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Zusammenfassung des ersten Teils

II. I. Die Koinzidenz der räumlichen und zeitlichen Dimension von Deixis: ἥκω und οἴχομαι

2 Das Verb οἴχομαι

2.3 Stabiles Zeitverhältnis und zentrifugale Orientierung

Die stabile zentrifugale Orientierung der vom Verb ausgedrückten Bewegung fällt wie bei ἥκω auch in diesem Fall mit einem stabilen Zeitverhältnis SZ/BZ zusammen. Die beiden Merkmale sollen nun zusammen betrachtet werden, um die Relation zwischen der räumlichen und der zeitlichen Dimension zu definieren und das vom Verb vermittelte Konzept der

157Vgl. auch Beekes 2010: 1164. Beispiele von anderen Bewegungsverben, die im Partizip zusammen mit οἴχομαι vorkommen, sind: φεύγω, ἀποπέτομαι, προφέρω, πλέω, ἀπολείπω, φέρω, πρεσβεύω, ἄπειμι (aus LSJ s.v. οἴχομαι). Dass einige dieser Verben die Bewegungsart spezifizieren, spricht darüber hinaus für die allgemeine Bedeutung von οἴχομαι.

158Einige Beispiele: Men. Asp. 429-430 οἴχεται μὲν οὖν ὁ Χαιρέας / ἄξων. „Chaireas ist ihn also abholen gegangen.“; Men. Pk. 369-370 ἣ δ’οἴχεθ’ὡς τὸν γείτον’εὐθὺς δηλαδὴ / τὸν μοιχόν, „Offensichtlich ist sie sofort zum Nachbarn, zum Liebhaber gegangen,“; Men. Pk. 402-403 καὶ γὰρ οἴχεθ’ὡς τὴν Μυρρίνην, / τὴν γείτον’, „Ja, zu Myrrhine, der Nachbarin, ist sie hingegangen,“; Men. Sam. 453 διὰ τί Χρυσὶς οἴχετ’ἀπιοῦσ’, εἰπέ μοι. „Sag mir, wieso Chrysis weggegangen ist.“ In Men. As. 429-430 ist Chaireas nicht auf der Bühne, weil er den Arzt holt; in Men. Pk. 369-370 und in Men. Pk. 402-403 bezieht sich das Verb auf Glykera, die weggegangen ist; in Men. Sam. 453 möchte Moschion von Demea erfahren, wieso Chrysis weggegangen ist.

Dass es sich an diesen Stellen um echte Bewegungen handelt, wird durch das Verb ἄξων im ersten Beispiel und die räumlichen Komplemente ὡς τὸν γείτον’ und ὡς τὴν Μυρρίνην im zweiten und dritten deutlich. Im letzten Beispiel kommt neben οἴχομαι das Partizip eines Bewegungsverbs ἀπιοῦσ’ vor.

Bewegung näher zu beschreiben.

Aus der perfektiven Bedeutung von οἴχομαι folgt, dass die Bewegungszeit vor der Sprechzeit liegt, sie also der Relation SZnachBZ entspricht. Dementsprechend liegt die Durchführung der Bewegung sowohl zeitlich als auch räumlich außerhalb des Bereichs bzw.

des Referenzrahmens des Sprechers, aus seiner Perspektive ist ausschließlich die Abwesenheit der Figur festzustellen. Da die figure sich nicht mehr im (Aktions-)Bereich des Sprechers befindet, kann die abgeschlossene Bewegung nur als eine Entfernung interpretiert werden.

