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Mit einer um die Normenkontrolle erweiterten Verfassungsgerichtsbar­

keit befand man sich auf dem richtigen Weg. Zum einen bringt die Kon­

trolle des Gesetzgebers über die Normenprüfung ein zusätzliches Ele­

ment zur Sicherung des Rechtsstaates, so dass sie den von der christlich­

sozialen Volkspartei eingeschlagenen Verfassungskurs verstärkt. Ihr Misstrauen gegen den monarchischen Staat macht es verständlich, wenn sie einer rechtsbewahrenden Institution das Wort redet. Dieses Argu­

ment spricht für den Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit nach öster­

reichischem Muster. Der Staatsgerichtshof nimmt darin eine die Recht­

staatlichkeit absichernde Rolle wahr.109 Zum andern dürfte es auch auf­

grund der spezifischen Verfassungsstruktur nicht verborgen geblieben sein, dass es auf der Linie der Fortentwicklung der Verfassung liegt, wenn der Staatsgerichtshof dem Gesetzgeber als Kontrollfaktor beige­

geben wird, weil letztlich nur er die Gewaltenbalance herstellen und die dem dualen Verfassungssystem immanenten Spannungen und Gefähr­

dungen begegnen und ihnen Rechnung tragen kann, indem er dem Staat

109 Es ist für die christlich-soziale Volkspartei klar, dass die Erkenntnisse des Staats­

gerichtshofes in "präjudiciellen Verfassungsfragen" nur kassatorische Wirkung haben können; siehe Protokoll der Sitzung vom 14. September 1920, veröffentlicht in: Studien und Quellen zur politischen Geschichte des Fürstentums Liechtenstein im frühen 20. Jahrhundert, S. 197 (198).

Halt verleiht.110 Denn die monarchische und die demokratisch rechts­

staatliche Idee sind hier eine Synthese eingegangen, die jedoch vor dem Aufbrechen in antithetische Gegensätze niemals sicher ist."1 Es dürfte daher der Gedanke, das duale Staatssystem judiziell zu sichern, bei der Einführung der Normenkontrolle eine nicht unwesentliche Rolle ge­

spielt haben,"2 ähnlich wie die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbar­

keit in Osterreich und kurz vorher in der Tschechoslowakei auf das föderale Moment zurückgeführt werden kann.113 Die Normenkontrolle ist damit nicht nur eine folgerichtige und notwendige Ergänzung der Forderungen der christlich-sozialen Volkspartei nach einer rechtsstaat­

lichen Ordnung. Der Staatsgerichtshof ist in dieser Funktion auch ein wirkungsvoller Stabilitätsfaktor der staatlichen Ordnung und letztlich die "Garantie der Verfassung"114. Es erstaunt denn auch nicht, wenn den massgebenden "Verfassungsvätern", das sind auf der einen Seite die

"demokratischen Männer" der christlich-sozialen Volkspartei, und als ihr Vordenker und Lenker der Verfassungsverhandlungen Dr. Wilhelm Beck, und auf der anderen Seite Dr. Josef Peer als Verfasser der Regie­

rungsvorlage und Mann der "Wissenschaft", schon früh anerkennende Worte zuteil geworden sind. Sie stammen aus dem Munde von Otto Ludwig Marxer115 und dürfen daher als unverfänglich gelten. Er fasst seine Bewertung wie folgt zusammen: "Dem Wunsche demokratischer Männer folgend und der Lehre der Wissenschaft, dass es schon zum We­

sen eines Rechtsstaates gehöre, hat auch unsere neue Verfassung ihren inneren Wert gekrönt, indem sie endlich die Institution 'eines Gerichts­

hofes des öffentlichen Rechtes' in sich aufgenommen hat und dadurch hat sie sich auch eine wirksame Garantie ihres Bestandes und ihrer ihrem Geiste entsprechenden Anwendung geschaffen."

110 Vgl. Gerard Batliner, Schichten der liechtensteinischen Verfassung von 1921, S. 299 f.

111 Diese Formulierung erfolgt in Anlehnung an Hans Gangl, Das Antragsrecht einer parlamentarischen Minderheit im Gesetzesprüfungsverfahren - zur Reform des franzö­

sischen Verfassungsrates im Jahre 1974, S. 17. Zum Problem der offenen Kompetenz­

bestimmungen in der Verfassung siehe Gerard Batliner, Aktuelle Fragen des liechten­

steinischen Verfassungsrechts, S. 49/Rdnr. 92, 53/Rdnr. 102 und 62/Rdnr. 116 ff.

