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Nach Artikel 26 StGHG können hundert Stimmfähige, ohne dass sie ein besonderes Interesse nachweisen müssen, eine Verordnung oder einzelne ihrer Bestimmungen innerhalb einer Frist von einem Monat seit der Publikation im Landesgesetzblatt als verfassungs- oder gesetzwidrig anfechten und ihre Aufhebung verlangen. Die selbständige Verordnungs­

anfechtung ist eine Besonderheit des liechtensteinischen Rechts, die im Recht der Nachbarstaaten keine Parallele findet. Sie war in der Regie­

rungsvorlage noch als "Popularklage" konzipiert, wonach "jedermann"

eine Verordnung beim Staatsgerichtshof hätte anfechten können, und wurde erst vom Landtag in eine "Kollektivpopularklage" - wie sie gele­

gentlich auch genannt wird64 umfunktioniert. Sie ist ein spezifisches verfassungsgerichtliches "Rechtsschutzmittel",65 für das neben dem An­

fechtungsgegenstand (Verordnung) weitere gewichtige Beschränkungen gelten. Gemeinsam ist ihm mit der abstrakten Kontrolle von Gesetzen, dass es zur Einleitung des Verfahrens keines besonderen Interesses be­

darf. Die selbständige Verordnungsanfechtung unterscheidet sich von ihr jedoch durch den Kreis der Anfechtungsberechtigten und die zeitliche Befristung. Anfechtungsberechtigt sind hundert Stimmfähige. Darunter versteht das Volksrechtegesetz in Art. 1 Abs. 1 Landesangehörige, die das 20. Lebensjahr vollendet und im Land ordentlichen Wohnsitz haben.66

Gegenüber der Verfassungsbeschwerde fällt auf, dass sich die selbstän­

dige Verordnungsanfechtung unmittelbar gegen eine Norm, das heisst eine Verordnung oder Verordnungsbestimmung richtet, währenddem sich die Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung oder Ver­

fügung eines Gerichts oder einer Verwaltungsbehörde wendet und nur über diesen Weg zur Normprüfung führen kann.

64 Johann Brandstätter, Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein, S. 102.

65 Christian Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, S. 441; Hans Domcke, Die bayerische Popularklage, S. 233 f.; die bayerische Popularklage ist zwar umfassender, doch hat es sie zur Zeit des Inkrafttretens des Staatsgerichtshofgesetzes 1925 in der heutigen Form der abstrakten Normenkontrolle zum Schutz der Grundrechte noch nicht gegeben, vgl.

dazu Hans Nawiasky, Bayerisches Verfassungsrecht, S. 451 ff., der sie bei der Darstel­

lung der Institution des Staatsgerichtshofes nicht erwähnt.

66 Art. 1 A bs. 1 Gesetz vom 17. Juli 1973 betreffend die Ausübung der politischen Volks­

rechte in Landesangelegenheiten, LGB1 1973 Nr. 50, LR 161.

Verfahrensarten

2. Würdigung

Die selbständige Verordnungsanfechtung nach Art. 26 StGHG stellt eine Form oder einen Sonderfall der abstrakten Normenkontrolle dar.67

Das Schrifttum erblickt in ihr eine "Kollektivpopularklage"68 oder be­

zeichnet sie als eine "Art" Popularklage69. Der Staatsgerichtshof setzt sie gelegentlich sogar einer "eigentlichen Popularklage" gleich,70 obwohl er zuvor auch schon der Ansicht gewesen ist, eine Popularklage sei im Staatsgerichtshofgesetz nicht vorgesehen.71 Diese Charakterisierung ist wohl zu weitgehend. Wäre dem so, müsste jedermann - nicht nur jeder Stimmfähige beziehungsweise hundert Stimmfähige - befugt sein, eine Verordnung innerhalb der genannten Frist anzufechten, das heisst, das Normenkontrollverfahren in Gang bringen zu können. Dies hat aber -wie ein Blick auf die Entstehungsgeschichte bestätigt - der Gesetzgeber gerade ausgeschlossen. Der Landtag ist nämlich dem Vorschlag der bei­

den Gesetzesredaktoren beziehungsweise der Regierung nicht gefolgt, der vorgesehen hatte, dass jedermann eine Verordnung anfechten und ihre Aufhebung verlangen kann. Die dafür geltend gemachten "Zeitum­

stände" deuten darauf hin, dass man mit einer Häufung solcher Popu-larverfahren rechnete, die die Funktionsfähigkeit dieses Instituts hätte in Zweifel ziehen können. Aus diesem Grund konnte sich seinerzeit etwa auch Hans Kelsen nicht mit einer Popularklage anfreunden, obwohl er in ihr an sich die stärkste Garantie für die verfassungshütende Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit gesehen hatte.72

