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Zusammenfassung des ersten Teils

II. Basic motion verbs im Suppletionsverhältnis: εἶμι und ἔρχομαι

1 Etymologie und suppletive Beleglage

Εἶμι und ἔρχομαι werden in diesem Kapitel gemeinsam analysiert, weil die beiden Verben schon bei Homer in einem Suppletionsverhältnis zueinander stehen. Létoublon (1985) hat entgegen der Auffassung von Bloch (1940) – der das Suppletionsverhältnis zwischen εἶμι und ἔρχομαι für die homerische Sprache aufgrund der gegensätzlichen Orientierung der Verben bestritten hat – die Suppletion zwischen den beiden Verben bei Homer nachgewiesen.

Létoublons Auffassung beruht auf Übereinstimmungen in der Verwendung der beiden Verben – sie teilen z.B. gemeinsame Subjekte und stehen in einer ähnlichen syntaktischen Umgebung – und auf einem generellen Mangel an merklichen Gebrauchsunterschieden zwischen ihnen. : In Folgenden soll auf die diachrone Entstehung dieses Suppletionsverhältnisses eingegangen werden. Wenn die von Strunk (1977) angenommenen Voraussetzungen für die Entstehung von Suppletion überprüft werden (vgl. SS. 54 f.), zeigt sich, dass bei Homer eine komplementäre Verteilung zwischen den Verbformen im Paradigma noch nicht vollkommen vollzogen ist:

Einige Formen der beiden Verben (Partizip und Infinitiv) überschneiden sich ohne merklichen funktionalen Unterschied. Hierbei handelt es sich allerdings um archaische Verwendungen:

Tendenziell vervollständigt sich das Suppletionsverhältnis zwischen εἶμι und ἔρχομαι163. Dieser Prozess gilt in der klassischen Zeit als abgeschlossen.

Etymologien als auch die von ihnen abgeleiteten Formen im Griechischen und die Entsprechung der Wurzeln in anderen Sprachen zeigen, dass die beiden Verben eine sehr allgemeine Bedeutung im Sinne von 'Fortbewegung' haben, die weder in ihrer Art und Geschwindigkeit, noch in ihrer Bahn präzisiert wird. Die Wurzel von εἶμι ist sowohl im Griechischen als auch im Indogermanischen ausschließlich im Präsensstamm belegt, d.h. sie bildete keinen Aorist. Die Wurzel von ἔρχομαι kommt im Griechischen nur im Präsensstamm vor und keine der vorgeschlagenen Etymologien ist befriedigend. Der Aoriststamm ἦλθον164 ist ebenfalls defektiv und seine Etymologie in der Forschung umstritten (vgl. SS. 55 f.).

163Diese Fälle werden im dritten Teil der Arbeit näher besprochen, weil sie den Entstehungsprozess des Suppletionsverhältnisses und die diachronen Veränderungen in der Gruppe der Bewegungsverben erklären können.

164Die ursprüngliche Form des Aorists ist ἤλυθον, die dorische Form ist ἦνθον (Schwyzer 1939: 213). Aus dieser Wurzel gehen auch das homerische Perfekt εἰλήλουθα, das dem attischen ἐλήλυθα entspricht, und das Futur ἐλεύσομαι hervor. Vgl. DELG: 337; Beekes 2010: 410.

Anhand der folgenden Tabellen, welche die Gesamtbelege von εἶμι und ἔρχομαι bei verschiedenen Autoren zusammenfassen, kann die Verteilung der Formen beider allgemeiner Bewegungsverben näher besprochen werden. Für ἔρχομαι enthält die Tabelle die Belege des Aorist-, Perfekt- und Futurstammes, die auf die Wurzel ἐλθ- zurückzuführen sind: Das Suppletionsverhältis zwischen den beiden Wurzeln im Präsens und Aorist ist diachron stabil und auch im Neugriechischen erhalten. Für εἶμι werden die Formen des Indikativs Imperfekt auch getrennt angegeben, da die Formen aus dem Präsensstamm gebildet werden:

Präsensstamm Gesamt Ind. Impf.

Homer 520 91

Lyriker 32

-Historiker 485 107

Tragiker 368 12

Aristophanes 141 1

Platon 427 31

Menander 6

-Theophrastos 16

-LXX 8 2

NT -

-Tabelle 10: Beleglage von εἶμι

Präsensstamm Aoriststamm Perfektstamm Futurstamm

Homer 137 588 28 40

Lyriker 16 90 -

-Historiker 115 812 9 2

Tragiker 78 664 22 4

Aristophanes 30 143 11

-Platon 68 238 18

-Menander 24 85 15

-Theophrastos 4 22 1

-LXX 237 811 5 29

NT 185 285 24 14

Tabelle 11: Beleglage von ἔρχομαι

Die Formen aus dem Präsensstamm von εἶμι sind bis in die klassische Zeit gut belegt, aber ab der hellenistischen Zeit ist ihr Gebrauch rückläufig: Zuerst wird die einfache Form, später auch die Komposita, seltener verwendet. Im NT sind nur noch einige sporadischen Formen der Komposita aus εἶμι belegt, das einfache Verb kommt nicht mehr vor. Bereits bei Homer tritt, wie das hier genutzte Corpus zeigt, sporadisch das morphologische Präsens εἶμι anstelle von ἐλεύσομαι als Futurform auf. In der klassischen Zeit findet diese Ersetzung dann regelmäßig statt (DELG: 337; Beekes 2010: 408 f.).