112 Vgl. Gerard Batliner, Einführung in das liechtensteinische Verfassungsrecht, S. 99 f.

113 Vgl. Herbert Haller, Die Prüfung von Gesetzen, S. 45 ff. und 61 ff.

114 Otto Ludwig Marxer, Die Organisation der obersten Staatsorgane in Liechtenstein, S. 83.

115 Otto Ludwig Marxer, Die Organisation der obersten Staatsorgane in Liechtenstein, S. 79. Er ist später einer der profiliertesten Exponenten der Fortschrittlichen Bürger­

partei. Zu seiner Person siehe Herbert Wille, Landtag und Wahlrecht im Spannungsfeld der politischen Kräfte in der Zeit von 1918-1939, S. 68/Anm. 26a.

Die Verfassungsgerichtsbarkeit im geschichtlichen Zusammenhang

Die verfassungsrechtliche Neuordnung ist gekennzeichnet durch den Vorrang der Verfassung.116 Sie ist im Unterschied zur Vorgängerverfas­

sung 1862 "allgemein" verbindlich geworden.117 Die Verfassungsge­

richtsbarkeit vervollständigt den Verfassungsstaat. Es ist der Staatsge­

richtshof als "Gerichtshof des öffentlichen Rechts", der auf der Grund­

lage der Verfassung zu allen Fragen des Verfassungslebens einlässliche Entscheidungen trifft. Mit seiner Normenkontrollbefugnis sichert er die Vorherrschaft der Verfassung. Das heisst aber auch, dass eine so verstan­

dene Verfassungsgerichtsbarkeit zum Mittel staatlicher Machtbegren­

zung wird.118 Es unterliegt nämlich auch der Gesetzgeber dem Verdikt des Staatsgerichtshofes, was nichts anderes bedeutet, als dass dadurch der Legislativgewalt Schranken gezogen werden. Dies liess die konstitu­

tionelle Verfassung von 1862 noch nicht zu.119

Die Verfassungsgerichtsbarkeit macht in ihrer Kompetenzfülle einen wesentlichen Teil der staatlich-politischen Ordnung ("Regiments")120

aus. Sie dringt weit ausgreifend und tief in das Rechtsleben von Staat und Gesellschaft ein.121 Der Staatsgerichtshof mit seinen vielfältigen Kompetenzen ist aus der Verfassung nicht mehr wegzudenken, ohne dass diese in ihrem'Wesen verändert würde. Seine Zuständigkeit er­

streckt sich nämlich neben dem Schutz der verfassungsmässig gewähr­

leisteten Rechte und der Verfassungskontrolle von Gesetzen und Ver­

ordnungen auch auf Kompetenzkonflikte zwischen den Gerichten und Verwaltungsbehörden bis hin zu Befugnissen eines Disziplinargerichts­

116 Vgl. Gerard Batliner, Einführung in das liechtensteinische Verfassungsrecht, S. 22.

1,7 Auf diesen Unterschied macht Gerard Batliner, Einführung in das liechtensteinische Verfassungsrecht, S. 21 f., aufmerksam.

118 Vgl. Hans R. Klecatsky/Thomas E. Walzel von Wiesentreu, Verfassungspolitische Be­

trachtungen zu Voraussetzungen und Wirkungsbedingungen einer funktionsfähigen Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 464 f.

119 Eine Verfassungsgerichtsbarkeit als Mittel staatlicher Machtbegrenzung kam für die konstitutionelle Verfassung 1862 nicht in Frage. Vgl. Herbert Wille, Verfassungsge­

richtsbarkeit und duale Staatsordnung im Fürstentum Liechtenstein, S. 109 f.; einge­

hend dazu Rainer Wahl und Frank Rottmann, Die Bedeutung der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik - im Vergleich zum 19. Jahrhundert und zu Weimar, S. 351.

120 Formulierung in Anlehnung an Hans Hugo Klein, Diskussionsbeitrag, in: Christian Starck (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, Göttingen 1995, S. 102.

