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Zusammenfassung des ersten Teils

II. Basic motion verbs im Suppletionsverhältnis: εἶμι und ἔρχομαι

3 Das Verb ἔρχομαι

3.1.2 Diachrone Verteilung des Imperativs

Um das Ergebnis der Analyse der Belege aus Aristophanes zu präzisieren und einen eventuellen diachronen Wechsel in der Auswahl der Formen aufzuzeigen, wird die Orientierung von ἔρχομαι im Imperativ in diesem Abschnitt anhand der Angaben aus anderen Corpora (Homer, Tragiker) überprüft. Wie bereits anfänglich erwähnt, ist das Verb im Aoriststamm des Imperativs allgemein nur selten belegt: Bei Homer finden sich nur sechs Belege, bei den Historikern und bei Platon keine und auch bei den Tragikern sind insgesamt nur fünfundzwanzig Belege vorhanden. Die wenigen Stellen bei Homer sind allerdings aufschlussreich, weil das Verb sowohl auf eine Annäherung zur origo als auch eine Entfernung von ihr verweisen kann, wie aus den folgenden beiden Beispielen deutlich wird:

(55)

δαιμόνιε σχεδὸν ἐλθέ·

daimónie schedòn elthé;

Depp:VOK nah:ADV AOR.IMP.SG.2

„Du Depp, komm näher:“ (Hom. Il. 13.810) (56)

πρῶτα μὲν ἐς Πύλον ἐλθὲ καὶ εἴρεο

prôta mèn es Púlon elthè kaì eíreo

zuerst PTCL ALL P.:AKK AOR.IMP.SG.2 und fragen:PRS.IMP.SG.2 Νέστορα δῖον, / κεῖθεν δὲ Σπάρτηνδε παρὰ ξανθὸν

Néstora dîon, keîthen Spártēnde parà xanthòn

N.:AKK göttlich:AKK von dort PTCL nach_S.:AKK zu blond:AKK Μενέλαον·

Menélaon;

M.:AKK

„Zuerst gehe nach Pylos und frage den göttlichen Nestor und von dort dann nach Sparta zu dem blonden Menelaos;“ (Hom. Od. 1.284)

182Vgl. auch die Besprechung der Orientierung des Imperativs bei Homer im folgenden Abschnitt.

183Die Auswahl der Form erfolgt an dieser Stelle eher zeitbezogen als raumbezogen: Der Aorist weist darauf hin, dass die Bewegung der Wolke aus der Zielperspektive beobachtet wird. Für weitere Beispiele einer solcher Verwendung der Aoristformen von ἔρχομαι vgl. (114) und X. An. 7.3.7 in Fn. 260.

In (55) fordert Aias einen Troianer auf, näher zu kommen (σχεδὸν ἐλθέ), die Bewegung ist als zentripetal zu interpretieren. In (56) werden die Stationen der Reise von Telemachos aufgelistet: Er muss erst zu Nestor nach Pylos und anschließend zu Menelaos gehen, um Nachrichten über seinen Vater zu erhalten. In diesen Beispielen drückt dieselbe Verbform innerhalb einer Dialogsituation zwei unterschiedliche Relationen der figure zur origo aus, d.h.

die Form ist nicht stabil orientiert.184 Dieser Befund ist vor allem im Vergleich mit den Ergebnissen der Analyse bei Aristophanes interessant: Wenn dort eine Orientierung feststellbar war, drückte die Imperativform stabil eine zentripetale Bewegung aus.

Auch die Präsensformen des Imperativs ἔρχεο / ἔρχευ – es sind insgesamt noch 31 Belege bei Homer vorhanden185 – sind bezüglich räumlicher Deixis nicht spezifiziert: Zumeist wird der Imperativ Präsens zur Andeutung einer zentrifugalen Bewegung genutzt, allerdings sind auch einige wenige Beispiele vorhanden, in denen das Verb eine Annäherung zur origo ausdrückt. Die Doppelorientierung der Form ist auch in den folgenden Beispielen zu beobachten:

(57)

τόδε φάρμακον ἐσθλὸν ἔχων ἐς δώματα

tóde phármakon esthlòn échōn es dómata

DEM.AKK Mittel:AKK gut:AKK haben:PRS.PTCP.N.SG ALL Haus:AKK Κίρκης / ἔρχευ,

Kírkēs ércheu,

K.:GEN PRS.IMP.SG.2

„gehe mit diesem trefflichen Mittel ins Haus der Kirke,“ (Hom. Od. 10.287-288) (58)

φθέγγεο, μηδ’ ἀκέων ἐπ’ ἔμ’

phthéggeo, mēd' akéōn ep' ém'

reden:PRS.IMP.SG.2 NEG schweigend:ADJ.N ALL ich:AKK

ἔρχεο· τίπτε δέ σε χρεώ;

ércheo; típte se chreó?

PRS.IMP.SG.2 welches_denn:INT.N PTCL du:AKK Bedarf:N

„Rede und komm nicht schweigend zu mir. Wessen bedarfst du?“ (Hom. Il. 10.85)

In (57) gibt Hermes Odysseus ein wirksames Mittel gegen die Zauberei der Kirke, damit

184Eine zentrifugale Orientierung des Imperativs Aorist wird anhand der homerischen Belege sowohl von Létoublon (1985: 48-51) als auch von Kölligan (2007: 139 f.) ausgeschlossen. Ihrer Ansicht nach weist der Imperativ immer auf eine zentripetale Bewegung hin.

