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Mit dem rechtsstaatlichen Postulat der christlich-sozialen Volkspartei, einen Staatsgerichtshof89 zum Schutz der verfassungsmässigen Rechte der Bürger einzusetzen, deren Verletzung nach dem Verfassungsentwurf von Dr. Wilhelm Beck mit der staatsrechtlichen Beschwerde angefoch­

ten werden konnte, war die Verfassungsgerichtsbarkeit initiiert, auch wenn sie vornehmlich noch als Institut zum Schutz von Individualrech­

ten verstanden wurde. Jedenfalls soll sich die verfassungsrechtliche Neu­

ordnung deutlich vom "Polizeistaat"90 abheben, den es aus der Sicht der christlich-sozialen Volkspartei zu überwinden galt. Diese Rechtsschutz­

garantie ist auch als Reaktion auf entsprechende Verfassungsmängel be­

ziehungsweise als Kritik an den bisher für den Rechtsschutz der Bürger ungenügenden verfassungsrechtlichen Vorkehrungen zu verstehen. Das dafür vorgesehene Beschwerdemittel ist unverkennbar schweizerischen Ursprungs. Es ist der schweizerischen Bundesverfassung entlehnt wor­

den, die im Schutz der verfassungsrechtlich garantierten Rechte des Ein­

zelnen eine der zentralen Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit

89 Der im Parteiprogramm der christlich-sozialen Volkspartei und im Verfassungsentwurf von Dr. Wilhelm Beck verwendete Begriff "Staatsgerichtshof" stand zur damaligen Zeit auch in Art. 19 Abs. 1 de r Weimarer Reichsverfassung und ebenso in den Verfassungen der deutschen Ländern, so Wolfgang Eiswaldt, Die Staatsgerichtshöfe in den deutschen Ländern und Art. 19 der Reichsverfassung, S. 299 ff.; siehe vorne Anm. 78; vgl. auch Rudolf Hoke, Verfassungsgerichtsbarkeit in den deutschen Ländern in der Tradition der deutschen Staatsgerichtsbarkeit, S. 82 und 85. Es handelte sich also um einen geläufigen Terminus. Auch wenn dabei begrifflich an die alten Staatsgerichtshöfe angeknüpft wurde, ist es doch nicht bei der als zu eng verstandenen Staatsgerichtsbarkeit der Län­

der aus dem 19. Jahrhundert geblieben. Dies bestätigt Art. 104 der Verfassung. Es be­

stand für den Verfassungsgeber keine Veranlassung, von diesem Begriff Abstand zu neh­

men, zumal er als Staatsgerichtshof nicht nur als Verfassungsgerichtshof, sondern auch als Verwaltungsgerichtshof fungiert. Zur Staatsgerichtsbarkeit siehe Ulrich Scheuner, Die Uberlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert, S. 1 ff . mit weiteren Hinweisen.

90 Bei der Kommentierung des Gesetzesentwurfs über die allgemeine Landesverwaltungs­

pflege konnte Dr. Wilhelm Beck darauf hinweisen, dass die "neue Verfassung" den

"Geist des Rechtsstaates" erkennen lasse, und dass anstelle des Grundsatzes des Poli­

zeistaates der Grundsatz des Rechtsstaates trete, so im Kommissionsbericht, S. 1.

Die Verfassungsgerichtsbarkeit im geschichtlichen Zusammenhang

erblickt.91 Dieser Befund überrascht nicht, wenn man sich die für

"schweizerische Verhältnisse sehr eingenommene Haltung" des Verfas­

sers vergegenwärtigt.92 Es ist der schweizerischen Bundesverfassung ei­

gen, dass sie sich zur Vorherrschaft des Gesetzgebers (Volk und Parla­

ment) bekennt, die bis heute bedeutsam geblieben ist.93 Dabei steht das Argument der Referendumsdemokratie im Zentrum der Überlegungen.

