Die Normenkontrolle ist eine verfassungspolitische Grundentscheidung und stellt einen Wesensbestandteil der Verfassung dar. Die Normenkon
trolle bildet einen Teilbereich verfassungsgerichtlicher Tätigkeit. Sie ist das Kernstück der Verfassungsgerichtsbarkeit und gehört zum Grund
verständnis des Staatsgerichtshofes als Verfassungsgerichtshof.
Die Verfassungsgeschichte veranschaulicht die Tendenzen auf dem Gebiet der Normenkontrolle, die auf eine Typisierung hinauslaufen.12
Man kann im grossen Ganzen zwei Typen der Normenkontrolle unter
scheiden. Eine völlig atypische Ausformung der Normenkontrolle ist kaum anzutreffen.13 Der eine Verfahrenstyp tritt in der Form der mono
polisierten, der andere in Gestalt der diffusen Verwerfungsbefugnis auf.14
11 Siehe Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag zum Staatsgerichtshof-Gesetz, Nr. 71/1991, S. 10 und 12.
12 Siehe vorne S. 47 und 49 ff. zum österreichischen System.
13 Dies bestätigen etwa die Länderberichte zur Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Christian Starck/Albrecht Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, Teilband I:
Berichte, sowie Alexander v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, S. 27 ff. mit weiteren Nachweisen.
14 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 18, Anm. 3, gebraucht den Ausdruck "dif
fus", um diese Kontrollmassstäbe jenen bei einer einzigen Prüfungsinstanz gegenüber
zustellen. Dabei verwendet er den Begriff "diffuse Inzidentkontrolle". Vgl. auch Mauro Cappelletti/Theodor Ritterspach, Die gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmässigkeit der Gesetze in rechtsvergleichender Betrachtung, S. 82, die zwischen einer "diffusen"
und einer "konzentrierten" Verfassungskontrolle unterscheiden.
Im letzteren Fall sind sämtliche ordentliche Gerichte befugt, sich über die Verfassungsmässigkeit der Rechtsnormen auszusprechen, und das höchste ordentliche Gericht vereinheitlicht dann die Rechtsprechung. Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird also nur im Rahmen der ordentlichen Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte und -verfahren ausgeübt.15 Diese Kontrollart ist in den Vereinigten Staaten von Amerika verwirklicht und wird dort heute noch praktiziert.16
Die liechtensteinische Verfassung in Art. 104 Abs. 2 und in deren Aus
führung das Staatsgerichtshofgesetz folgen dem monopolisierten Modell der Normenkontrolle, das seinen Ursprung in Osterreich und der dama
ligen Tschechoslowakei hat. Es wird aus diesem Grund gelegentlich auch
"österreichisches System" genannt.17 Es überträgt die Kontrolle der Ver
fassungsmässigkeit der Gesetze und Verordnungen einem einzigen in der Verfassungsrechtsprechung spezialisierten Gericht, das sich klar und ein
deutig gegenüber den verschiedenen anderen ordentlichen Gerichten ab
grenzt und abhebt.18 Das Prüfungsrecht mit Verwerfungsbefugnis (Kas
sationsbefugnis), das heisst die Prüfung der Verfassungsmässigkeit von Gesetzen und der Gesetzmässigkeit der Regierungsverordnungen und de
ren allfällige Kassation ist beim Staatsgerichtshof zentralisiert.19 Im Schrifttum ist in diesem Zusammenhang von "Monopolisierung", "Kon
zentrierung" oder "Zentralisierung" der Normenkontrolle die Rede.20
15 Andreas Auer, Die schweizerische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 16.
16 Mauro Cappelletti/Theodor Ritterspach, Die gerichtliche Kontrolle der Verfassungs
mässigkeit der Gesetze in rechtsvergleichender Betrachtung, S. 82; Alexander v. Brü nn
eck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, S. 28; Klaus Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 3/Rdnr. 2 m it weiteren Nachweisen.
17 So Mauro Cappelletti/Theodor Ritterspach, Die gerichtliche Kontrolle der Verfassungs
mässigkeit der Gesetze in rechtsvergleichender Betrachtung, S. 82; siehe auch Herbert Haller, Die Prüfung von Gesetzen, S. 1 ff. und 61 ff.; Alexander v. B rünneck, Verfas
sungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, S. 29. In bezug auf das Institut der Verfassungsbeschwerde geht die liechtensteinische Regelung über das österreichische Vorbild hinaus, siehe dazu vorne S. 50 und hinten S. 109 ff.; vgl. dazu auch Gerard Bat-liner, Die liechtensteinische Rechtsordnung und die Europäische Menschenrechtskon
vention, S. 91,104, 111 ff., und in Anlehnung an ihn Wolfram Höfling, Die liechtenstei
nische Grundrechtsordnung, S. 33.
