• Keine Ergebnisse gefunden

I. II Auswahlkriterien der allgemeinen Bewegungsverben

3 Nicht-räumliche Analysekriterien

3.4 Die Fokussierung der Bewegungsphasen

In diesem Abschnitt wird eine weitere Komponente der Semantik in der Verwendung der Bewegungsverben diskutiert, die bereits teilweise bei der Darstellung des dritten Analysekontextes – der Kopplung von Interrogativadverb und Bewegungsverb – eingeführt wurde (vgl. SS. 35-37). Hier wird dieser Aspekt näher erörtert. Es gibt Kontexte bzw.

Situationen, in denen die Auswahl des Bewegungsverbs nicht durch räumlich-deiktische Kriterien, sondern durch solche, die zur Bestimmung der zeitlichen Dimension dienen, gesteuert wird: Die Fokussierung verschiedener Momente des Bewegungsverlaufs erweist sich beispielsweise dann als besonders hilfreich, wenn zwischen dem ersten und dem zweiten Sprachtypus unterschieden werden soll. Obwohl auch in den Sprachen des zweiten Typs Paare von gegensätzlich orientierten Bewegungsverben vorhanden sind, kann ihre räumlich-deiktische Verwendung – besonders außerhalb der bereits besprochenen prototypischen oppositionellen Kontexte – fehlen und ihre Auswahl auf die zeitliche Dimension der Handlung zurückgeführt werden. Zu dieser mittleren Gruppe gehören viele Sprachen, die die zeitliche Einteilung der Bewegung auf unterschiedliche Weise berücksichtigen. Laut Ricca (1993) sind diese Verwendungen von den unterschiedlichen Handlungsabläufen bzw.

Aktionsarten (für eine Definition vgl. unten) der Verblexeme abhängig. Die zeitliche Dimension der Bewegung ist z.B. im Deutschen häufig entscheidend für die Auswahl der allgemeinen Bewegungsverben und in zahlreichen Kontexten deshalb den räumlich-deiktischen Kriterien überlegen:

(19) [on the telephone. A. is at home]

A.: Hello Bill, why aren't Charles and you here with us?

B.: we just MOVE to your place, but Charles fell down and twisted his ankle, so I had to take him to the hospital.

A.: I'm very sorry! Did it really happen while you MOVE here?

dt. Ist das tatsächlich passiert, als ihr auf dem Weg/unterwegs hierher wart?

(20) He MOVE towards us [at this very moment]

dt. Er kommt/geht auf uns zu

(21) [asking for information] Please, could you tell me how (I could) MOVE to the station?

dt. Können Sie mir sagen, wie ich zum Bahnhof komme?

(Ricca 1993: 82-84) Im Beispiel (21) deutet kommen eine Bewegung an, deren Zielpunkt eine besondere Relevanz hat, so als ob der Sprecher sich bereits am Ziel glaubte.75 Aber nach räumlich-deiktischen Parametern handelt es sich in dieser Situation um eine Bewegung des Sprechers, die ihn von seinem vormaligen Standort wegführt. Dementsprechend wäre bei einer überwiegend deiktischen Sprache wie dem Deutschen die Auswahl des I-Verbs gehen zu erwarten. Hier ist die Berücksichtigung des temporalen Ablaufes der beschriebenen Situation im Vergleich zum räumlichen Rahmen bedeutungsvoller und das V-Verb kommen wird entgegen seiner üblichen räumlichen Referenz auf die origo angewendet, weil es als wichtigsten Moment des Bewegungsablaufes die Endphase fokussiert. Als Kontrast zum ersten Typ kann dem Deutschen eine Sprache des zweiten Typs, hier Italienisch, gegenübergestellt werden: Im Italienischen wäre infolge der Raumkonzeption entweder das I-Verb zu erwarten (it. Come faccio ad andare in stazione?), oder es würde ein Verb wie arrivare verwendet, welches die Endphase der Bewegung fokussiert (Come arrivo in stazione?). Im Falle einer Auskunft über den Weg zum Bahnhof würde das V-Verb im Italienischen hingegen nicht verwendet werden (*Come vengo in stazione?), weil seine Verwendung in dieser Sprache stärker von der räumlichen Deixis geprägt ist.76 Das kommentierte Beispiel zeigt hingegen, dass das deutsche Verb kommen zur Fokussierung des Ziels einer Bewegung und ihrer Endphase genutzt werden kann. Auch aus den anderen oben vorgelegten Beispielen wird diese Eigenschaft des Verbs ersichtlich: Im Beispiel (19) wird die Bewegung in ihrem Verlauf erfasst, das Bewegungsziel wird aber aufgrund eines Unfalls nicht erreicht. Eine vollkommen deiktische Sprache würde sich nach räumlich-deiktischen Parametern für das V-Verb (it. È davvero successo, mentre venivate / stavate venendo qui?) oder – im Fall der gegensätzlichen Orientierung – für das I-Verb (it. È davvero successo, mentre andavate là?) entscheiden. Die sprachliche Codierung im Deutschen hingegen konzipiert die Situation ohne das Erreichen des Bewegungsziels, da die Bewegung unterbrochen wurde; das V-Verb, das normalerweise den Fokus auf die

75 Hier verwendet Ricca die Bezeichnung telisch, um den Charakter des Verbs kommen im Deutschen zu beschreiben. Die Definition und Beschreibung des Begriffs erfolgt im nächsten Kapitel in Bezug auf das Griechische (vgl. SS. 65-68).