Es würde ihr widersprechen, wenn die von den Stimmbürgern aus­

drücklich oder stillschweigend angenommenen Erlasse der Bundes­

versammlung vom Bundesgericht aufgehoben oder nicht angewendet würden. Die Konsequenz daraus ist das in Art. 113 Abs. 3 der Bundes­

verfassung enthaltene Gesetzesprüfungsverbot. Danach sind die Bun­

desgesetze der verfassungsgerichtlichen Kontrolle durch das Bundesge­

richt entzogen.94 Es gehört auch zur Besonderheit der schweizerischen Verfassungsgerichtsbarkeit, dass es keine institutionalisierte Trennung von Verfassungsgerichtsbarkeit und ordentlicher Gerichtsbarkeit gibt.95

91 Gemäss Art. 105 der schweizerischen Bundesverfassung war das Bundesgericht zustän­

dig, "über Verletzung der durch die Bundesverfassung garantierten Rechte" zu urteilen.

Zur staatsrechtlichen Beschwerde und zum Individualrechtsschutz siehe Walter Kälin, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 24 ff. und 35 ff. Nach ihm (S. 21/

Anm. 1) meint Verfassungsgerichtsbarkeit in der schweizerischen Rechtsordnung das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte (Art. 84 Abs. 1 B st. a OG) und betreffend Abstimmungen und Wahlen (Art. 85 Bst. a OG); weitere Hinweise bei Walter Haller, Das schweizerische Bundesgericht als Verfassungsgericht, S. 183 ff.; Jörg Paul Müller, Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, S. 55 ff. und 63 ff.

92 Liechtensteiner Volksblatt Nr. 31 vom 1. August 1914. Dort ist nachzulesen, dass An­

reger und Leiter der Oberrheinischen Nachrichten Dr. Wilhelm Beck sei, der zur Zeit bei Nationalrat Grünenfelder in Flums arbeite. Den grössten Teil seiner Studien, wie auch den Abschluss, habe er in der Schweiz gemacht. Aus diesen Umständen und aus seinen gegenwärtigen Beziehungen erkläre sich die Ausgabe des Blattes in Mels (St. Gal­

len) und dessen für schweizerische Verhältnisse sehr eingenommene Haltung. Die Oberrheinischen Nachrichten waren das Sprachrohr der christlich-sozialen Volkspartei.

Zu seiner Person informativ die Studie von Arthur Brunhart und Rupert Quaderer, Wil­

helm Beck (1885-1936). Bilder aus seinem Leben und Schaffen, in: Studien und Quellen zur politischen Geschichte des Fürstentums Liechtenstein im frühen 20. Jahrhundert, S. 102 ff.

93 Zu den gegenwärtigen Verfassungsbestrebungen siehe Heinrich Koller, Leitvorstellun­

gen für die Totalrevision des OG, S. 89 (111 ff.).

94 Vgl. etwa Jörg Paul Müller, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunk­

tionen, 1981, S. 53 (63); Stefan Oeter, Die Beschränkung der Normenkontrolle in der schweizerischen Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 546 ff., und Max Imboden, Verfassungs­

gerichtsbarkeit in der Schweiz, S. 506 ff.

95 Vgl. Andreas Auer, Die schweizerische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. I9/Nr. 37, und S. 21/Nr. 40.

Mit dem Eintritt von Dr. Josef Peer96 in das Verfassungsgeschehen kam auch österreichisches Gedankengut97 zum Tragen, so dass man sich wieder in bisherigen traditionellen Verfassungsbahnen bewegte,98 von denen sich die Verfassungsvorstellungen der christlich-sozialen Volks­

partei und namentlich der Entwurf von Dr. Wilhelm Beck aus "Demo-kratiesierungsgründen"99 entfernt hatten. Nach ihrer Uberzeugung ver­

mochten die bestehenden konstitutionell-monarchischen Einrichtungen der politisch-sozialen Aufbruchbewegung in Richtung Demokratie und Mitbestimmung der staatlich-politischen und gesellschaftlichen Verhält­

nisse, wie sie sich auch in ehemals monarchischen Staaten durchgesetzt hatte, nicht mehr gerecht zu werden. Es ist daher naheliegend, wenn sie zur Verwirklichung ihres Anliegens die schweizerische Bundesverfas­