Mangels einer fundierten Hypothese zur Etymologie der Verbwurzel kann dieser Aspekt leider nicht weiterführend besprochen werden. Die bisher festgestellten Parallelen im Verhalten von οἴχομαι zu ἥκω lassen aber vermuten, dass auch bei οἴχομαι die stabile zeitliche Dimension für die stabile räumliche Beziehung zwischen figure und ground ausschlaggebend ist, weil ein festes Zeitverhältnis zwischen ihnen besteht, das sich in der räumlichen Dimension widerspiegeln könnte: Das Verb setzt in diesem Fall voraus, dass zur Sprechzeit keine Verbindung mehr zwischen figure und ground besteht und dass der Rückblick auf die Bewegung in Abwesenheit der figure stattfindet. Dies wird im folgenden Schema dargestellt:

Abbildung 12: Rückblick auf die Bewegung ohne die Teilnahme der figure

Die Stabilität der Orientierung hängt mit der Abwesenheit der figure zur aktuellen Sprechzeit zusammen. Sie steht darüber hinaus im Einklang mit der vom Verb fest ausgedrückten Zeitrelation SZnachBZ, die im Fall von οἴχομαι nicht aufzuheben ist.

Die Verteilung der Belege von οἴχομαι auf Personen und Modi spiegelt diesen

kontextgebundenen zeitlichen und räumlichen Charakter des Verbs wider: Hier fallen vor allem das Fehlen der Imperativformen und die fast absolute Beschränkung auf die dritte Person im Indikativ Präsens159 auf. Da sich ein Dialog zwischen dem Sprecher und dem Angesprochenen, d.h. einer ersten und einer zweiten Person, vollzieht, sind die an der Rede Beteiligten unbedingt voreinander anwesend. Sie können auf sich selbst nicht durch ein Verb Bezug nehmen, das sowohl ihre Anwesenheit als auch ihr Verhältnis zum gegenüber stehenden Ansprechpartner ausschließt. Im Fall der ersten beiden Personen würde das Verb bedeuten: 'Ich habe mich entfernt und nun bin ich weg' oder 'Du hast dich entfernt und nun bist du nicht (mehr) hier'. Solche Aussagen hätten innerhalb eines Dialogkontextes offensichtlich keinen Sinn. Da zwischen dem ground und der figure zur Sprechzeit aber keine Beziehung mehr besteht, kann οἴχομαι ausschließlich für die Bewegung der dritten Person angewendet werden. Der Hinweis auf die Entfernung und die Abwesenheit einer dritten Person ist im Unterschied zu den ersten beiden Personen aber sehr wohl ausdrückbar.160 Die fehlende Verwendung von οἴχομαι im Imperativ ist ebenfalls im Kontext der Sprechsituation zu erklären: Auch in diesem Fall hätte ein Befehl, der sich an eine abwesende Person richtet, keinen Sinn. Darüber hinaus ergäbe sich eine weitere Schwierigkeit, die im Fall von ἥκω bereits besprochen wurde: Während die perfektive Bedeutung des Verbs einen Bezug zur Vergangenheit herstellt, projiziert der Imperativ das Geschehen in die Zukunft.161

Die vom Verb stabil ausgedrückte Zeitrelation kann die diachron beobachtbare Zunahme der übertragenen Bedeutung von οἴχομαι erklären. Diesbezüglich soll das nächste Beispiel aus Menander näher betrachtet werden: An dieser Stelle ist die Interpretation von οἴχομαι im Sinne von 'ich bin ruiniert' derjenigen eines Bewegungsverbs vorzuziehen:

159Außerhalb der dritten Person ist das Verb nur selten belegt: Bis zum 4. Jh. vor Chr. sind nur insgesamt 26 Belege in der ersten Person Singular und Plural vorhanden und an diesen Stellen steht das Verb immer in der übertragenen Bedeutung 'ruiniert sein' oder 'gestorben sein'.

160Diese kontextabhängigen Einschränkungen kommen im Fall von ἥκω – trotz seiner mit οἴχομαι geteilten perfektiven Bedeutung – nicht vor: Die Anwesenheit einer Figur auf der Bühne kann durch ἥκω sowohl für die ersten beiden Personen (Sprecher und Angesprochene) als auch für die dritte ausgedrückt werden: In diesem Fall kann ἥκω uneingeschränkt angewendet werden.

