hat (dieser Name ist der Anfang des russischen Wortes für Hoffnung), und ihn sofort fasziniert. Ihre Fähigkeit, Dinge zu sehen und zu erahnen, die den Verstandesmenschen verschlossen bleiben, Visionen zu erleben und ihren Intuitionen zu folgen, lässt sie zur prototypischen surrealistischen Muse werden, sie

60 Thomas Pavel nennt ›aus der Realität übernommene Objekte‹ – das können Orte oder historische Persönlichkeiten wie z. B. Napoleon sein – denn auch ›immigrant objects‹, was eine Bewegung oder Wandlung impliziert. Werden sie ›signifikant abgewandelt‹, heißen sie ›surrogate objects‹.

Siehe Frank Zipfel:Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001, 97–102, vgl. auch Jannidis:Figur und Person, 67.

ist eine Frau, die »den Surrealismus lebt ohne Netz«61. Schließlich wird sie aufgrund von »einigen überspannten Auftritten« jedoch als »wahnsinnig«62klassifiziert und in eine psychiatrische Anstalt gebracht. Ob sie ›tatsächlich‹ wahnsinnig ist oder wie ihre Art, mit der Wirklichkeit umzugehen, anders zu interpretieren ist, wird von Breton nicht explizit ausgeführt, sondern in gegen die Psychiatrie gewandten Ausführungen als irrelevant verworfen.

Doch was bedeutet nun das »Prinzip Nadja«? Wie bei allen benannten Begriffen, Entschlüssen und ›Prinzipien‹ inVGwird auch dieses ›Prinzip‹ nicht genau definiert.

Eingeführt wird ›Nadja‹ als Benennung von B., womit der ›Autor‹-Erzähler sie zwar nicht anredet, aber die er in seinen Reflexionen und Aufzeichnungen verwendet. Mit der Benennung versucht er, dem Diktum »Nur die Fiktion ist nah« etwas entgegen-zuhalten. Das Entgegenhalten impliziert die Möglichkeit, Nähe doch auch in der Realität (im Gegensatz zur Fiktion) erreichen zu können. Besieht man sich daraufhin die Nadja Bretons, so ist es die Faszination, die sie auf den Erzähler Breton ausübt, und vor allem die durch ihren Sinn für das Wunderbare veränderte Weltwahrnehmung, die sie in ihm bewirkt, die eine Übertragung auf die Hoffnungen des ›Autor‹-Erzählers ermöglicht. Auch B. soll ihm eine Nadja sein, wie (der Erzähler) Breton sie getroffen hat.

Nun ist B. jedoch denkbar ungeeignet, das »Prinzip Nadja« zu erfüllen. Sie ist eher ängstlich, »traut der Möglichkeit eines Ausbruchs nicht« (VG, 212). Auch bei ihr (wie bei Laupeyßers Agnes) findet sich das Verständnis nicht. Verdeutlicht wird das an ihren eigenen Versuchen, der sogenannten »Empirie« zu entfliehen, d. h. den Zwängen, der Wirklichkeit zu entkommen. Bei ihr äußert sich dies im Hören von vom ›Autor‹-Erzähler so genannter »Kitschmusik« und dem Beharren darauf, »Traum müsse Traum und Wirklichkeit Wirklichkeit bleiben«, was die Träume seiner Meinung nach zum »Bonbon« und »purer Kompensation« (VG, 320) erniedrigt und seinem Versuch, die Wirklichkeit durch Fiktion zu verändern, entgegensteht.

Vielleicht werden im »Prinzip Nadja« aber auch verschiedene Aspekte vermengt, die in BretonsNadjaeine Rolle spielen. Geradezu ein Vorbild für die in B. gesetzten Erwartungen findet sich in der Begegnung Bretons mit einer nicht namentlich be-zeichneten Frau nach der Einweisung Nadjas und sogar nach dem eigentlich geplanten Abschluss der Aufzeichnungen. Peter Bürger hat dies prägnant beschrieben:

Die Begegnung mit X, die im Text durch einblancmarkiert ist, bricht in das Leben des Autor-Erzählers ein, verwandelt dieses und beschert dem Buch einen auch für den Schreibenden unvorhergesehenen Schluß. Das Rätsel des Selbst, das das Ich umtrieb, bedarf jetzt keiner Lösung mehr, denn die Liebeistdie Lösung.63

Was Breton (der Erzähler) bei Nadja nicht gefunden hat, nämlich »die rätselhafte, die unwahrscheinliche, die einzigartige, die verschmelzende und unzweifelhafte

Lie-61 Peter Bürger:Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes, Frankfurt am Main 1998, 246; vgl. auchVG, 160–165.