76 Die Äußerung eines solchen Satzes ist nur dann möglich, wenn die figure die Anwesenheit des ground am Bahnhof zu seiner Bewegungszeit voraussetzt. In diesem Fall würde es sich um eine Bewegung in Richtung des ground handeln (vgl. SS. 38-41).

Endphase der Bewegung setzt, wird vermieden und an seiner Stelle ein periphrastischer neutraler Ausdruck vorgezogen. Auch im vorgelegten Beispiel (20) unterscheidet die Auswahl von zugehen oder kommen zwei Zeitstufen der Bewegung: Das V-Verb deutet auf das Ziel der Bewegung hin und sein Gebrauch folgt deiktischen Parametern, während das Kompositum des I-Verbs neutral angewendet wird und den Verlauf oder den Ausgangsmoment der Bewegung zur Sprechzeit unterstreicht.77

Die oben besprochenen Beispiele zeigen, dass die räumliche Orientierung der Verblexeme zugunsten einer Fokussierung der Bewegungsphase in den Hintergrund treten kann. Deshalb handelt es sich hier um einen Aspekt, der zusammen mit der Intentionalität der Bewegung und der Agentivität des Subjektes neben räumlicher Deixis in die Analyse der Auswahl der griechischen Bewegungsverben integriert werden sollte.

Um die Berücksichtigung der Bewegungsphasen bei den allgemeinen Bewegungsverben zu beschreiben, verwendet Fillmore die Begriffe goal-oriented verb und source-oriented verb (Fillmore 1983: 220), abhängig davon, ob das Verb das Ziel oder die Quelle der Bewegung fokussiert: Ein Verb kann – unabhängig von einer Raumreferenz zum Sprecher – unterschiedliche Momente einer Bewegung hervorheben, nämlich die Quelle, den Weg oder das Ziel, d.h. die Anfangs-, Mittel- oder Endphase. Das jeweilige Stadium des Bewegungsverlaufs kann durch zusätzliche Raumangaben ausgedrückt werden (z.B.

Adverbien, prepositional phrases usw.). Fillmore bezieht sich auf das Englische und verbindet die Phasenfokussierung der allgemeinen Bewegungsverben mit ihrer zentripetalen bzw.

zentrifugalen Orientierung. Um die Eigenschaft goal-oriented verb des V-Verbs und source-oriented verb des I-Verbs darzustellen, nutzt Fillmore das folgende Beispiel: Die Antwort on midnight auf die Fragen When are you coming? und When are you going? entspricht im ersten Fall dem zeitlichen Ziel- bzw. Endpunkt der Bewegung, im zweiten Fall ihrem Ausgangsmoment.78

Die Überprüfung dieses Aspektes bereitet bei den griechischen Bewegungsverben allerdings einige Schwierigkeiten: Weil Raumkomplemente nicht immer explizit ausgedrückt werden, aber häufig impliziert werden, scheint die Feststellung eines bevorzugten

77 In Di Meola 2003 wird ein ähnlich kontrastives Beispiel vorgelegt: Das neue Institut geht nach Berlin vs.

Das neue Institut kommt nach Berlin. Auch hier rücken unterschiedliche Bewegungsphasen in den Vordergrund: Es steht jeweils der Ausgangs- oder der Zielpunkt im Fokus. Der Bezug auf die Position des Sprechers ist für die Auswahl eines Verbs nicht unbedingt entscheidend.

78 An diesem Beispiel wird die enge Beziehung zwischen räumlicher und zeitlicher Dimension einer Bewegung erneut deutlich.

Vorkommens der Bewegungsverben mit Quellen- bzw. Zielangaben nicht angebracht zu sein.79 Für die Feststellung einer Phasenfokussierung bei Bewegungsverben kann jedoch die Frage nach dem Ausgangs- oder Zielpunkt einer Bewegung hilfreich sein, wie es der dritte bereits besprochene prototypische Kontext vorgibt: Hier sind bereits einige Rauminformationen vorhanden, weil die Bewegungsverben mit räumlichen Interrogativadverbien gekoppelt werden, die sich gleichzeitig auf die verschiedenen Momente einer Bewegung beziehen (vgl. Quelle-Weg-Ziel-Schema und die Übereinstimmung mit dem zeitlichen Bewegungsablauf). In solch einem Kontext kann entweder eine stabile deiktische Verwendung der Verben festgestellt, oder aber ihre Präferenz für eine bestimmte Kopplung sicherer identifiziert werden. Wegen der starken Orientierung des Kontextes wird es in diesem zweiten Fall möglich, zu unterscheiden, ob zeitliche oder räumliche Kriterien die Auswahl des Verbs bestimmt haben.

79 An dieser Stelle soll darüber hinaus darauf hingewiesen werden, dass das Ziel einer Bewegung sprachübergreifend häufiger ausgedrückt zu werden scheint als ihr Ausgangspunkt (Stefanowitsch & Rohde 2004).