161Für ἥκω ist eine Re-Interpretation der Imperativform ausgehend vom Kontext möglich. Der Modus Imperativ und der perfektive Aspekt ergänzen sich, weil der Imperativ eine Aufforderung zur schnellen und unmittelbaren Wieder-Annäherung ausdrückt (vgl. SS. 90-92). Darüber hinaus basiert der Ausdruck einer Aufforderung bei ἥκω auf dem gemeinsamen Referenzrahmen von Sprecher und Angesprochenem (innerhalb dieses Kontextes ground und figure); ein solcher gemeinsamer Bezugsrahmen ist im Fall von οἴχομαι hingegen ausgeschlossen.

(39)

εἶτ’ οὐκέτι θύουσ’ ἐξαπίνης, ἀλλ’ οἴχομαι /

eît' oukéti thúous' exapínēs all' oíchomai

dann nicht mehr opfern:PRS.IND.PL.3 plötzlich aber PRS.IND.SG.1

ἀπιὼν ἐγώ. τῆς δυσποτμίας.

apiòn egó. tês duspotmías.

weg_PRS.PTCP.N.SG ich:N DEF.GEN Unglück:GEN

„und plötzlich opfern sie nicht mehr, und ich – so ein Unglück! – gehe ruiniert weg.“ (Men.

Asp. 219-220)

Der Koch beklagt in diesen Versen die Widrigkeiten seiner Arbeit: Wird nicht geopfert, muss er wieder nach Hause gehen. Allein das Partizip ἀπιὼν reicht, um die Bewegung als eine Entfernung zu beschreiben. Οἴχομαι verweist auf die Folgen dieses Umstands für den Koch – er ist ruiniert. Die Deutung des Verbs als Bewegungsverb wird an dieser Stelle durch die perfektive Semantik verhindert, die, um eine Bewegung auszudrücken, unbedingt aufgehoben werden müsste. Das Vorkommen von οἴχομαι neben anderen Bewegungsverben ist nicht selten, obwohl das Verb an vielen Stellen die Bedeutung eines Bewegungsverbs erhält, vgl.

(38). Dieses häufige gemeinsame Vorkommen trägt vermutlich zum semantischen Wandel von οἴχομαι bei: Da der Hinweis auf eine Bewegung infolge des perfektiven Sinns nicht so stark ist und das Verb sich dem Status eines Zustandsverbs nähert – übrigens auch für seine syntaktische Konfiguration –, dient die Kombination mit einem weiteren Bewegungsverb dazu, den Aspekt der Bewegung zu verdeutlichen. Für den Fall, dass das Verb aber alleine, ohne verstärkendes zweites verbales Element vorkommt, wird eine Bewegung wesentlich weniger deutlich ausgedrückt. Dies kann dazu führen, dass das Verb schließlich häufiger im übertragenen Sinn verwendet wird und so eine weitere Bedeutung ausprägt.162

3 Zusammenfassung

Die in diesem Kapitel durchgeführte Analyse hat für ἥκω und οἴχομαι zur Feststellung teilweise ähnlicher Ergebnisse geführt: Beide Verben codieren stabile räumliche Verhältnisse der figure zum ground – das erste Verb ist zentripetal und das zweite zentrifugal orientiert.

Die stabilen räumlich-deiktischen Orientierungen der Verben passen, lässt man die Art der

162Eng verbunden mit dem perfektiven zeitlichen Charakter von οἴχομαι und mit dem Verlust seiner Eigenständigkeit als Verb ist möglicherweise auch der Gebrauch des Verbs in Zusammenhang mit einem anderen Verb im Partizip: In diesem Fall modifiziert οἴχομαι die Bedeutung des Partizips in Richtung einer Spezifizierung des zeitlichen Ablaufes der von ihm ausgedrückten Handlung (vgl. Kühner & Gerth 1904: 63-66). Dieser Gebrauch zählt als ein Grammatikalisierungsphänomen (für eine Definition vgl. SS. 359 f.) und unterscheidet οἴχομαι vom ebenfalls perfektiv charakterisierten Verb ἥκω.