67 Petra Margon, Staatsgerichtshof Liechtenstein - Verfassungsgerichtshof Österreich:

Eine vergleichende Darstellung, S. 172, spricht in diesem Zusammenhang von einem

"Sonderfall der abstrakten Verordnungskontrolle". Aus der liechtensteinischen Praxis ist als illustratives Beispiel StGH 1991/7 (nicht veröffentlicht) zu nennen; ausführlich dargestellt bei Andreas Schurti, Das Verordnungsrecht der Regierung. Finanzbe­

schlüsse, S. 250.

68 Johann Brandstätter, Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein, S. 102.

69 Andreas Schurti, Das Verordnungsrecht der Regierung des Fürstentums Liechtenstein, S. 387, in Anlehnung an Johann Brandstätter, Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein, S. 102.

70 So in StGH 1995/15, Urteil vom 31. Oktober 1995, LES 2/1996, S. 65 (68), unter aus­

drücklicher Bezugnahme auf Andreas Schurti, Das Verordnungsrecht der Regierung des Fürstentums Liechtenstein, S. 387.

71 StGH 1993/15, Urteil vom 16. Dezember 1993, LES 2/1994, S. 52 (53).

72 Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, S. 74, vgl. auch Karl Wenger, Gedanken zur Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 23.

Solche Befürchtungen können voreilig sein. Sie müssen jedenfalls nicht zutreffen, wie das bayerische Beispiel der Popularklage zeigt.73 Der Landtag ist denn auch neuerdings dem Ansinnen der Regierung entgegengetreten, in Art. 19 Abs. 1 Bst. d des noch nicht sanktionierten Staatsgerichtshof-Gesetzes die Zahl der Stimmberechtigten (Stimmfähi­

gen) auf 200 zu erhöhen. Dies hätte trotz der zwischenzeitlich beträcht­

lichen Bevölkerungszunahme und damit auch der Stimmberechtigten74

bedeutet, dass der Zugang zu diesem Institut erschwert worden wäre.

Er hat es daher bei der Zahl von hundert Stimmberechtigten belassen.

Popularklagen wird mit dem Argument begegnet, dass die Normen­

kontrolle auf "prüfungsbedürftige" Fälle zu beschränken seien. Sie könn­

ten zu überflüssigen Verfahren führen.75 Zu bedenken ist auch, dass die selbständige Anfechtung von Verordnungen in der Ausgestaltung einer Popularklage zu sehr in die Nähe einer Verfassungsbeschwerde gerückt wäre,76 auch wenn diese ein persönliches Betroffensein (Verletzung) vor­

aussetzt, währenddem von der selbständigen Verordnungsanfechtung ohne Nachweis eines besonderen Interesses Gebrauch gemacht werden kann. Einer zusätzlichen Kontrollmöglichkeit von Verordnungen bedarf es aber nicht, denn eine Normenkontrolle kann gemäss Art. 23 Abs. 1 Bst. a StGHG auch im Rahmen der Verfassungsbeschwerde stattfinden.

Die vom Gesetzgeber gewollte Einschränkung der Anfechtungsbefug­

nis auf hundert Stimmfähige spricht eindeutig gegen die Annahme des Staatsgerichtshofes, es handle sich bei der selbständigen Verordnungsan­

fechtung um eine "eigentliche" Popularklage, auch wenn in der selbstän­

digen Anfechtung von Verordnungen in grundsätzlicher Weise eine Aus­

weitung der Normenkontrolle erblickt werden kann.77 Hingegen zählt der Staatsgerichtshof die selbständige Verordnungsanfechtung mit Recht zur

73 Art. 98 Satz 4 der bayerischen Verfassung. Siehe Hans Spanner, Die Beschwerdebefug­

nis bei der Verfassungsbeschwerde, S. 375/Anm. 4. Dazu hinten S. 111.

74 Von Seiten der Regierung wird auch geltend gemacht, dass in der Zwischenzeit das Frauenstimmrecht eingeführt worden ist (Volksabstimmung vom 29. Juni/1. Juli 1984;

LGB1 1984 Nr. 27). Siehe dazu LtProt. 1992/1, S. 449.