121 Die Funktion des Staatsgerichtshofes als Verfassungsgerichtshof lässt sich denn auch nicht hinreichend allein aus dem Verfassungstext heraus bestimmen, sondern muss in der politischen Realität ermittelt werden. So Dieter Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit - Funktion und Funktionsgrenzen im demokratischen Staat, in: Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts II (1977), S. 83 (92), und Theo Öhlinger, Verfassungsgerichtsbarkeit und parlamentarische Demokratie, S. 134.

hofes für die Mitglieder der Regierung. In dieser umfassenden Weise verschafft er der Verfassung im politischen System Respekt.122 Er wird zum wichtigsten Garanten für die Einhaltung des Verfassungsrechts durch die andern Staatsorgane und zum Integrationsfaktor.123 Dadurch ist das Verhältnis der staatlichen Institutionen zueinander und zum Bür­

ger entscheidend geändert worden. Insbesondere die jedermann gegen eine Entscheidung oder Verfügung eines Gerichtes oder einer Verwal­

tungsbehörde wegen Verletzung verfassungsmässig garantierter Rechte an den Staatsgerichtshof offenstehende Beschwerde stellt eine enge Be­

ziehung zur Verfassung her und trägt zu ihrer "Verlebendigung" bei, weil sie sich in der Praxis als wirksames "prozessuales" Rechtsinstru­

ment erweist. Sie bestimmt heute quantitativ und qualitativ die Recht­

sprechung des Staatsgerichtshofes, so dass er gelegentlich den Sinn und Zweck der Verfassungsgerichtsbarkeit im Rechtsstaat mit der Verfas­

sungsbeschwerde in Verbindung bringt.124 Die Verfassung 1921 ist keine Fortsetzung des Konstitutionalismus der Verfassung 1862, sondern eine Weiterentwicklung des Verfassungsstaates, in dem die konstitutionelle Zuständigkeitsvermutung125 keinen Platz mehr hat, wie dies in der kon­

sequenten Verwirklichung des Vorrangs der Verfassung126 und der Er­

richtung der Verfassungsgerichtsbarkeit zum Ausdruck kommt.127 Sie ist ein Wesensmerkmal dieser neuen Qualität der Verfassung.

122 Bezeichnend für die hervorragende verfassungsrechtliche Stellung des Staatsgerichts-hofes als Verfassungsgerichtshof ist auch, dass er keinem anderen Verfassungsorgan un­

terworfen ist. Wenn er in zulässiger Weise angerufen wird, hat er auch das letzte Wort gegenüber dem Gesetzgeber.

123 In diesem Sinn Gerard Batliner, Einführung in das liechtensteinische Verfassungsrecht, S. 100. Aus dem Gegenüber von Demokratie und Monarchie ergeben sich nicht nur vielfältige Rechtsbeziehungen, sondern auch Konkurrenzen und Konflikte. Vgl. auch Hans-Peter Schneider, Richter oder Schlichter?, S. 312 f.

124 StGH 1974/15, zitiert aus Stotter, Die Verfassung, S. 204/Anm. 10.

125 Zum Konstitutionalismus und zum System der existentiellen Vorbehalte siehe Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, S. 16 ff.

126 Vgl. Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, S. 499, und ders., Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, S. 31 ff.

127 Dietmar Willoweit, Die Stellvertretung des Landesfürsten als Problem des liechtenstei­

nischen Verfassungsverständnisses, S. 121 ff.; ders., Verfassungsinterpretation im Klein­

staat. Das Fürstentum Liechtenstein zwischen Monarchie und Demokratie, S. 193 ff., betont, dass die neue Verfassung von 1921 aus sich selbst verstanden werden müsse und nicht mehr im Rückgriff auf die alten Lehren vom Konstitutionalismus zu begreifen sei.

Gerard Batliner, Einführung in das liechtensteinische Verfassungsrecht, S. 41, streicht in diesem Zusammenhang hervor, dass Liechtenstein mit seiner Verfassung 1921 auf sich gestellt sei. Vgl. auch Herbert Wille, Verfassungsgerichtsbarkeit und duale Staatsord­

nung im Fürstentum Liechtenstein, S. 95 ff. und 113 ff.