sung oder schweizerische Kantonsverfassungen zu Rate zogen und bei ihnen Anleihen machten. Es versteht sich auch, dass sie sich mit diesem Vorgehen bewusst vom traditionellen Verfassungsgut abwandten. Damit blieben auch die Bestrebungen nach Einführung der Normenkontrolle durch ein Verfassungsgericht, die in den zwanziger Jahren kontrovers diskutiert worden war, ausgeblendet. Dieses rechtsstaatliche Ideengut konnte und musste von anderer Seite in die Verfassungsberatungen ein­

gebracht werden. Dies geschah durch Dr. Josef Peer. Er wurde vom Lan­

desfürsten mit der Verfassungsausarbeitung betraut. Er verfügte über die nötige juristische Ausbildung und brachte als Richter am

österreichi-96 Dr. Josef Peer wird bescheinigt, dass er einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes gewesen sei, so Friedrich Wilhelm Kremzow (siehe vorne Anm. 45). Als Verwaltungsrichter darf man ihn wohl zurecht als Kenner des österreichischen Staats- und Verwaltungsrechts bezeichnen. Sein Einfluss auf die Er­

richtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit ist unbestritten, doch lassen sich die histori­

schen Hintergründe und Motive der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle, auch wenn in der Zwischenzeit die Schlossprotokolle veröffentlicht und damit allgemein zu­

gänglich sind, nicht mit letzter Genauigkeit rekonstruieren. Vgl. auch Erwin Melichar, Die Liechtensteinische Verfassung 1921 und die österreichische Bundesverfassung 1920, S. 445.

97 Zur Entstehung der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit siehe Herbert Haller, Die Prüfung von Gesetzen, S. 1 ff. , insbesondere S. 57 ff.

98 Dies erhellt ein Vergleich der Verfassung von 1921 mit der von 1862. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang Gerard Batliner, Einführung in das liechtensteinische Verfas­

sungsrecht, S. 30 ff.

99 Ihre Verfassungsbestrebungen liefen auf eine "Demokratisierung" der Monarchie hin­

aus; siehe Rupert Quaderer, Der historische Hintergrund der Verfassungsdiskussion von 1921, S. 125 ff., und Herbert Wille, Monarchie und Demokratie als Kontroversfra­

gen der Verfassung 1921, S. 160 ff.; ders., Regierung und Parteien - Auseinandersetzung um die Regierungsform in der Verfassung 1921, S. 97 ff.

Die Verfassungsgerichtsbarkeit im geschichtlichen Zusammenhang

sehen Verwaltungsgerichtshof auch entsprechende Erfahrungen in Ver­

fassungsfragen mit. Man darf ihn daher zurecht als einen Experten des österreichischen Staats- und Verwaltungsrechts bezeichnen. Er ver­

knüpfte im Stil eines hervorragenden Kenners der Verfassungsmaterie althergebrachtes Verfassungsgut mit neuen rechtsstaatlichen Postulaten und führte damit auch österreichisches Rechtsgut in die liechtensteini­

sche Verfassung ein. Diese Strategie erlaubte es ihm, einerseits neue Ver­

fassungseinrichtungen ins liechtensteinische Recht einzuführen, wie dies in der in der Verfassung ausgeprägten Verfassungsgerichtsbarkeit in der Erscheinungsform der Normenkontrolle der Fall ist, und andererseits wohl auch einem Wunsch des Fürsten und der ihm nahestehenden Kreise zu entsprechen, bewährte Einrichtungen der Verfassung von 1862 beizubehalten. Ein solcherart zielgerichtetes Vorgehen lag ganz im Sinn des allseitigen Verfassungsanliegens.