18 Andreas Auer, Die schweizerische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 16. Zum System der monopolisierten (konzentrierten) Normenkontrolle siehe die Art. 17, 19 und 21 des noch nicht sanktionierten Staatsgerichtshof-Gesetzes.
19 So etwa StGH 1993/18 undl9, Urteil vom 16. Dezember 1993, LES 2/1994, S. 54 (58);
Ludwig Adamovich, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 136; Andreas Schurti, Das Verordnungsrecht der Regierung des Fürstentums Liechtenstein, S. 385, gebraucht den Terminus "Verwerfungskompetenz" oder "Verwerfungsmonopol".
20 Vgl. etwa Karl Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich, S. 161, und Ale
xander v. B rünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, S. 29.
Begriffsbestimmung und Normenkontrollsystem
Auf dieser Linie liegt auch die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes. Er spricht sich unmissverständlich für ein Prüfungsmonopol sowohl von Gesetzen als auch von Verordnungen aus, indem er die Normenkontrol
le ausschliesslich für sich in Anspruch nimmt. Darüber hat er nie Zweifel aufkommen lassen. In konstanter Rechtsprechung hat er in mehr oder we
niger gleichlautenden Formulierungen festgehalten, dass die Prüfung der Verfassungs- oder Gesetzmässigkeit von Rechtsvorschriften nach Art. 104 der Verfassung in Verbindung mit Art. 23 ff. StGHG in der "alleinigen"
Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes stehe und ausgeschlossen, dass den
"andern" Gerichten eine solche Prüfungskompetenz zukomme.21 Solche Klarstellungen trifft der Staatsgerichtshof, wenn er es für angezeigt er
achtet, seine "Stellung, Funktion und Zuständigkeit" gegenüber den
"an-21 Eine vergleichbare Formulierung findet sich in StGH 1980/7, Urteil vom 10. November 1980, LES 1982, S. 1 (2), und auch in StGH 1982/36, Gutachten vom 1. Dezember 1982, LES 4/1983 S. 107 (110), bzw. StGH 1981/17, Beschluss vom 10. Februar 1982, LES 1/1983, S.3 (4); vgl. auch StGH 1993/6, Urteil vom 23. November 1993, LES 2/1994, S. 41 (45); StGH 1993/18 und 19, Urteil vom 16. Dezember 1993, LES 2/1994, S. 54 (58), und aus der älteren Judikatur: StGH-Entscheidung vom 6. Oktober 1960, ELG 1955 bis 1961, S. 145 (148). Die Prüfungskompetenz der "andern/anderen" Gerichte hat der Staatsgerichtshof verneint und in der Folge davon Art. 28 Abs. 3 StGHG aufgehoben.
Siehe dazu StGH 1968/2, Entscheidung vom 12. Juni 1968, ELG 1967 bis 1972, S. 236 (238), und auch StGH 1985/11/V, Urteil vom 10. November 1987, LES 3/1988, S. 88 (89).
Aus dem gleichen Grund hat der Staatsgerichtshof auch Art. 28 Abs. 1 StGHG teilweise aufgehoben. Die Prüfungskompetenz gemäss Art. 104 Abs. 2 LV komme nicht nur hin
sichtlich der Gültigkeit von Gesetzen, sondern auch in bezug auf Verordnungen nur dem Staatsgerichtshof zu. Ein "Selbstprüfungsrecht" der Gerichte gegenüber Verordnungen schliesst er aus. Siehe dazu StGH 1993/4, Urteil vom 30. Oktober 1995, LES 2/1996, S. 41 (49). Vgl. dazu auch die Ausführungen zur Prüfung der Gültigkeit gehörig kundgemach
ter Gesetze und Verordnungen gemäss Art. 28 Abs. 1 StGHG hinten S. 224 ff. und 255 ff.
