Die vom Staatsgerichtshof in einem Gutachten geäusserte Rechtsmei
nung erlangt durch die Tatsache, dass sich Landtag und Regierung in der Praxis danach richten, quasi "normative Kraft",108 auch wenn der Staats
gerichtshof betont, dass einem Gutachten keine bindende Wirkung zu
105 StGH 1982/37, Urteil vom 1. Dezember 1982, LES 4/1983, S. 112 (113), oder von den
"dem Staatsgerichtshof die im positiven Recht verankerten Aufgaben der Rechtspre
chung" in StGH 1982/5/V, Urteil vom 15. September 1983, LES 1/1984, S. 3 (4). Der Staatsgerichtshof spricht etwa auch von der "höchstrichterlichen Rechtsprechung" in StGH 1976/6, Gutachten vom 10. Januar 1977, ELG 1973 bis 1978, S. 406 (409). Diese Kennzeichnungen decken sich mit Art. 104 der Verfassung, der den Staatsgerichtshof als "Gerichtshof des öffentlichen Rechtes" statuiert.
106 In früherer Zeit wurde der Staatsgerichtshof häufiger als heute um Gutachten angegan
gen. Dies ist den im Anhang 3 angeführten Gutachten zu entnehmen.
107 In diesem Sinn Ulrich Scheuner, Probleme und Verantwortungen der Verfassungsge
richtsbarkeit in der Bundesrepublik, S. 298.
108 Beispielhaft die Fälle der Tranti-Initiative und der Jagdgesetz-Initiative, dargestellt bei Martin Batliner, Die politischen Volksrechte im Fürstentum Liechtenstein, S. 170 f.
Die gutachterliche Tätigkeit des Staatsgerichtshofes
komme.109 Dazu trägt auch bei, dass Gutachten allein schon durch das Gewicht der Sachkunde und Autorität des Staatsgerichtshofes und durch die innere Uberzeugungskraft seiner Argumente beträchtliche Wirkung erzielen. In diesem Sinn ist denn die Erstattung von Rechts
gutachten auch schon als "Seitenstück" zur urteilsförmigen Normen
kontrolle bezeichnet worden.110 In der Praxis tritt das Gutachten viel
fach als Ersatz für die abstrakte Normenkontrolle, und zwar sowohl in der präventiven als auch in der repressiven Ausformung, auf.111 Der Staatsgerichtshof ist sichtlich bemüht, diesen Eindruck nicht aufkom
men zu lassen. Er versucht sich daher gegenüber dem Gesetzgeber ab
zugrenzen, indem er unter Berufung auf Art. 16 StGHG vorgibt, er könne über die Verfassungsmässigkeit beziehungsweise Verfassungs
widrigkeit eines bestehenden Gesetzes kein Gutachten erstellen.112 Auch sei eine weitgehende, allgemeine authentische Interpretation dem Ge
setzgeber vorbehalten.113 Diesen Standpunkt hält er aber in seiner Praxis nicht konsequent durch. Es ist Zugegebenermassen schwierig, wie dies Fallbeispiele verdeutlichen können,114 eine Trennlinie zwischen einer
109 StGH 1984/5/V, Urteil vom 25. April 1985, LES 4/1985, S. 103 (104) und StGH 1985/11, Urteil vom 2. Mai 1988, LES 3/1988, S. 94 (97).
110 Norbert Holzer, Präventive Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, S. 173 f.; Johann Brandstätter, Verfassungsgerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein, S. 103, rechnet die Gutachten zum Bereich der präventiven Normenkontrolle.
111 So wenn der Staatsgerichtshof in einem Gutachten den Gesetzgeber anhält, ein Gesetz zu ändern bzw. einen Gesetzesentwurf anders zu gestalten. Vgl. etwa die Empfehlun
gen zur Klarstellung von Begriffen in StGH 1960/1, Gutachten vom 23. März 1960, ELG 1955 bis 1961, S. 133 (134 f.), oder StGH 1961/2, Gutachten vom 14. Dezember 1961, ELG 1962 bis 1966, S. 179 (184). Zu den nachteiligen Folgen dieses Vorgehens für die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 24 StGHG siehe hinten S. 106 f.
112 S tGH 1969/1, Entscheidung vom 13. Juli 1970, ELG 1967 bis 1972, S. 251 (256).
115 StGH 1982/36, Gutachten vom 1. Dezember 1982, LES 4/1983, S. 107, und StGH 1976/6, Gutachten vom 10. Januar 1977, ELG 1973 bis 1978, S. 407 (409).
