• Keine Ergebnisse gefunden

I. II Auswahlkriterien der allgemeinen Bewegungsverben

2 Grundlegende Oppositionen: Prototypische Kontexte für die Identifizierung räumlich-deiktischer Relationen

2.1 Die Beschreibung einer Bewegung

Die erste typische grundlegende Opposition ist die Beschreibung einer Bewegung aus der Perspektive der origo, d.h. des Standorts des Sprechers. Sprecher und Angesprochener teilen einen gemeinsamen Standort, von dem aus sie die Bewegung einer dritten Person beobachten und beschreiben: In (1a) richtet sich die Bewegung auf sie zu, in (1b) auf einen von ihnen entfernten Ort.

52 Die für diese Arbeit ausschlaggebenden Kontexte werden nach dem Fragebogen von Ricca (1993) wiedergegeben. Die Bewegungsverben go und come sind in dem Musterbeispiel durch MOVE ersetzt worden. In diesem Fall bezieht sich MOVE nicht auf die früher besprochenen conceptual functions von Jackendoff (vgl. SS. 5-8), sondern es wird verwendet, um die Informanten in ihrer Verbauswahl nicht zu beeinflussen.

(1a) A.: Look! It's John. Es wird erwartet, dass eine deiktische Sprache in den zwei Dialogsituationen zwei unterschiedliche Verblexeme verwendet, welche die unterschiedliche Referenz zur origo codieren und ausdrücken: Zum Ausdruck einer Annäherung zur origo, wie im ersten Beispiel, wird ein sogenanntes venitive verb (V-Verb) angewendet; für den gegensätzlichen Fall, dass das Ziel der Bewegung nicht mit dem Standort des Sprechers übereinstimmt, ist hingegen von einem itive verb (I-Verb) die Rede.53 Die zwei Begriffe itive vs. venitive sind aus den lateinischen allgemeinen Bewegungsverben eo und venio abgeleitet und können verwendet werden,54 um die Bewegungsverben zu bezeichnen, falls ihre Verwendung nach deiktischen Kriterien erfolgt. Die Auswahl eines der zwei Verben entspricht dem unterschiedlichen Verhältnis, das jedes Verb zwischen figure und ground (d.h. der origo) aufbaut. Einige Beispiele von Codierung aus deiktischen oder überwiegend deiktischen Sprachen stellen das unterschiedliche Verhältnis des sich bewegenden Objektes zum Sprecher dar, indem diese Relation von zwei verschiedenen Verblexemen ausgedrückt wird:55

(2a) span. Está viniendo hacia

53 Auch eine ähnliche Konstruktion, in der die zweite Person die figure darstellt, wäre hier denkbar.

54 Die üblicherweise verwendeten Formen dieser Termini sind andative und venitive (vgl. Bybee, Pagliuca &

Perkins 1991: 53-55; Heine & Kuteva 2002: 70 f., 155 f.). Da andative auf das italienische Verb andare zurückzuführen ist, wurde die aus dem Latein abgeleitete Bezeichnung itive vorgezogen. Die am häufigsten verwendeten Bezeichnungen sind aber diejenigen vom zentripetalen und zentrifugalen Verb. Im Gegensatz zu den Bezeichnungen andative bzw. itive und venitive handelt es sich hier um eine restriktive Definition, weil die Relation zur origo symmetrisch konzipiert ist: Bewegung-zur-origo vs. Bewegung-von-origo-weg. Durch itive wird hingegen auch die Bewegung-nicht-zur-origo, d.h. eine neutrale deiktische Verwendung erfasst (Fillmore 1975; Ricca 1993: 16). Nach dieser zweiten Bezeichnung muss die Semantik des Verbpaares nicht ausschließlich als gegensätzlich gedacht werden. Eine Opposition zwischen ihnen kann angelegt sein, muss aber nicht in allen Kontexten vorkommen, vgl. Wilkins & Hill 1995; Goddard 1997; Di Meola 2003.

55 Hier werden nur wenige Beispiele aus den Sprachen des ersten und zweiten Typs vorgelegt. Der Unterschied zwischen den ersten beiden Sprachtypen wird auf SS. 37-49 näher besprochen.