62 Breton:Nadja, 116.

63 Bürger:Das Verschwinden des Subjekts, 165.

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be –, eine kurzum, die jeder Prüfung standhält«64, findet er bei ›X‹. Eine ebensolche

›unwahrscheinliche‹ Liebe sucht der ›Autor‹-Erzähler bei B.

Im Gegensatz zu den Ausführungen Bretons ist die Beziehung zu B. deutlich sexuell bestimmt. An der Stelle, an der in Bezug auf Agnes zwar, aber auch das einzige Mal wirklich die Formulierung vom »Prinzip Nadja« verwendet wird, werden gleich meh-rere Sachen in einen gemeinsamen Konnex gestellt, denn assoziativ wird fortgefahren:

»Damals also schon: das Prinzip eines bißchen cremiger Feuchtigkeit. Das Prinzip Beinkissen. Das Prinzip Freiheit, das stets ein fiktives war und aus solcher Fiktion seine Kraft erst gewann.« (VG, 247) Das hier genannte »Prinzip Beinkissen«, sei es identisch mit dem »Prinzip Nadja« oder bloß in enger Verbindung mit diesem ste-hend, wird immer wieder angeführt. Erstmals genannt wird es als Bild dessen, was für den ›Autor‹-Erzähler Heimat bedeute: »ich wiese auf B.’s Foto und sagte in beruhigter Furcht:Das ist mir nur das Kissen zwischen ihren Beinen.« (VG, 207) Er beeilt sich hinzuzufügen, dass diese Aussage »nichts ›Chauvinistisches‹« an sich habe, da er mehr ihr Objekt sei, als sie das seine. Eindeutig ist aber der sexuelle Bezug, doch nicht nur der, sondern auch der zu den »Liebesdingen« (VG, 208), womit sowohl die körperliche wie die emotionale Liebe gemeint sein kann. Der ›Autor‹-Erzähler verortet sich, fühlt sich aufgehoben und wohl in der (sexuellen) Nähe zu B. Mehrfach wird die sexuelle, körperliche Rolle, die B. für ihn und seine Bemühungen um Nähe darstellt, betont.

Die »Bemühungen, vermittelt durch Tasten und Wärme Nähe herzustellen« werden als »Umweg über die Haut« (VG, 121) bezeichnet, das eigentliche Ziel ist immer eine nicht näher definierte, aber über das Körperliche hinausgehende Form von Nähe.

Doch sieht er als den einzigen Weg zu dieser Nähe den über das Körperliche. Dieser Weg bedeutet für ihn zuerst einmal die »völlige Annahme des anderen Körpers« (VG, 296). Dies stellt die ins extreme gesteigerte Annäherung an eine Person dar, »die man lieben, streicheln, essen und pinkeln sehen will, vor der nichts, aber auch gar nichts mehr fremd ist« (VG, 255). Auch hier findet sich eine Parallele inNadja, wo die Liebe zu

›X‹ als gelungene Annäherung gesehen werden kann: »Du bist kein Rätsel für mich. / Ich sage, daß du mich für immer vom Rätsel abbringst.«65Während hier poetisiert wird, ist die Körperlichkeit der Anknüpfungspunkt des ›Autor‹-Erzählers. Zugespitzt ist es dann der Beischlaf, in den die maximale Annäherung projiziert wird. Sexualität wird konzeptuell erhöht zum Prinzip der Nähe.