1,4 Fälle repressiver Normenkontrolle: StGH-Gutachten vom 21. November 1955, ELG 1955 bis 1961, S. 107 ff.; StGH-Gutachten vom 1. September 1958, ELG 1955 bis 1961, S. 129 ff.; StGH 1960/5, Gutachten vom 5. Mai 1960, ELG 1955 bis 1961, S. 144 f.; dies trifft zum Beispiel nicht zu auf: StGH 1981/9, Gutachten vom 28. August 1981, LES 1982, S. 119 ff., zu Fragendes Gesetzes betreffend die Industriekammer vom 25. Februar 1947;
Fälle präventiver Normenkontrolle: StGH 1960/11, Gutachten vom 11. August 1960, ELG 1955 bis 1961, S. 177 ff.; StGH 1961/3, Gutachten vom 27. Juni 1961, ELG 1962 bis 1966, S. 184 ff.; StGH 1964/3, Gutachten vom 22. Oktober 1964, ELG 1962 bis 1966, S. 222 ff.; StGH 1966/1, Gutachten vom 6. Juni 1966, ELG 1962 bis 1966, S. 227 ff.; StGH 1968/6, Gutachten vom 28. Mai 1969, ELG 1967 bis 1972, S. 248 ff.; StGH 1972/3, Gut
achten vom 6. Juli 1972, ELG 1973 bis 1978, S. 344 ff.; StGH 1978/7, Gutachten vom 12. Juni 1978 (nicht veröffentlicht); StGH 1983/11, Gutachten vom 30. April 1984 (nicht . ve röffentlicht). Diese Fälle sind auch wiedergegeben im Anhang 3.
eigentlichen Gutachtertätigkeit115 auf der einen und der Prüfungstätig
keit im Sinn einer "materiellen Verfassungs- oder Gesetzesprüfung" auf der anderen Seite zu ziehen, wenn sich der Staatsgerichtshof über
"Gegenstände der Gesetzgebung und über Gesetzesentwürfe" auszu
sprechen hat (Art. 16 StGHG). Insbesondere dann, wenn das Gutachten als Prüfungsinstrument im Gesetzgebungsverfahren eingesetzt wird, beinhaltet es eine "vorbeugende" Feststellung der Vereinbarkeit bezie
hungsweise Unvereinbarkeit noch nicht bestehender Normen mit der Verfassung.
Es ist von Landtag und Regierung schon immer wieder ein sachliches Bedürfnis reklamiert worden, ihre Gesetzesvorhaben auf die Verfas
sungsmässigkeit durch den Staatsgerichtshof als der wohl "kompetente
sten Instanz"116 prüfen zu lassen.117 Denn mit einer solchen Vor
abklärung verfolgen sie ja g erade den Zweck, schon vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens beziehungsweise vor Erlass eines Gesetzes durch ein Gutachten des Staatsgerichtshofes sicherstellen zu lassen, dass das Gesetzesvorhaben der Verfassung entspricht.118 Dies ist vor allem dann der Fall, wenn im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens unüber-hörbare Zweifel an der Verfassungsmässigkeit eines Gesetzesentwurfes angemeldet worden sind. Das Gutachten nimmt so wie bei der her
kömmlichen Normenkontrolle vom Ergebnis her in einem gewissen
115 Es gehört zum Wesen des Gutachtens, nicht zu entscheiden, sondern Rechtsauffassungen darzulegen und Rechtsstandpunkte abzuwägen, so Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bun
desrepublik Deutschland, Bd. II., S. 948 mit weiteren Hinweisen.
116 Formulierung bei Norbert Holzer, Präventive Normenkontrolle durch das Bundesver
fassungsgericht, S. 173.
117 Vgl. etwa StGH 1960/11, Gutachten vom 11. August 1960, ELG 1955 bis 1961, S. 177 ff.; StGH 1966/1, Gutachten vom 6. Juni 1966, ELG 1962 bis 1966, S. 227 ff.;
StGH 1968/6, Gutachten vom 28. Mai 1969, ELG 1967 bis 1972, S. 248 ff.; StGH 1978/7, Gutachten vom 12. Juni 1978 (nicht veröffentlicht); StGH 1983/11, Gutachten vom 30. April 1984 (nicht veröffentlicht); aus der Literatur in diesem Sinn auch Dieter Engelhardt, Das richterliche Prüfungsrecht im modernen Verfassungsstaat, S. 117; zur Kritik der präventiven Normenkontrolle aus verfassungsrechtlicher Sicht siehe Dieter Grimm, Probleme einer eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, S. 173, und vorne S. 75 ff.
118 S o auch Norbert Holzer, Präventive Normenkontrolle durch das Bundesverfassungs
gericht, S. 173 f.; Dieter Engelhardt, Das richterliche Priifungsrecht im modernen Ver
fassungsstaat, S. 117. Gerhard Ulsamer, Abstrakte Normenkontrolle vor den Landes
verfassungsgerichten (einschliesslich vorbeugende Normenkontrolle), S. 51, ist bezüg
lich der in einigen deutschen Landesverfassungen verwirklichten Fälle vorbeugender Normenkontrolle der Ansicht, dass die Bezeichnung "Normenentwurfskontrolle", so
weit es sich um die verfassungsgerichtliche Prüfung von Gesetzesentwürfen handle, treffender wäre.
Die gutachterliche Tätigkeit des Staatsgerichtshofes
Sinn "Entscheidungscharakter" an, der auf geplante gesetzgeberische Massnahmen "vorwirkt". Es findet mit anderen Worten eine "Art"
präventive abstrakte Normenkontrolle statt. Exemplarisch dafür ist die Formulierung in StGH 1961/3,119 wo es heisst, der Staatsgerichtshof habe "beschlossen: Art. 7 Abs. 2 des vorgelegten Entwurfes eines Jagd
gesetzes ist verfassungswidrig."
IV. Zusammenfassung und Würdigung