Die beiden Tabellen reichen nicht aus, um das komplexe Verhältnis zwischen den beiden Verben wiederzugeben, weil Suppletion nicht nur unter den Verbstämmen (d.h.

Präsens, Futur und Aorist) entsteht, sondern auch die einzelnen Modi im Präsensstamm betrifft. Schon bei Homer wird ἔρχομαι nur noch im Indikativ Präsens regelmäßig verwendet, in den anderen Modi treten bereits die Formen von εἶμι auf. In der klassischen Zeit setzt sich diese Tendenz fort, sodass es sich für ἔρχομαι im Präsens außerhalb des Indikativs um residuale Belege handelt: Bei Thukydides z.B. werden Konjunktiv, Optativ, Partizip, Infinitiv und Imperativ von ἔρχομαι nicht verwendet; bei Platon ist der Konjunktiv insgesamt nur 3-mal, der Imperativ nur einmal und das Partizip nur 2-mal belegt. Im Indikativ Präsens hingegen sind sowohl die Formen des einfachen Verbs als auch die seiner Komposita – neben denjenigen von εἶμι und den entsprechenden Komposita – diachron gut belegt. Die Modus-Suppletion zwischen den Verben im Präsensstamm ist nach der klassischen Zeit rückläufig und ist in Verbindung zu dem Rückgang von εἶμι zu setzen: Die nicht-indikativen Formen des Präsensstammes, die Futurformen aus ἐλθ- werden ab der hellenistischen Zeit wieder zunehmend verwendet (Kölligan 2007: 168) und εἶμι tritt allmählich aus dem suppletiven Paradigma heraus.

Die folgende Tabelle stellt die Verteilung der beiden Verben per Modi bei Aristophanes und Platon dar:

Aristophanes Platon

Ind. εἶμι 12 (7%) Ind. Gesamt

25,4%

52 (10%) Ind. Gesamt 22,7%

Ind. ἔρχομαι 30 (17,4%) 68 (12,7%)

Konj. 12 (7%) 60 (11,4%)

Opt. 0 (0%) 5 (1%)

Impv. 89 (51,7%) 102 (19,3%)

Inf. 7 (4,1%) 105 (19,9%)

Ptz. 22 (12,8%) 134 (25,4%)

εἶμι 142 458

ἔρχομαι 30 68

Gesamt 172 526

Tabelle 12: Verteilung der Formen von εἶμι und ἔρχομαι per Modi im Präsensstamm bei Aristophanes und Platon

Verglichen mit der Verteilung der Belege per Modi bei ἥκω und οἴχομαι stehen εἶμι und ἔρχομαι seltener im Indikativ.165 Die Präferenz von εἶμι im Imperativ kann auf das häufigere Vorkommen des Imperativs in einer dramatischen Gattung wie der Komödie und in den platonischen Dialogen zurückgeführt werden. Darüber hinaus verliert die zweite Person Singular des Imperativs die verbale Funktion und wird häufig in idiomatischen Kontexten gebraucht (vgl. SS. 359-367, Appendix 1).

Sowohl εἶμι als auch ἔρχομαι bilden eine vollständige Reihe von Komposita mittels aller verfügbaren Präverben aus. Einzige Ausnahme bildet das Präverb ἐν-, das mit keinem der beiden Verben zusammentritt: Weil ἐν- ein statisches Präverb ist, kann es nicht in Zusammenhang mit Verben vorkommen, die eine Fortbewegung ausdrücken.166 In der Analyse werden auch die am häufigsten belegten Komposita der beiden Verben – diejenigen, die mittels der Präverben ἀπο-, εἰσ-, ἐκ- und προς- gebildet werden – berücksichtigt, um den Einfluss der Komposition auf die Auswahl der Verben zu bestimmen. Die Komposita-Bildung von εἶμι und ἔρχομαι wird gemeinsam mit den Komposita des Verbs βαίνω näher besprochen (vgl. SS. 149-154).

In der Analyse beider Verben wird zuerst die Orientierung der von ihnen ausgedrückten Bewegung überprüft. Dabei werden auch einige Beispiele aus den homerischen Texten besprochen. Sie erlauben, einerseits eine diachrone Perspektive einzunehmen und andererseits die Ergebnisse früherer Arbeiten kritisch zu kommentieren. Auch für εἶμι und

165Vgl. auch SS. 83 f. und SS. 93 f. für die deutlich sichtbaren Unterschiede in der Verteilung der Verbbelege nach Modi bei ἥκω und οἴχομαι: Bei beiden Verben war der Indikativ der am häufigsten verwendete Modus.

166Vgl. Létoublon 1985: 129 f.; dort wird das Kompositums ἐμβαίνω besprochen.

ἔρχομαι werden anschließend die von den Verben ausgedrückten Zeitrelationen SZ/BZ untersucht und auf die Ergebnisse der Analyse zur räumlichen Dimension der Bewegung bezogen.