Bewegung und die Präzisierung ihrer Bahn unbeachtet, typologisch gut zusammen (vgl. die Definition von Botne auf S. 12). Die Tatsache, dass die Verben mit fortschreitender Zeit seltener gebraucht werden, stellt einen weiteren wichtigen Aspekt dar, der in Bezug auf die vorhandene Typologie über Deixis bei Bewegungsverben berücksichtigt werden muss. Von der stabilen Orientierung der Verben ausgehend wäre eher zu erwarten, dass deiktisch charakterisierte Verben häufig gebraucht werden und zum Grundwortschatz gehören. Sowohl ἥκω als auch οἴχομαι gehören aber – trotz ihrer stabilen Orientierung und ihrer unspezifischen Bedeutung – nicht zu diesem Typ. Im Vergleich zu den anderen beiden allgemeinen Bewegungsverben (εἶμι und ἔρχομαι), die im nächsten Kapitel besprochen werden, werden sie nur selten verwendet und geraten allmählich ganz außer Gebrauch.

Ein wichtigeres und konstanteres Charakteristikum für beide Verben stellt ihr perfektiver Sinn dar: Er spiegelt sich in den Erfordernissen im Satzbau wider und führt zu einer Annäherung dieser Verben an die Semantik von Zustandsverben, in dem Sinne, dass beide Verben aufgrund ihrer zeitlichen Bedingtheit einer niedriger Stufe des Gradienten bzgl.

des Merkmals Dynamizität zuzuordnen sind. Grundlegend scheint sowohl für ἥκω als auch für οἴχομαι neben der räumlichen die zeitliche Dimension zu sein, da beide Verben ein stabiles zeitliches Verhältnis SZnachBZ ausdrücken: Die Abgeschlossenheit der Bewegung codiert eine nicht-modifizierbare, sowohl räumliche als auch zeitliche Relation zwischen ground und figure. Räumlich-deiktische Aspekte stehen im Einklang mit dem von den Verben ausgedrückten Zeitverhältnis SZ/BZ, das kontextgebunden zu verstehen ist. Die Verteilung der Verbformen auf Personen und Modi spiegelt diesen kontextabhängigen Charakter der Verben wider. Die für die zwei untersuchten Kontexte belegten Formen werden stark von pragmatischen Erfordernissen in der Sprechsituation bestimmt. Beide Verben kommen bevorzugt im Präsensstamm und im Indikativ vor und sind entweder nur selten (ἥκω) oder gar nicht (οἴχομαι) im Imperativ belegt.

Während ἥκω und οἴχομαι bezüglich ihrer die perfektiven Bedeutung und ihrem stabilen Verhältnis zur origo synchron zusammen betrachtet werden können, ist aus einer diachronen Perspektive ein Unterschied festzustellen: Im Vergleich zum homerischen ἵκω lässt sich für das in der klassischen Zeit belegte ἥκω eine höhere Einstufung im Dynamizitätskontinuum und damit eine stärkere Nähe zur Gruppe der allgemeinen Bewegungsverben erkennen, während οἴχομαι allmählich zur Annahme einer übertragenen Bedeutung tendiert, d.h. zu einer niedrigeren Einstufung auf demselben Gradienten. Trotz des

in dieser Untersuchung nachgewiesenen parallelen Verhältnisses bezüglich des Ausdrucks der räumlichen und zeitlichen Domänen einer Bewegung divergieren die beiden Verben in ihrer diachronen semantischen Entwicklung. Langfristig wird diese Divergenz aber aufgehoben, weil beide Verben allmählich außer Gebrauch geraten.

II. II. Basic motion verbs im Suppletionsverhältnis: εἶμι