75 Vgl. Hartmut Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, S. 297.

76 Vgl. Gisela Babel, Probleme der abstrakten Normenkontrolle, S. 13 f.

77 Petra Margon, Staatsgerichtshof Liechtenstein - Verfassungsgerichtshof Österreich:

eine vergleichende Darstellung, S. 173, sieht in diesem Umstand auch eine "starke Re­

duktion in der Zulässigkeit von Verordnungsprüfungsverfahren". Die Regierungs­

vorlage zu einem neuen Staatsgerichtshofgesetz wollte die Anfechtungsbefugnis in Art. 19 Abs. 1 Bst. d auf 200 Stimmberechtigte ausweiten. Der Landtag beliess die Zahl bei hundert Stimmberechtigten. Vgl. die Stellungnahme der Regierung an den Landtag zu den in der ersten Lesung der Regierungsvorlage zum Staatsgerichtshof-Gesetz auf­

geworfenen Fragen, Nr. 42/1992, S. 16 und 20, sowie LtProt. 1992/IV, S. 1945.

Verfahrensarten

Verfahrensart der abstrakten Normenkontrolle. Er begründet dies mit dem Hinweis, dass ein Uberprüfungsantrag gestellt werden könne, ohne dass ein "besonderes Interesse" nachgewiesen werden müsste.78 Hinter dieser Institution vermutet er die Absicht des Gesetzgebers, eine Uber­

prüfung "potentiell verfassungswidriger" Verordnungen durch den Staatsgerichtshof sicherstellen zu wollen.79 Dies liegt ganz im Sinn der ab­

strakten Normenkontrolle, deren Ziel der Verfassungsschutz ist. Danach dient die selbständige Verordnungsanfechtung nicht nur dem Schutz der verfassungsmässig garantierten Rechte des einzelnen, sondern auch dem Schutz und der Sicherung der Verfassung. Es kommt darin auch das Be­

streben des Gesetzgebers zum Vorschein, den Verordnungsgeber, das heisst die Regierung und damit Regierungsverordnungen einer umfassen­

deren Kontrolle zu unterwerfen als Gesetze, die er erlassen hat. Dies erklärt sich aus der Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers.80

Obwohl dieses Rechtsinstitut geeignet wäre, das staatsbürgerliche Bewusstsein zu wecken beziehungsweise zu stärken, ist es bisher kaum ins Bewusstsein der Bürger eingedrungen. Aus der Praxis ist lediglich ein Fall aus der jüngsten Vergangenheit bekannt. Die selbständige Ver­

ordnungsanfechtung teilt das Schicksal der abstrakten Gesetzesprü­

fung, die auch nur in geringem Mass am Verfassungsleben teilhat be­

ziehungsweise bisher weitgehend unbenutzt geblieben ist. Die Gründe sind, wie man dies ohne grossen Aufhebens aus der unterschiedlichen Regelung ersehen kann, nicht die gleichen.81 Der Gesetzgeber ist gut beraten, die prozessualen Voraussetzungen nicht noch restriktiver zu gestalten.82 Dem steht nicht entgegen, dass aus Rücksicht auf die be­

sondere Funktion dieses verfassungsgerichtlichen Instruments Kaute-len durchaus am Platz sind, soll sie nicht zur "Popularklage" werden.

Im übrigen ist die Regierung auch als Verordnungsgeberin an das Ge­

setz gebunden. Dies gebietet schon der aus Art. 92 der Verfassung her­

geleitete Grundsatz der Gesetzmässigkeit der Verwaltung.83

78 StGH 1995/15, Urteil vom 31. Oktober 1995, LES 2/1996, S. 65 (68).

n StGH 1995/15, Urteil vom 31. Oktober 1995, LES 2/1996, S. 65 (68).

80 Vgl. dazu hinten S. 153.

81 Hinzuweisen ist etwa auf den unterschiedlichen Kreis der Antragsberechtigten in Art. 24 Abs. 1 und Art. .26 StGHG.

82 Der Landtag ist dem Vorschlag der Regierung nicht gefolgt, in Art. 19 Abs. 1 Bst. d des noch nicht sanktionierten Staatsgerichtshof-Gesetzes die Zahl auf 200 Stimmberechtigte zu erhöhen; vgl. vorne Anm. 74 und 77.

83 Vgl. Andreas Kley, Grundriss des liechtensteinischen Verwaltungsrechts, S. 167 ff. mit weiteren Hinweisen.

5 5 Die gutachterliche Tätigkeit des Staatsgerichtshofes als Sonderform der Normenkontrolle