Die Verfassungsgerichtsbarkeit im geschichtlichen Zusammenhang III. Grenzen verfassungsgerichtlicher Tätigkeit

-neuere Entwicklungsansätze

Mit der Verfassungsgerichtsbarkeit ist auch die Frage nach der Sicherung und Gewährleistung der Verfassungsrechtssätze beantwortet. Diese bei­

den Funktionen gehören zum eigentlichen Aufgabenbereich der Nor­

menkontrolle, so dass man im Anschluss an Hans Kelsen aus ihnen ein mehr reaktives als gestaltendes Rollenverständnis128 des Staatsgerichts­

hofes folgern könnte. Eine zurückhaltende Position Hesse sich auch mit dem Hinweis auf die plebiszitären Elemente der Verfassung begründen, wonach hinter einem Gesetz das Volk steht, das heisst ein Gesetz also weitestgehend politisch abgestützt ist.129 Es wäre auch dem Recht nicht gedient, wenn der Staatsgerichtshof eine Entscheidung des Gesetzgebers unter Zugrundelegung einer anderen Verfassungsinterpretation um-stossen würde, für die keine nachprüfbar besseren Gründe sprechen.

Zu beachten ist zudem, dass der Staatsgerichtshof - wie er selber sagt130 -von vornherein eine nur "eingeschränkte funktionelle Eignung zur Kor­

rektur allfälliger gesetzgeberischer Fehlleistungen" hat, da er nur "kassa­

torisch" und damit "punktuell" in die Gesetzgebung eingreifen könne.

Dazu gesellt sich die Forderung, dass ein Verfassungsgericht sich der jeweiligen politischen Implikationen eines Falles bewusst sein muss beziehungsweise die Folgen und Wirkungen seiner Entscheidungen im politischen Bereich zu bedenken und in seine Erwägungen einzubeziehen

128 Vgl. Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, S. 81, und Werner Schreiber, Die Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich, S. 15/Anm. 8.

129 So die Initiative auf Gesetzes- und Verfassungsebene in Art. 64 und das Referendum gegen vom Landtag beschlossene, von ihm nicht als dringlich erklärte Gesetze und Änderungen der Verfassung in Art. 66 der Verfassung. Das Institut der Referendums­

demokratie nimmt in der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes einen hohen Stellen­

wert ein. Dies geht etwa aus StGH 1996/29, Urteil vom 24. April 1996, LES 1/1998, S. 13 (17), hervor, wo der Staatsgerichtshof aus dem Referendumsrecht folgert, es müssten aus dem Gesetzestext auch für Laien die wesentlichen Auswirkungen einer Regelung ersichtlich sein, um sich eine echte Meinung über die Opportunität der Er­

greifung des Referendumsrechtes bilden zu können.

130 StGH 1993/3, Urteil vom 23. November 1993, LES 2/1994, S. 37 (38). Der Staatsge­

richtshof hebt dort hervor, dass dem Landtag aufgrund der direkten Volkswahl seiner Mit­

glieder höchste demokratische Legitimation zukomme. Er müsse deshalb einen grossen Spielraum bei der Ausgestaltung der Gesetzesvorlagen beanspruchen können. Der Staats­

gerichtshof dürfe deshalb nicht ohne Not in die Gesetzgebungsbefugnis des Landtages eingreifen. Andernfalls würde das Verfassungsgericht Gefahr laufen, sich als "politische Instanz" zu betätigen und damit gegen das Gewaltenteilungsprinzip zu Verstössen.

habe.131 Dass bei solchen Überlegungen manchmal auch eine pragmatische Note mitschwingt, ist eine natürliche Nebenerscheinung dieser "Folgen-berücksichtigung"132, wie dies am Beispiel der Rechtsprechung des Staats­

gerichtshofes zur Kundmachung der Rechtsvorschriften ersichtlich wird.133 Von einem solchen Verhalten, das bisweilen in der Literatur134 auf Kritik gestossen ist, ist er allerdings in jüngster Zeit abgerückt.