Altes Verfassungsgut kommt im Zusammenhang mit der Verfassungs­

gerichtsbarkeit in der Kompetenz des Staatsgerichtshofes zur Entschei­

dung von Auslegungsstreitigkeiten von Verfassungsbestimmungen zum Vorschein, wie sie Dr. Josef Peer in § 111 der von ihm verfassten Regie­

rungsvorlage100 vorgesehen hat. Diese Regelung ist § 122 der Verfassung von 1862 nachgebildet, wo die als "Schiedsgerichtsbarkeit" ausgewie­

sene Staatsgerichtsbarkeit dem "Bundesschiedsgerichte" Überbunden war. Es erstaunt jedenfalls nach dem Gesagten nicht, wenn eine solche Bestimmung im Verfassungsvorschlag von Dr. Wilhelm Beck nicht ent­

halten war. Sie war ihm vielmehr fremd. Sie findet als "geschichtliches"

Vorbild für die verfassungsgerichtliche Schiedsrichterfunktion des Staatsgerichtshofes unter veränderten Vorzeichen101 Eingang in Art. 112 der Verfassung von 1921 und gehört zum festen Bestand der liechten­

steinischen Verfassungsgerichtsbarkeit.102 Diese besteht in der Ausge­

staltung von Art. 104 Abs. 2 der Verfassung zu ihrem überwiegenden

100 LLA RE 1921/963.

101 Es ist jetzt nicht mehr das "BundesschJedsgericht", sondern der Staatsgerichtshof, der den Auslegungsstreit nach Massgabe der Verfassung von 1921 durch Feststellungsurteil entscheidet.

102 Vgl. Gerard Batliner, Aktuelle Fragen des liechtensteinischen Verfassungsrechts, S. 72 ff./Rdnr. 137 ff., ders., Die liechtensteinische Rechtsordnung und die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 105 ff.; ders., Schichten der liechtensteinischen Verfas­

sung von 1921, S. 291 ff.; ders., Einführung in das liechtensteinische Verfassungsrecht, S. 26 f. und 99 f. Vgl. auch Herbert Wille, Verfassungsgerichtsbarkeit und duale Staats­

ordnung im Fürstentum Liechtenstein, S. 111 ff.

Teil aus dem österreichischen System der verfassungsgerichtlichen Nor­

menkontrolle, wie sie auch über das Institut der Verfassungsbeschwerde zur Anwendung gelangt.103 Damit ist das österreichische Verfassungs­

recht als Rezeptionsgrundlage offengelegt und gleichzeitig auch der Nachweis erbracht, dass einerseits altbestandenes, unter dem Regime der Verfassung von 1862 geltendes, und neues österreichisches Recht übernommen worden ist.

Die Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf die Kontrolle von Gesetzen auf ihre Verfassungsmässigkeit ist das Ergebnis der Schloss­

abmachungen. Den Einbezug der Regierungsverordnungen in den Nor-menkontrollbereich des Staatsgerichtshofes und die Klarstellung seiner Kontrollbefugnisse erfolgte in der Regierungsvorlage. Dieses Modell der Verfassungsgerichtisbarkeit trägt zweifellos die Handschrift von Dr. Jo­

sef Peer und ist österreichischer Herkunft.104 Es liegt ihm das Prinzip der hierarchischen Uberordnung der Verfassung über das Gesetz zu­

grunde, währenddem die schweizerische Rechtsordnung dem Primat des Parlaments den Vorzug gibt, der ein Prüfungs- und Verwerfungs­

recht der Gerichte gegenüber gesetzgeberischen Akten des Bundes aus-schliesst. Diese Frage, die sich Ende der zwanziger Jahre zum Rich­

tungsstreit ausweitete,105 wurde in den Verfassungsberatungen nicht ver­

tieft. Es dürfte davon auch kaum Notiz genommen worden sein. Dafür

103 Vgl. Gerard Batliner, Die liechtensteinische Rechtsordnung und die Europäische Men­

schenrechtskonvention, S. 111 ff., der die liechtensteinische Verfassungsbeschwerde auf dem Hintergrund des österreichischen Typus darstellt und auf die Unterschiede auf­

merksam macht.

104 peter Häberle, Vorwort, in: Ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. XI (XIV), weist auf die "Schrittmacher-Rolle" Österreichs in der Verfassungsgerichtsbarkeit hin, und Ludwig Adamovich, Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Ent­

wicklung, in: Schambeck (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, Berlin 1980, S. 541, spricht von der "historischen Bedeutung", die der Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 zukomme und in: Die österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit vor dem euro­

päischen Hintergrund, S. 164, von einem "Exportartikel" des österreichischen Systems der Verfassungsgerichtsbarkeit.