185Für die Besprechung der Überlappung des Imperativs Präsens von ἔρχομαι mit demjenigen von εἶμι bei Homer vgl. SS. 313-317.

dieser sie in ihrem Haus aufsuchen kann. In diesem Fall handelt es sich um eine zentrifugale Bewegung. In (58) ist die Bewegung hingegen zentripetal, wie das allative Komplement ἐπ’ἔμ’, das sich auf den Sprecher bezieht, nahe legt: Hier fordert Nestor Agamemnon auf, sich ihm zu nähern und zu äußern, was er von ihm möchte.186 Da die Präsensform des Imperativs von ἔρχομαι nach Homer bis in die klassische Zeit nicht mehr genutzt wird, ist ein Vergleich mit anderen Autoren unmöglich. Die Verwendung der anderen Modi des Verbs setzt zu späterer Zeit wieder ein.

Die Überprüfung der Orientierung der Formen bei Homer lässt eindeutig schlussfolgern, dass zu seiner Zeit sowohl die Aoristformen als auch die Präsensformen des Imperativs noch verwendet werden und dass beide keine stabile Bewegungsorientierung ausdrücken. Hierin liegt einer der wichtigsten Unterschiede zur Verwendung der Aoristform bei Aristophanes. Da dessen Corpus arm an Belegen im Imperativ ist, muss für die Analyse weiteres Material aus seiner Zeit herangezogen werden, in diesem Fall die Tragiker, um die Überprüfung dieses Kontextes zu vertiefen. Auch bei ihnen hat sich der Formenreichtum des Imperativs reduziert, nur die Aoristform ist noch vorhanden. Die Belege im Imperativ Aorist sind bei den Tragikern etwas zahlreicher im Vergleich zu denjenigen bei Homer und Aristophanes, insgesamt wird diese Form aber auch bei diesen Autoren selten verwendet; es gibt nur 25 Belege der Aoristform. Was die Tendenz zur Festlegung der Bewegungsorientierung als stabil zentripetal angeht, stimmen die Analyseergebnisse der Stellen aus den Tragikern mit denjenigen aus Aristophanes überein: Sie drücken immer eine Annäherung zur origo aus und es gibt keinen Beleg, für den die beschriebene Bewegung zentrifugal interpretiert werden kann.

Ausgehend von der bisher durchgeführten Analyse kann geschlussfolgert werden, dass der Imperativ Aorist diachron eine Spezialisierung als zentripetal orientierte Form erfahren hat. Allerdings muss auch für diese Belege stets der Kontext der Verwendung betrachtet werden. Denn die Imperativformen kommen sowohl bei Aristophanes als auch bei den Tragikern häufig bei Anrufungen eines Gottes durch den Chor oder eine andere Figur vor.

Aus den tragischen Texten können die folgenden Beispiele benannt werden: In E. El. 115 erbittet Elektra das Herbeikommen der Erinyen, in E. Or. 1300 wird Zeus und in S. OT 166 werden Artemis und Apollon gerufen. Das Verb scheint in diesen Kontexten besonders geeignet zu sein, eine zurückhaltende Aufforderung zu einer Bewegung innerhalb eines

186Für eine nähere Besprechung der an diesen Stellen vom Verb ausgedrückten zeitlichen Dimension der Bewegung vgl. SS. 314 f.

Gebets auszudrücken.187 Weil das Gebet meistens von einem Wunsch nach Anwesenheit bzw.

Beistand und der Bitte um Hilfe handelt, ist die Bewegungsrichtung demzufolge dem Standort der bittenden Person zugewandt.

Die überschaubare Anzahl der Belege bei Aristophanes ermöglicht eine ausführliche Analyse der einzelnen Kontexte. Zehn Belege unter den insgesamt sechzehn befinden sich in Chorliedern, in denen der Chor oder dessen Leiter einen Gott ruft: In Ar. Ach. 665 und 674 sowie in Ar. Ra. 674 und in Ar. Ra. 879 werden die Musen gerufen; in Ar. Th. 319 gibt es eine Anrufung des Zeus und in Ar. Ra. 326 eine des Dionysos. Außerhalb der Chorpartien finden sich Ar. Nu. 269, wo sich Sokrates an die Wolken wendet, und die schon zitierten Belege (50), in dem Trygaios Opora auffordert, sich ihm anzunähern und ihn zu küssen, (51) mit einer Anrufung des Poseidons und (52) der Artemis. In weiteren Beispielen werden zwar keine Götter adressiert, aber auch bei den folgenden Belegen stehen bittende Anrufungen im Fokus:

In Ar. Eq. 150 wird Agorakritos von einem Diener zu sich gerufen und seine Ankunft als die des Retters der Stadt gepriesen. In Ar. Eq. 1335 ruft die Figur des Volkes Agorakritos zu sich, nachdem sie von ihm „junggekocht“ worden ist: Das Volk ist ihm dankbar und begrüßt ihn feierlich. In allen hier besprochenen Belegen drücken die Imperativformen statt eines Befehls eine Bitte bzw. Einladung zur Bewegung aus.

Die diachrone Reduzierung der Imperativformen und die Eingrenzung ihres Vorkommens auf bestimmte Kontexte führt zu weiteren Fragen: Inwiefern ist die stabilisierte Orientierung der von ἔρχομαι ausgedrückten Bewegung – die nach Homer zu beobachten ist – eine Modifizierung bzw. Präzisierung der Semantik des Verbs? Oder hängt sie vom Gebrauch der Imperativform in einem bestimmten Kontextes ab, der eine exklusive Orientierung (in diesem Fall zentripetal) fordert?