Die bisherige Praxis, die von einer "verfassungsgerichtlichen Zurück­

haltung"135 geprägt gewesen ist und die sich vor allem früher bisweilen zu unkritisch jeglicher Stellungnahme enthielt,136 wird heute da und

131 So zum Beispiel Friedrich Klein, Bundesverfassungsgericht und richterliche Beurteilung politischer Fragen, S. 26, und Konrad Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsge­

richtsbarkeit, S. 269. So auch neuerdings Michael Bertrams, Verfassungsgerichtliche Grenzüberschreitungen, S. 1029 f.

132 Dieser Ausdruck ist Gerd Roellecke, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, S. 33, entnommen.

133 Eine kurze Zusammenfassung dieser Rechtsprechung findet sich bei Andreas Kley, Grundriss des liechtensteinischen Verwaltungsrechts, S. 58 ff. Vgl. auch als weiteren Hinweis StGH 1990/16, Urteil vom 2. Mai 1991, LES 3/1991, S. 81 (83), wo die For­

mulierung anzutreffen ist: "Bei seiner Entscheidfindung hatte der Staatsgerichtshof auch die Konsequenz einer allfälligen Aufhebung der als verfassungswidrig gerügten Bestimmungen zu berücksichtigen."

134 Vgl. Wolfram Höfling, Die liechtensteinische Grundrechtsordnung, S. 217. Er meint in einer kritischen Anmerkung zum Urteil StGH 1982/1-25 vom 28. April 1982, LES 3/1983, S. 69 (73), dass der Staatsgerichtshof bei einer dynamischen, auf Effektuierung des Grund­

rechtsschutzes zielenden Interpretation des Art. 31 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung das Rechtsgleichheitsgebot durchaus als Massstab kassatorischer gerichtlicher Kontrolle hät­

te in Anspruch nehmen können, ohne den legislativen Gestaltungsspielraum zu be­

schneiden. Hätte er dies frühzeitig getan, so hätte dies die rechtspolitische Reformdis­

kussion zur Gleichberechtigung der Geschlechter in Liechtenstein unter einen "heilsa­

men Zugzwang" gesetzt. Arno Waschkuhn, Die Justizrechtsordnung in Liechtenstein, in:

LJZ 1/1991, S. 38 (44), hält die jüngeren Urteilsbegründungen des Staatsgerichtshofes hinsichtlich der rechtsungleichen Behandlung von Frau und Mann bzw. der ehelichen Kinder von Liechtensteinerinnen oder Liechtensteinern (StGH 1988/16, Urteil vom 28. April 1989, LES 3/1989, S. 115 [117 f.] und 1988/17, Urteil vom 27. April 1989, LES 3/1989, S. 122 [124 f.]) für "weniger überzeugend", denn der Staatsgerichtshof sei erneut zu dem politisch abstinenten Schluss gekommen, dass verfassungsmässige Gleichheitsansprüche der Konkretisierung durch den Gesetzgeber bedürften und im Rahmen der Verfassungs­

gerichtsbarkeit nicht erzwingbar seien. Arno Waschkuhn gibt daher zu bedenken, dass nach seiner Einschätzung die hier manifest gewordene Zurückhaltung des Staatsge­

richtshofes in den sozialen Rechtsbelangen der Gleichberechtigung der gesellschaftlichen Selbstregulierung und Rechtsfortbildung in diesem Bereich "eher hinderlich" sei.

135 StGH 1993/3, Urteil vom 23. Nov. 1993 als Verwaltungsgerichtshof, LES 2/1994, S. 37 (39).

136 Als Beispiel kann die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes zu Verordnungen der Regierung angesehen werden, die sich auf das Verfassungsgesetz vom 2. September 1939 betreffend Bevollmächtigung der Regierung zur Anordnung kriegswirtschaftlicher Mass­

nahmen, LGB11939 Nr. 13, oder das Ermächtigungsgesetz vom 30. Mai 1933, LGB11933 Nr. 8, abstützten: StGH-Entscheidung vom 15. Dezember 1948, ELG 1947 bis 1954, S. 207 (211), und StGH-Entscheidung vom 14. November 1949, ELG 1947 bis 1954, S. 221 (223). Siehe auch StGH-Gutachten vom 5. Mai 1960, ELG 1955 bis 1961, S. 144 f.