Die Sprachen der ersten zwei Typen weisen eine deutliche Opposition bei der Auswahl eines allgemeinen Bewegungsverbs in den beiden Dialogsituationen auf. Sie unterscheiden deutlich zwei Lexeme, ein V-Verb und ein I-Verb.56 Der Sprecher stellt den konstanten Referenzpunkt bzw. ground für den Ausdruck der Bewegung dar und die sprachliche Codierung berücksichtigt das sich verändernde Verhältnis zwischen ground und figure mittels der Auswahl des Bewegungsverbs.

Im Unterschied zu diesen ersten zwei Typen benutzen die Sprachen aus der dritten Gruppe zum Ausdruck beider Bewegungsrichtungen dasselbe Verblexem:

(3a) russ. On idët k nam (3b) On idët k tomu domu

ukr. Vin ide do nas Vin ide do togo budynku

lit. Jis eina link mūsų Jis eina link to namo

(Ricca 1993: 85) In solchen Beispielen kann weder von einem V-Verb noch von einem I-Verb die Rede sein:

Die unterschiedliche Beziehung zwischen dem Sprecher (d.h. dem ground) und der sich bewegenden Figur wird nicht unterschiedlich codiert und deiktische Parameter spielen für die Auswahl des Verbs keine Rolle. Im Fall dieser Sprachen ist von einem neutralen Gebrauch des jeweiligen Bewegungsverbs in Bezug auf die räumlich-deiktische Dimension die Rede.57

In einem solchen Kontext, wie er auch bei Ricca besprochen wird – ist die Bewegung einer dritten Person beschrieben, deren Durchführung zur Sprechzeit stattfindet, d.h. die coding time stimmt mit der reference time überein. Dieser Fall ist auch auf eine Bewegung eines Angesprochenen auf einen Sprecher zu bzw. die Bewegung eines Sprechers auf einen Angesprochenen zu übertragbar. Darüber hinaus kann die zeitliche Dimension zwischen Beschreibung und Durchführung der Bewegung außerhalb der Gegenwart in der Zukunft oder der Vergangenheit liegen.58 Bei solchen Erweiterungen des ersten Kontextes sind eine klare

56 Laut Ricca (1993: 83) ist im Deutschen für den zentripetalen Kontext die Auswahl von kommen häufiger.

Eine mögliche Realisierung kann auch durch das Kompositum zugehen erfolgen: Er geht auf uns zu. Für eine nähere Besprechung der deutschen Verwendungen vgl. SS. 46-49.

57 Für die Klassifizierung der slawischen Sprachen als nicht-deiktische Sprachen sei insbesondere auf Breu 2000, Grenoble 1995: 365-370, Cardelli 2004: 53, 64 und Slobin 2004: 8 verwiesen.

Laut den Ergebnissen aus Riccas Analyse, welche andere, speziellere Kontexte für diese letzte Gruppe von Sprachen überprüft, ist es im Falle des dritten Typs der Faktor Aktionsart, der Einfluss auf die Auswahl des Bewegungsverbs hat (Ricca 1993: 85 f. und Breu 2000). Aktionsart ist eine Kategorie des Verbs, welche die Verlaufsweise und die innere zeitliche Abstufung der Handlung definiert. Zu diesen kann man z.B die Telizität des Satzes oder die Vollendung bzw. die Nichtvollendung der Handlung zählen. Der Begriff 'Aktionsart' bezieht sich auf die zeitliche Dimension der Handlung und wird im nächsten Kapitel unter Bezugnahme auf die griechischen Bewegungsverben ausführlicherer definiert und besprochen (vgl. SS. 65-68).

58 Vgl. SS. 22-24 für die verschiedenen Referenzrahmen (Deixis ad oculos und Deixis am phantasma) und SS.

69-71 für die nähere Besprechung der methodischen Einschränkungen, welche eine Beschreibung in der

Identifizierung der origo des Sprechers und die Möglichkeit einer Feststellung aus ko-textuellen bzw. konko-textuellen Angaben der sich verändernden Relation – im Sinne einer Annäherung bzw. Entfernung – zwischen den jeweiligen figure und ground zwingend erforderlich.