Auch der Regierung steht "keinerlei Kontrolle im legislatorischen Bereich" zu, soweit es um formelle Gesetze geht, so StGH 1995/30, Urteil vom 30. August 1996, LES 3/1997, S. 159 (161). In der deutschen Judikatur und Literatur ist anstelle von den "andern" oder
"ordentlichen" Gerichten von "Fachgerichten" die Rede. Wohl in Anlehnung an die deutsche Lehre und Judikatur (vgl. etwa Ekkehard Schumann, Bundesverfassungsge
richt, Grundgesetz und Zivilprozess, S. 184) verwendet Wolfram Höfling, Die liechten
steinische Grundrechtsordnung, S. 219, die Bezeichnung "Fachgerichte", denn in dem von ihm zitierten StGH 1991/14, Urteil vom 23. März 1993, LES 3/1993, S. 73 (76), wird dieser Ausdruck nicht gebraucht. Die Bezeichnung "Fachgerichtsbarkeit" ist in Deutschland nicht ohne Kritik geblieben. So Peter Badura in der Aussprache zum Thema
"Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen", in: VVDStRL 39 (1981), S. 160 f., dem Klaus Schiaich in seiner Antwort (S. 162) zustimmt, indem er zu verstehen gibt, dass er für sein Referat kein anderes zugkräftiges Pendant zur "Verfassungsgerichts
barkeit" gefunden und deshalb auf die "Misslichkeit" der Terminologie gar nicht hinge
wiesen habe. Im österreichischen Schrifttum wird der Verfassungsgerichtsbarkeit die
"ordentliche" Gerichtsbarkeit gegenübergestellt. Siehe etwa Ludwig Adamovich, Ver
fassungsgerichtsbarkeit und ordentliche Gerichtsbarkeit, und ders., Verfassungsgerichts
barkeit und Gesetzgebung, S. 137.
deren Staatsorganen", insbesondere den Gerichten und Verwaltungs
behörden, zu bestimmen und abzugrenzen.22 Dabei beruft er sich auf seine
"spezifischen, bedeutsamen Kompetenzen", um seine als "einzigem" oder
"oberstem" Verfassungsgericht ausschlaggebende Stellung für die Verfas
sungsordnung hervorzuheben.23 Es würde eine Schwächung des zentrali
sierten Normenkontrollsystems bedeuten, wenn ein anderes als das Ver
fassungsgericht die Prüfung von Gesetzen und Verordnungen vornehmen könnte. Darunter würde nicht nur die Wirksamkeit der Kontrolle, son
dern auch die Einheitlichkeit der Rechtsprechung leiden.24 Elemente einer solchen diffusen Normenkontrolle hatten noch die in der Zwischenzeit aufgehobenen Bestimmungen von Art. 28 Abs. 1 und 3 StGHG aufge
wiesen.25 Die Gefahr divergierender Entscheidungen wäre nicht von der Hand zu weisen gewesen, woduch die Homogenität sowie Konstanz der Verfassungsrechtsprechung hätte beeinträchtigt werden können. Es hatte nämlich in der Stammfassung des Staatsgerichtshofgesetzes eine konkur
rierende Zuständigkeit mit der Verwaltungsbeschwerdeinstanz bestan
den. Art. 28 Abs. 3 StGHG hatte sie gegenüber Verordnungen mit der glei
chen Prüfungs- und Kassationsbefugnis wie den Staatsgerichtshof aus
gestattet, so dass er diese Regelung als Verfassungsverstoss aufhob. Denn das Modell der in Art. 104 Abs. 2 der Verfassung zentralisierten Nor
menkontrolle will nach seiner Auffassung gerade verhindern, dass in Fragen der Verfassungs- und Gesetzmässigkeit von Verordnungen ein an
deres Gericht als der Staatsgerichtshof entscheidet. Auch auf Verord
nungsebene sollte den sich aus einer diffusen Normenkontrolle ergeben
den nachteiligen Folgen der Rechtsunsicherheit und Rechtszersplitterung entgegengewirkt werden.26
22 StGH 1985/11/V, Urteil vom 10. November 1987, LES 3/1988, S. 88 (89).
23 StGH 1983/5/V, Urteil vom 15. Dezember 1983, LES 3/1984, S. 68 (72) und StGH 1983/3, Beschluss vom 15. September 1983, LES 2/1984, S. 31.
24 Vgl. Ludwig Adamovich, Die Prüfung der Gesetze und Verordnungen durch den öster
reichischen Verfassungsgerichtshof, S. 111, und Hans Spanner, Die richterliche Prüfung von Gesetzen und Verordnungen, S. 76 f.; so auch Dieter Grimm, Probleme einer ei
genständigen Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, S. 171.
25 Ein Teil von Art. 28 Abs. 1 StGHG ist nach StGH 1993/4, Urteil vom 30. Oktober 1995, LES 2/1996, S. 41 (49) übrig geblieben. Zur Aufhebung von Art. 28 Abs. 3 StGHG vgl.
StGH 1968/2, Entscheidung vom 12. Juni 1968, ELG 1967 bis 1972, S. 236 (238).
26 Dieter Grimm, Probleme einer eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutsch
land, S. 172. Den Vorteil des zentralisierten Prüfungsrechtes streicht auch Helfried Pfei
fer, Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 524, heraus.
Begriffsbestimmung und Normenkontrollsystem
§ 4 Verfahrensarten