105 Die Staatsrechtslehre lehnte das System der Verfassungsgerichtsbarkeit noch grössten­

teils ab. Dies hat zum Beispiel Hans Kelsen noch 1928 auf der Wiener Tagung der Ver­

einigung der Deutschen Staatsrechtslehrer erfahren, als er das damals schon acht Jahre lang funktionierende System einer vollen Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich vor­

stellte, rechtstheoretisch untermauerte und politisch rechtfertigte, so Karl Korinek, Betrachtungen zur österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 255; siehe auch die Referate von Heinrich Triepel und Hans Kelsen in: WDStRL Heft 5 (1929), und die Aussprache, S. 88 ff.

Die Verfassungsgerichtsbarkeit im geschichtlichen Zusammenhang

gibt es Anhaltspunkte, die sich aus dem Kontext des Entwicklungsgan­

ges der Verfassungsberatungen ergeben und aus denen sich bestimmte Schlüsse ziehen lassen. Es ist anzunehmen, dass auch rechtspolitische Überlegungen eine Rolle gespielt haben. Zeitdokumente können nicht befragt werden. Denn die entscheidenden Vorgänge haben sich hinter den politischen Kulissen abgespielt, wie dies die Schlossprotokolle auch bestätigen.

Das Grundanliegen der Vertreter der christlich-sozialen Volkspartei war bekannt. Sie wollten einen Rechtsstaat nach schweizerischem Mu­

ster verwirklichen. So galt ihr Blick über die Grenzen in erster Linie der Frage, wie ausländisches Verfassungsrecht und ausländische Staatspraxis behilflich sein können, den obrigkeitlichen Polizeistaat zu überwinden.

Dabei interessierten die Rechtsschutzgarantien mehr als der Gedanke auf Einführung einer möglichst umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit in Gestalt der Normenkontrolle. Das ist nicht weiter verwunderlich, war man doch bemüht, den Freiheitsraum, der gegenüber dem Staat er­

kämpft wurde, rechtlich abzusichern. Dies war eine der Realitäten, denen das besondere Augenmerk der initiativen Verfassungskräfte galt.

Der von Dr. Josef Peer gemachte Vorschlag zur Errichtung der Ver­

fassungsgerichtsbarkeit entstammte zwar einem ihnen "fremden" Recht, für das sie wenig Verständnis aufbrachten. Es ist anzunehmen, dass sie sehr wohl erkannten, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit als rechtsstaat­

liches Instrument ihren Intentionen entgegenkam.106 Die Stossrichtung stimmte mit der ihrigen überein, so dass die Einführung der Verfas­

sungsgerichtsbarkeit nach dem österreichischen Vorbild nur positive Folgen auf die Verfassungslage haben konnte, so dass sich keine weite­

ren Erörterungen aufdrängten und Beratungen darüber ausblieben.107

106 Dies war beispielsweise auch beim Landesverwaltungspflegegesetz (LVG) von 1922 der Fall, das österreichischen Ursprungs ist; siehe dazu Andreas Kley, Grundriss des liech­

tensteinischen Verwaltungsrechts, S. 20 ff. und 317.

107 Dies ist den Grundgedanken der Verfassungsgerichtsbarkeit zu entnehmen, wie sie Hans Kelsen damals formuliert hatte. Walter Antonioiii, Hans Kelsen und die öster­

reichische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 28 f., fassen sie wie folgt zusammen: Alle staat­

lichen Akte sollen auf eine Norm höchstens Ranges zurückgeführt werden können.

Insbesondere soll ein zentrales Gericht, ein Verfassungsgericht, die Tätigkeit aller Staatsorgane, auch der höchsten, im besonderen auch des Gesetzgebers und der Regie­

rung, auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüfen und bei Verletzung der Verfassung den verfassungsmässigen Zustand wieder herstellen. Massstab dieser Prüfung soll allein die Verfassung sein. Verfassungsgerichtsbarkeit soll also Rechtskontrolle, nicht politische Kontrolle sein.