Dass die Nähe durch Sexualität »das einzige, was sich der überall vorherrschenden Fremdheit entgegensetzen läßt« (VG, 295), sein soll, klingt jedoch eher wie unreife Ausflüchte eines Alleingelassenen bzw. eines Sich-allein-Fühlenden. Tatsächlich wird dieser Aspekt denn stellvertretend (für den ›Autor‹-Erzähler) auch von Axel Schulze und Laupeyßer diskutiert, der die gleichen Ansichten geäußert zu haben scheint, da die beiden sich im auf den ›Autor‹-Erzähler-Abschnitt folgendem Gespräch auf sie beziehen. Axel Schulze wirft Laupeyßer vor, »die alte romantische Liebe geradezu aufs Kosmische auszuweiten, indem Sie fordern, noch die Exkremente des anderen seien zu lieben« (VG, 296). Schulze sieht diese »Liebe« als Träumerei und Projektion

64 Breton:Nadja, 116.

65 Ebd., 136.

par excellence. Eine Möglichkeit zur Nähe verneint er, im Gegenteil, er meint, man sollte »die Liebe aufgeben […], wenn man die Befreiung will« (VG, 297).

Für den ›Autor‹-Erzähler und im Gespräch mit Axel Schulze auch für Laupeyßer als sein ›Sprachrohr‹ ist diese Liebe der einzig ersichtliche Ausweg. Hier deutet sich auch an, dass der (unten näher betrachtete) Versuch, Wirklichkeit durch Fiktion herzustellen, nicht das Ziel des ›Autor‹-Erzählers ist. Vielmehr beklagt er bei der Trennung von B., gerade sie sei »endlich nicht mehr Fiktion« (VG, 308) gewesen, werde es nun aber wieder und auch mit seinen Fiktionen werde es weitergehen, die Gestalten würden wiederkommen (vgl.VG, 337)66. Er begrüßt dies nun also gar nicht, das »endlich« zeugt eindeutig von seiner Sehnsucht, von der Fiktion loszukommen und eine Verbindung zur aktualen Welt herzustellen, oder in seiner Terminologie:

Empirie und Fiktion zu verbinden. Diese Formulierung zumindest als Verbindung der beiden Begriffe wird zweimal verwendet: Mit B. wollte er seinfiktives Ich[…]

gewissermaßen empirisch festigen« (VG, 308) und auch die »Macht des Beischlafs [liege] eben darin, entschieden jenen Punkt zu markieren, an welchem Empirie und Fiktion zusammenfallen« (VG, 295f.).67In B. setzt er also nicht nur große, sondern alle Erwartungen, mit ihr will er seine »Vorstellung von der Nähe, auf welche alles hinauslief, die mir als einzige Möglichkeit noch von Befreiung erschien« (VG, 308) verwirklichen. Über den Beischlaf soll damit die Herstellung und Fixierung einer individuellen Identität erreicht werden.

Wie B., die wie oben erwähnt mehrere Frauenfiguren integriert, tritt auch die Ge-liebte ›X‹ aus BretonsNadjaan die Stelle von anderen, u. a. von Nadja selbst. Doch wird sie zum Endpunkt einer Entwicklung stilisiert, so »daß diese Ersetzung von Per-sonen mit dir aufhört, weil nichts dich ersetzen kann und für mich von aller Ewigkeit her diese Abfolge von Rätseln bei dir ein Ende finden mußte«68. B. dagegen erfüllt diese enormen Erwartungen nicht und verlässt den ›Autor‹-Erzähler, der diesen

Wie B., die wie oben erwähnt mehrere Frauenfiguren integriert, tritt auch die Ge-liebte ›X‹ aus BretonsNadjaan die Stelle von anderen, u. a. von Nadja selbst. Doch wird sie zum Endpunkt einer Entwicklung stilisiert, so »daß diese Ersetzung von Per-sonen mit dir aufhört, weil nichts dich ersetzen kann und für mich von aller Ewigkeit her diese Abfolge von Rätseln bei dir ein Ende finden mußte«68. B. dagegen erfüllt diese enormen Erwartungen nicht und verlässt den ›Autor‹-Erzähler, der diesen

Im Dokument Von Bremen in die Anderswelt (Seite 74-81)