Die Verfassungsgerichtsbarkeit im geschichtlichen Zusammenhang

dort aufgegeben. Er hatte schon vereinzelt durchblicken lassen, dass ihm künftig die Aufgabe zufalle, "den Gesetzgeber überall dort direkt oder indirekt zu entsprechenden legislatorischen Schritten zu zwingen, wo die Rechtslage nicht rechtzeitig oder nur mangelhaft dem Gleich­

heitsgrundsatz angepasst wurde".137 Der Staatsgerichtshof ist dazu übergegangen, seine kassatorischen Befugnisse gegenüber dem Gesetz­

geber auszuweiten, wenn es darum geht, die "inhaltliche Substanz der Verfassung"138 voll zum Tragen zu bringen.139 Er hatte schon früher dem Gesetzgeber in speziellen Fällen positive Vorgaben für seine Tätig­

keit gemacht, wobei allerdings die jeweilige besondere Problemlage den Ausschlag dafür gab.140

Kern dieser Thematik ist die Frage nach dem Umfang des verfas­

sungsgerichtlichen Uberprüfungsrechts, insbesondere im Verhältnis zu Gesetzgebungsakten.141 Nicht zu übersehen ist, dass die Verfassung in Art. 104 Abs. 2 auf eine Verfassungsgerichtsbarkeit in der Konzeption von Hans Kelsen142 ausgerichtet ist, die unter der Formel des "negativen Gesetzgebers" bekannt geworden ist. Danach sind die Verfassungsge­

richte auf eine rein negative Kassationstätigkeit beschränkt. Es zeichnet sich international eine Entwicklung ab, der Verfassungsgerichtsbarkeit auch positive Entscheidungsbefugnisse zuzugestehen. Sie wird mit einem vermehrt notwendig gewordenen Schutz der Verfassungsgüter

137 Wolfram Höfling, Die liechtensteinische Grundrechtsordnung, S. 219, unter Bezug­

nahme auf StGH 1990/13, Urteil vom 3. Mai 1991, LES 4/1991, S. 136 (140), und StGH 1990/16, Urteil vom 2. Mai 1991, LES 3/1991, S. 81 (83 f.).

138 Diese Formulierung findet sich bei Alexander v. B rünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, S. 163 f. Er meint: Je weniger die Kernprinzipien der Verfassung betroffen sind, desto geringer sind die Kassationsbefugnisse der Verfas­

sungsgerichtsbarkeit, desto grösser sind die Freiräume von Legislative und Exekutive.

Er erinnert in diesem Zusammenhang an Jörg Paul Müller, Die Verfassungsgerichtsbar­

keit im Gefüge der Staatsfunktionen, S. 70, der aus schweizerischer Sicht betonte, dass sich die Verfassungsgerichtsbarkeit darauf beschränken müsse, "Hüter der Essentialien einer demokratischen, rechtsstaatlichen und bundesstaatlichen Ordnung" zu sein.

139 StGH 1996/36, Urteil vom 24. April 1997, LES 4/1997, S. 211 (216 f.).

140 So beispielsweise die Kundmachungsproblematik. Siehe dazu StGH 1981/18, Beschluss vom 10. Februar 1982, LES 2/1983, S. 39 (43), und StGH 1982/36, Gutachten vom 1. De­

zember 1982, LES 4/1983, S. 107 (111). Zum ganzen Fragenkomplex siehe Alexander v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, S. 157 ff. und 166 ff.

141 Vgl. auch die Anmerkungen auf S. 153. Zur neueren Diskussion in Deutschland siehe Ulrich R. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen, S. 211 ff.

142 Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, S. 56. Vgl. auch StGH 1995/20, Urteil vom 24. Mai 1996, LES 1/1997, S. 30 (37).

gerechtfertigt, die unter den heutigen Bedingungen einer umfassenden Sozialstaatlichkeit vielfachen Gefährdungen durch die politischen Insti­

tutionen ausgesetzt seien, die durch rein negative Entscheidungen der Verfassungsgerichte nicht hinreichend beseitigt werden könnten. Sie würden oft einen noch verfassungswidrigeren Zustand herbeiführen, als dies ohne eine solche Entscheidung der Fall wäre.143 Der Staatsgerichts­

hof beruft sich in diesem Zusammenhang auf "schwergewichtige Sach-zwänge"144, die gegen eine Kassation der als verfassungswidrig erkann­

ten Bestimmungen sprechen. In einer anderen Formulierung heisst dies, dass er nicht ohne Not in die Gesetzgebungsbefugnis des Landtages ein­

greifen darf, andernfalls er Gefahr laufen würde, sich als politische In­

stanz zu betätigen und damit gegen das Gewaltenteilungsprinzip Ver­

stössen würde,145 m.a.W. sich nur als Organ der Rechtsprechung betäti­

gen dürfe.

Es lassen sich auch in der Rechtsprechung des liechtensteinischen Staatsgerichtshofes - wie bereits vorhin vermerkt - vermehrt Ansätze dafür finden, wonach sich seine Tätigkeit nicht mehr nur auf negative, kassatorische Entscheidungen beschränkt. Eine solche Entwicklung überrascht nicht, steht er doch mit seiner Verfassungspraxis stark im Einflussbereich von Judikatur und Lehre seiner beiden Nachbarstaaten Osterreich und der Schweiz.146 Auch die Spruchpraxis des deutschen

143 Vgl. zu diesem Themenkreis Alexander v. B rünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, S. 166 ff. (177).

144 StGH 1995/20, Urteil vom 24. Mai 1996, LES 1/1997, S. 30 (37).

145 StGH 1993/3, Urteil vom 23. November 1993, LES 2/1994, S. 37 (38). Für Deutschland kritisch Gerd Roellecke, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, S. 32, der meint, dass sich die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht in das übliche Gewaltenteilungsschema einordnen lasse.

146 Nach Peter Oberndorfer, Die Verfassungsrechtsprechung im Rahmen der staatlichen Funktionen, S. 198 f., hat der österreichische Verfassungsgerichtshof in den letzten Jahren "zunehmend verfassungsrechtliche Normen auch als inhaltlichen Prüfungsmass­

stab von Gesetzen benutzt". Er greift bisweilen auch als "positiver Gesetzgeber" durch.

So Rene Marcic, Verfassung und Verfassungsgericht, S. 205. Für die Schweiz: Jörg Paul Müller, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, S. 94, spricht dem Verfassungsgericht die Aufgabe einer "korrektiven und komplementären Funktion gegenüber dem Gesetzgeber" zu. Vgl. auch Walter Kälin, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 169, der dafürhält, dass "aktive verfassungsgerichtliche Rechts­

schöpfung" zur Notwendigkeit werde, wenn sich dem Gericht zeige, dass dem Gesetz­

geber die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Lösung anstehender Grundrechtsprobleme abgehe. Vgl. in diesem Zusammenhang auch bei Giovanni Biaggini, Verfassung und Richterrecht, S. 455 ff., die Darstellung der neueren Rechtsprechung des schweizeri­

schen Bundesgerichts zum Thema des "säumigen Gesetzgebers".

Die Verfassungsgerichtsbarkeit im geschichtlichen Zusammenhang

Bundesverfassungsgerichts gewinnt zunehmend an Gewicht.147 Es ist in diesen Ländern - wenn auch in unterschiedlichem Ausmass - bereits zur Tatsache geworden, dass sich die Kontrolle der Verfassungsgerichtsbar­

keit über die Legislative in einer Vielzahl von Formen und positiven Beiträgen148 zum Verfassungsleben niederschlägt. Es werden aber auch Stimmen laut, die sich gegen eine solche Entwicklung wenden.149

M7 Vgl. etwa StGH 1989/15, Urteil vom 31. Mai 1990 als Verwaltungsgerichtshof, LES 4/1990, S. 135 (140). Zur Grundrechtspraxis des Staatsgerichtshofes siehe Wolfram Höfling, Die liechtensteinische Grundrechtsordnung.

148 Vgl. dazu die bei Alexander v. B rünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, S. 166 ff., beschriebenen Formen der positiven Entscheidungen der Ver­

fassungsgerichte.

149 Walter Schmitt Glaeser, Das Bundesverfassungsgericht als "Gegengewalt", S. 1196, der meint, es bestehe kein Anlass, das Bundesverfassungsgericht als "Gegengewalt" zum Parlament zu installieren. Er erblickt darin eine "Auflösung des Gewaltengliederungs­

konzeptes", was höchst gefährlich sei.

§ 3 Begriffsbestimmung und Normenkontrollsystem