Man war sich dabei sicher bewusst, dass sich österreichische Verfas­

sungseinrichtungen nicht unbesehen auf die liechtensteinische Verfas­

sungslage übertragen Hessen. Ein solches Bedenken hätte aber auch ge­

genüber den der schweizerischen Rechtsordnung entlehnten demokrati­

schen Einrichtungen, wie sie die Initiative und das Referendum auf Verfassungs- und Gesetzesebene darstellen, geltend gemacht werden können. Diese Frage der Auswirkungen der Verfassungsgerichtsbarkeit auf das gesamte Verfassungsgefüge scheint, wie andere Rechtsinstitute und Regelungen in dieser Beziehung auch, wie zum Beispiel die Konse­

quenzen der Demokratisierung des staatlichen Lebens auf die monarchi­

sche Ausgestaltung des Staates, nicht näher untersucht worden zu sein.

Jedenfalls stand fest, dass diese demokratischen Einrichtungen als Mittel der Mitsprache und Mitentscheidung des Volkes zu einer grund­

legenden Neugestaltung der monarchischen Staatsordnung führte. Das trifft auch auf die Verfassungsgerichtsbarkeit zu. Es konnte denn auch die "politische Dimension" der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht überse­

hen worden sein, auch wenn sie offenbar nicht zu reden gegeben hat.

Insbesondere in der Funktion des "negativen Gesetzgebers" gewinnt sie an rechtspolitischem Gewicht. Bei der Normenkontrolle fällt die Ab­

grenzung gegenüber den andern Teilhabern staatlicher Gewalt schwer, und der Staatsgerichtshof kann zu ihnen in ein Spannungsverhältnis ge­

raten. Denn er hat im Rahmen seiner Aufgaben Gesetze und Regie­

rungsverordnungen auszulegen und gegebenenfalls zu kassieren. Damit kann er sich in Widerspruch zu den Intentionen des Gesetz- und Ver­

ordnungsgebers begeben. Man darf wohl annehmen, dass dieser Aspekt der Normenkontrolle im Vorschlag von Dr. Josef Peer wohl erkannt worden ist. Sein Wort dürfte aber in der Sache sowohl als Landesverwe­

ser als auch als Fachmann grosses Gewicht gehabt haben, und es über­

wog mit Blick auf das Ganze der Verfassung gesehen auch bei den Re­

formkräften die positive Seite dieser verfassungsgerichtlichen Regelung.

Sie stärkte ihr Anliegen der judiziellen Verwirklichung des Rechtsstaa­

tes. Wie bereits mehrfach erwähnt, war ihr vornehmliches Ziel, die Ver­

fassungsbeschwerde, die das Individualinteresse schützt, verfassungs­

rechtlich zu verankern.108 Da allein dieses Verfassungspostulat im Zen­

108 Vgl. Ulrich Scheuner, Diskussionsbeitrag zum Referat von Klaus Stern, Verfassungsge-richtsbarkeit zwischen Recht und Politik, Opladen 1980, S. 37. Er weist darauf hin, dass der Gedanke des Rechtsstaates in erster Linie nur für die Verfassungsbeschwerde und nicht auch für die Normenkontrolle gilt.

Die Verfassungsgerichtsbarkeit im geschichtlichen Zusammenhang

trum ihres Bestrebens stand, wurde die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Ausgestaltung der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle für sie nicht zum Problem, wie man dies vor dem Hintergrund des schweizeri­

schen Verfassungsbeispiels vermuten könnte, das sich für den Primat des Gesetzgebers aussprach. Dieses Thema bot unter diesen Vorzeichen kei­

nen Konfliktstoff und war nicht Gegenstand der Verfassungsdiskussion.

Es sind in der Folge weder das Demokratieprinzip noch die Kritik der "Politisierung der Justiz" als Argumente gegen die Verfassungsge­

richtsbarkeit verwendet worden. Der demokratische Gedanke spielte von allem Anfang an neben der überkommenen Form der Monarchie eine verfassungspolitisch wichtige Rolle und blieb in einer künftigen Staatsordnung als Teil und Gegenstück zu ihr und auf sie ausgerichtet.

II. Tragweite der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre