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Stand der Forschung, methodischer Ansatz

2 Defektivität und Suppletionsverhältnis

Die auf Schmidt folgenden Arbeiten über die griechischen allgemeinen Bewegungsverben konzentrieren sich auf die Defektivität der Verbparadigmen und auf die Bestimmung eines Suppletionsverhältnisses unter den verschiedenen Verbstämmen. Die Defektivität des Paradigmas eines allgemeinen Bewegungsverbs ist kein Sonderfall der griechischen Sprache, sondern stellt eine Tendenz dieser Klasse von Verben in vielen indogermanischen Sprachen dar. Strunk (1977) hat sich z.B. mit der Defektivität einiger Verbstämme (darunter auch Bewegungsverben) in einigen indogermanischen Sprachen, besonders denjenigen der Ŗgveda befasst. Als Beispiel für moderne Sprachen können das Französische je vais:nous allons:j'irai oder das Englische go:went dienen, um nur einige der bekanntesten Fälle zu nennen. Die Defektivität innerhalb eines Paradigmas wird gewöhnlich auf die Selbständigkeit der indogermanischen Wurzeln zurückgeführt, welche ursprünglich unabhängig voneinander waren und sich erst später einzelsprachlich in einem Konjugationssystem bzw. Paradigma organisiert haben (Cuzzolin, Putzu & Ramat 2006: 11).

Die Begriffe 'Defektivität' und 'Suppletion' gelten nicht als synonym, auch wenn sie häufig miteinander verbunden sind bzw. gemeinsam verwendet werden. Defektivität bezeichnet ausschließlich die Unvollständigkeit innerhalb der Flexion eines Wortes, also den Umstand, dass nicht jede Stelle seines Paradigmas von einer Form besetzt wird. Sie kann wiederum zu Suppletionsverhältnissen führen, was bedeutet, dass nicht voneinander abgeleitete Formen ein gemeinsames Paradigma bilden und aufeinander bezogen werden.

Nach dem Ansatz von Strunk definieren die folgenden drei Voraussetzungen ein unter unterschiedlichen Verbformen vollzogenes Suppletionsverhältnis: „das synchrone Vorkommen im [...] Corpus aller Formen“; die „komplementäre Verteilung im Paradigma“ der

einzelnen Formen; „die lexikalischen Bedeutungen aller Formen [...] müssen sich hinlänglich überschneiden“ (Strunk 1977: 16 f.).

Bewegungsverben im Griechischen sind repräsentativ für die Phänomene Defektivität und Suppletion:

• Der Präsensstamm von βαίνω ist ein -iie/o- Präsens und gehört zu idg. *gem-,89 wobei der Aorist ἔβην eine Fortsetzung der idg. Wurzel *geh2-90 ist (LIV: 205, 209; Beekes 2010: 192).

• Das Verb εἶμι ist ausschließlich im Präsensstamm belegt.91

• Das Verb ἔρχομαι kommt im Griechischen mit dieser Wurzel nur im Präsensstamm vor.92

• Der Aoriststamm des Verbs ist ebenso defektiv und bisher konnte das Verb etymologisch noch nicht zufriedenstellend rekonstruiert werden (Beekes 2010:

89 *gem- ist im Griechischen außerhalb des Präsensstamms nur im 3. Du. βάτην erhalten geblieben – die Form ὑπέρβασαν 3. Pl. kann auch von der Aoristwurzel *geh2- abgeleitet sein. Darüber hinaus bildet die Wurzel ein sḱo-Present *gmm-sḱō (βάσκω), das nur bei Homer (8-mal) und meistens zusammen mit der Imperativform von εἶμι belegt ist (vgl. SS. 155 f.). Es gibt nur wenige Nominalbildungen dieser Wurzel im Griechischen, z.B. das Verbaladjektiv βατός 'gangbar' und βάσις für 'Schritt' oder 'Basis'. Aus der gleichen Wurzel stammen lat. veniō, ved. agan 'ist/sind gegangen/gekommen', arm. ekn 'er kam', got. qiman (LIV: 209 f.). Die aoristische Form arm. ekn beweist, dass die Defektivität dieser Wurzel eher ein Merkmal der griechischen Formation ist und nicht dem Protoindogermanischen zuzuschreiben ist (Kölligan 2007: 160 f.).

90 *geh2- würde einer Präsens-Bildung *βίβησι entsprechen und war im Indogermanischen nicht defektiv (vgl.

das reduplizierte Präsens ved. jigāti 'geht'). Aus dieser Form sind das lak. 3. Sg. βίβαντι und die homerischen Partizipial- und Imperativformen βιβάάς 'mit großen Schritten einhergehend' und βιβάσθων gebildet. Die Wurzel ist in vielen indogermanischen Sprachen zu finden (vgl. LIV: 205) z.B. in ved. agāt 'ist getreten, gegangen'. Im Griechischen ist die Wurzel sehr produktiv, im Gegensatz zum Präsensstamm gibt es hier viele Nominalbildungen: Unter anderen βηταρμός 'Tanz', βητάρμων 'Tänzer', ἀμφισβητέω 'ich streite' (d.h. 'nach zwei Seiten auseinandergehend'), βῆμα 'Schritt', βωμός 'Tritt, Gestell, Altar', βηλός 'Schwelle', βέβηλος, dor.

βέβαλος 'betretbar, ungeweiht' (zu vergleichen zu ἄβατος 'unvergänglich, heilig', βέβαιος 'sicher', d.h. '*gut gangbar', βάδην Adv. 'schrittweise', βάδος 'Gang', βαθμός 'Schritt, Stufe, Schwelle', βάθρον 'Grundlage', ἐμβάτης 'Männerschuh' (vgl. DELG: 156 f.). Das Suppletionsverhältnis zwischen den beiden Wurzeln entsteht laut Bloch 1940 erst nach Homer. Létoublon 1985 hat durch ihre Kontextanalyse hingegen bewiesen, dass beide Wurzeln bereits bei Homer eng verbunden sind und ein suppletives Paradigma bilden.

91 Die Wurzel des Verbs entspricht idg. *h1éii-(LIV: 232; Beekes 2010: 388).Aus der gleichen Wurzel sind unter anderen: ai. ēmi 'go', av. aēiti, lat. eō, heth. īt 'go!', medial e-ḫu 'come!' (LIV: 232 f.; Kölligan 2007: 153). Aus der erweiterten Wurzel stammen im Griechischen auch einige Ableitungen. Von einer Bildung durch -t-:

ἁμαξ-ιτός 'für Wagen fahrbar', ἰταμός, ἴτης 'draufgängerisch' (d.h. 'verwegen'), εἰσ-ιτήρια 'Antrittsopfer'; von der o-Stufe: οἶτος 'Menschengeschick'; vom Iterativ i-tā- in gr. ἰτητέον, ἰτητικός; von iiā- kommt der Beiname von Demeter `Επ-ίασσα mit Suffix -nt- (vgl. a.i. yatīī 'die Gehende'). Vgl. DELG: 321 f.; Beekes 2010: 388.

92 Es wurde sowohl auf die idg. Wurzel *h1er- ('wohin gelangen, geraten') als auch auf *h1erģh- ('besteigen') zurückgeführt (Beekes 2010: 468). In anderen indogermanischen Sprachen ist die erste Wurzel z.B. in ved.

ṛccháti 'erreicht', heth. āraskizzi 'gelangt wiederholt hin', heth. arta 'stellte sich; stand', ved. ārat 'ist gelangt zu' vertreten (LIV: 238). Auch in diesem Fall deuten die Aoristbelege darauf hin, dass die Defektivität der Wurzel im Griechischen nicht der Grundsprache angehört (Kölligan 2007:153). Auf die zweite vorgeschlagene Wurzel sind z.B. heth. arkatta 'bespringt' und air. eirgg 'geh!' zurückzuführen. Aus einer Iterativform *h1orĝh-éiie- könnte das Verb ὀρχέομαι 'tanzen' stammen. Die beiden vorgeschlagenen Etymologien sind nicht unbedingt als gegensätzlich zu verstehen: Nach LIV: 238 f. ist es auch möglich, dass in ἐρχε- *h1ṛ-sḱé- und das thematisierte *h1erģh-e- zusammengefallen sind.

410).93

• Die Verben ἥκω und οἴχομαι kommen am häufigsten im Präsens vor und bilden erst später einen Aorist und ein Perfekt (DELG: 409, 788 f.; Beekes 2010: 513, 1064).94

Ausgehend von dieser schematischen Darstellung können zwei Zustände bzgl. der Defektivität für die untersuchten Bewegungsverben beschrieben werden: Entweder sind die Wurzeln grundsätzlich und auch diachron defektiv, weil ihre Formen nie alle Stellen im Paradigma ausfüllen, oder ihre Defektivität ist auf eine bestimmte Zeit beschränkt. Die Formen, die das Paradigma bilden, sind also nicht zur gleichen Zeit belegt, sondern werden durch Analogiebildung zu regelmäßigen Paradigmen anderer Verben später gebildet.95

Das Phänomen der Suppletion innerhalb des griechischen Verbsystems wird von Schwyzer & Debrunner (1950: 257 f.) erklärt, indem die Bedeutung der einzelnen belegten Formen je nach ihrer Zugehörigkeit zu einem Präsens- oder Aoriststamm bestimmt wird, d.h.

bezüglich der morphologischen Verbkategorie des Aspekts. Die Aspektunterschiede begründen die Defektivität der Verben dadurch, dass die Verbstämme die allgemeine Bedeutung der sich untereinander nicht stark semantisch unterscheidenden Verblexeme präzisieren. Die Verbkategorie Aspekt ist sowohl für die vorliegende als auch für die Arbeiten von Bloch (1940) und Létoublon (1985) sehr wichtig.96 Beide Studien wählen als Corpus für ihre Analyse die homerischen Texte aus, weil das primäre Ziel ihrer Untersuchung ist, zu

93 Nach IEW: 306 f. (vgl. darüber hinaus DELG: 377; Beekes 2010: 468; LIV: 235) könnte die Wurzel durch die Erweiterung -dh-, el-eu(dh-) auf el-, elә-: lā- (vgl. ἐλαύνω) zurückgeführt werden. Die Wurzel ist im Griechischen weniger produktiv. Abgeleitete Substantive sind προσ-ήλυτος und ἔπ-ηλυς 'einer, der kommt' (DELG: 337).

94 Das erste Verb – dessen Etymologie unklar bleibt (Beekes 2010: 513) – wird wegen seiner Bedeutung häufig mit der Form ἵκω (nur bei Homer belegt) in Verbindung gebracht, obwohl die zwei Verben keine gemeinsame Wurzel teilen: ἵκω stammt aus der idg. Wurzel *seik- / *sik- (vgl. LIV: 522), auf die ἥκω nicht zurückgeführt werden kann (Beekes 2010: 513, 586). Verbunden mit ἵκω sind auch die folgenden Formen: im Präsens ἱκνέομαι, ἱκανώ (beide durch eine Stammerweiterung von ἵκω durch das nasale Infix entstanden), im Aorist ἱκόμην. Nach Beekes (2010: 586) ist auch dieses Verhältnis problematisch, weil ἵκω einen langen Vokal aufweist, während der Vokal ι- bei den anderen Verben ursprünglich kurz ist.

Die Etymologie von οἴχομαι ist ebenso unklar wie diejenige von ἥκω, nach LIV: 296 f. aber möglicherweise auf *h3eiigh- '(fort) gehen' zurückzuführen. Für einige mögliche Entsprechungen vgl. Beekes 2010: 1064.

95 Analoge Prozesse, die zur Bildung eines regelmäßigen Paradigmas bzw. zu einem höheren Grad von Regelmäßigkeit im Paradigma führen, kommen häufig vor (vgl. Carstairs-McCarthy 1998 und Hock 2003).

Ein Beispiel von analogischen Bildungen im Griechischen sind z.B. die Aorist- und Futurformen von βλώσκω: Das Präsens gehört zu derselben Wurzel wie der Aorist μολεῖν, aber da die Zugehörigkeit der beiden Formen infolge phonetischer Veränderungen nicht mehr deutlich zu erkennen ist, werden später auch die poetischen und aus Analogie gebildeten Formen βλώξω und ἔβλωξα verwendet (DELG: 182).

96 Die Monographie von 1985 ist nur eine der von Létoublon den griechischen Bewegungsverben gewidmeten Arbeiten: Létoublon 1982, 1988, 1989, 1992. Die neueste Arbeit von Kölligan ist der Untersuchung von Verbsuppletionsverhältnissen im Griechischen gewidmet und umfasst auch zwei Kapitel über die Bewegungsverben (2007: 134-171, 346-348), welche überwiegend die Ergebnisse von Létoublon 1985 wiedergeben. Kölligan vertritt jedoch einen diachronen Ansatz.

bestimmen, ob und wann die unterschiedlichen Formen der Bewegungsverben in einem Suppletionsverhältnis auftreten. Die Verben werden deshalb in beiden Arbeiten nach Verbstämmen analysiert. Es wird im Folgenden zuerst auf die Arbeit von Bloch eingegangen, weil diese derjenigen von Létoublon zeitlich vorausgeht und sich die darauf folgende Forschung stets auf die von Bloch angewendete Methode und seine Ergebnisse bezieht.97

2.1 Bloch (1940)

Bloch legt die Orientierung der Bewegungsverben als entscheidendes Kriterium für die Entstehung eines gemeinsamen Paradigmas fest, d.h. die Verben werden abhängig davon zusammengefügt, ob in ihrer Bedeutung eine Entfernung vom Sprecher oder eine Annäherung an diesen angelegt ist. Die verschiedenen Bewegungsverben werden also nach der Semantik ihrer einzelnen Formen klassifiziert, je nachdem, ob sie innerhalb des untersuchten homerischen Corpus die Funktion eines I-Verbs oder eines V-Verbs innehaben. Infolge dieser Kriterien identifiziert Bloch bei Homer die folgenden Suppletivparadigmen (Bloch 1940: 61 f.):

• 'gehen': Präs. ἔρχομαι (Konj. ἴω, Opt. ἴοιμι, Ptz. ἰών, Inf. ἰέναι, Impf. ἦα); Fut. εἶμι;

Aor. ἔβην, ᾠχόμην, ἐλθών; Perf. οἴχομαι;

• 'kommen': Präs. ἀφικνέομαι, ἔρχομαι; Fut. ἀφίξομαι, ἐλεύσομαι, ἥξω; Aor. ἀφικόμην, ἦλθον; Perf. ἀφῖγμαι, ἐλήλυθα, ἥκω.

Diese eine Verteilung bereitet aber nicht wenige Schwierigkeiten: Einige aus einem gleichen Verbstamm abgeleitete Formen, wie ἦλθον und ἐλθών, werden in zwei Paradigmen gespalten und das Verb ἀφικνέομαι tritt genauso wie die anderen Bewegungsverben in diesem Suppletionsverhältnis auf, obwohl es rein formal nicht defektiv ist.98 Außerdem wird die Form ἔβην von βαίνω getrennt und als Aorist im Paradigma für 'gehen' eingesetzt, im Unterschied zu der früheren traditionellen Annahme, welche βαίνω und ἔβην aufgrund gemeinsamer vergleichbarer Verwendungen zusammen betrachtet (Delbrück 1897: 258 und Osthoff 1899:

8). Darüber hinaus kommt ἔρχομαι sowohl im ersten als auch im zweiten der von Bloch vorgeschlagenen Paradigmen vor. Dieser Einteilung nach kann angenommen werden, dass das Verb keine stabile Orientierung besitzt. Deshalb ist Blochs Entscheidung für die räumliche Deixis als einheitliches Organisationskriterium der zwei Paradigmen eher widersprüchlich.

97 Darunter Létoublon 1985: 30 f. und Kölligan 2007: 135.

98 Defektivität ist, wie kürzlich besprochen, eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für Suppletion.

Auch die nach Strunk für die Entstehung eines Suppletionsverhältnisses erforderlichen Voraussetzungen werden in Blochs These außer Acht gelassen.

Zu den kritisch anzumerkenden Punkten dieser Studie zählen einerseits die Wahl des Deutschen als Referenzsprache für die Analyse, andererseits die fehlenden Definitionen der räumlichen Untersuchungskriterien: Damit werden keine objektiven Kriterien zur Feststellung der Bewegungsorientierung angewendet, die für das Griechische intern überprüft werden können. Bloch stützt die Bestimmung der verbalen Bedeutung als zentripetal oder zentrifugal auf die Übersetzung des griechischen Textes ins Deutsche und interpretiert die Stellen aus Homer auf Basis dieser Übersetzung. Nach der Besprechung der deiktischen Komponente und einiger Beispiele aus modernen Sprachen in den vorigen Kapiteln dieses Teils wird die Problematik eines solchen Ansatzes hier sofort deutlich: Sprachen können sich bezüglich des Ausdrucks von räumlicher Deixis sehr stark unterscheiden. Die Tatsache, dass im Deutschen eine deiktische Opposition zwischen den Verben 'gehen' und 'kommen' in vielen Kontexten existiert und dass Bloch sich auf das Deutsche als Bezugssprache für die griechischen Texte bezieht, hat als Konsequenz, dass die Identifizierung einer deiktischen Verwendung der Bewegungsverben im Griechischen nach der Struktur der Bezugssprache – nämlich des Deutschen – geschieht. Der Analyse mangelt es deshalb an objektiven Kriterien, die innerhalb der untersuchten Sprache überprüft werden können. Blochs Analyseergebnisse könnten folglich anders ausfallen, wenn Deixis in der ausgewählten Bezugssprache nicht relevant wäre.

2.2 Létoublon (1985)

Blochs Ansatz ist von Létoublon scharf kritisiert worden.99 Létoublon 1985 wird durchaus gerechtfertigt als Meilenstein in der Forschung über griechische allgemeine Bewegungsverben betrachtet: Sie beschäftigt sich, wie Bloch, mit der Frage des Suppletionsverhältnisses und das ausgewählte Analysecorpus besteht auch in diesem Fall aus Texten von Homer. Trotz ähnlicher Ergebnisse unterscheidet sich die methodische Herangehensweise Létoublons deutlich von der Blochs, da bei Létoublon interne Analysekriterien herangezogen werden:100 Die Analyse der Belege erfolgt empirisch und wird nach einem induktiven Verfahren durchgeführt, das morphologische, syntaktische,

99 Jedoch wird auf Bloch 1940 in der Literatur wiederholt als Referenzwerk hingewiesen (z.B. auch in Beekes 2010) und Létoublon 1985 wird wenig berücksichtigt.

100Um den Einfluss der Übersetzung auf die Deutung der Verbform zu reduzieren, wird bei der Mehrheit der von Létoublon besprochenen Stellen sogar auf eine Übersetzung verzichtet.

semantische und z.T. pragmatische Aspekte umfasst: Sowohl der syntagmatische Ko-Text, als auch der situative Kontext, d.h. derjenige, der die Ausführung der Handlung betrifft, werden in der Analyse berücksichtigt. Auf Basis einer umfangreichen Analyse der Beispiele, die die bestehenden Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Bewegungsverben in den homerischen Texten untersucht, identifiziert Létoublon das folgende Suppletivparadigma zum Ausdruck einer allgemeinen Bewegung für die homerische Zeit: Präs. ἔρχομαι, Fut. εἶμι, Aor.

ἦλθον.101

Létoublon (1985) widmet der räumlich-deiktischen Komponente nur einen kleinen Teil der Analyse, der sich auf das erste Buch der Ilias beschränkt. Die von Létoublon festgestellten deiktischen Oppositionen sind die folgenden:

zentrifugale εἶμι, ἰέναι, ἦα vs. zentripetale ἦλθον, ἐλήλυθα;

zentrifugale ἴθι vs. zentripetale ἐλθέ, ἔλθωμεν.

Diese Formen – ἔρχομαι bleibt ausgeschlossen, weil das Verb deiktisch undefiniert ist – besitzen nach der Auffassung Létoublons einen impliziten deiktischen Hinweis:102 Die Verben weisen eine feste Orientierung auf, obwohl diese in manchen Kontexten in Zusammenhang zu besonderen Faktoren (z.B. bei Vorkommen eines Adverbs) aufgehoben werden kann. Εἶμι, ἦλθον, ἐλήλυθα, ἴθι, ἐλθέ, ἔλθωμεν sind die Formen, bei denen die Deixis am schwierigsten modifizierbar ist. Allerdings weist auch diese Arbeit einige Schwächen auf, z. B. den Ansatz, nach dem alle Verbverwendungen (ähnlich wie auch bei Bloch 1940) gleichermaßen orientiert betrachtet werden. Dementsprechend wird die Orientierung der Formen in Verbindung zu ko-textuellen Elementen (d.h. Raumkomplementen) und in neutralem Verbgebrauch, d.h. in Abwesenheit jeglicher räumlicher Informationen, untersucht und die Referenz zur origo wird nicht als entscheidendes Kriterium für die Feststellung der deiktischen Komponente der Verben herangezogen (vgl. SS. 69-71). Mithilfe der vorhandenen Typologie über Deixis wurde aber gezeigt, dass innerhalb bestimmter prototypischer Kontexte oppositionelle deiktische Verwendungen die Verblexeme charakterisieren und der Bezug auf die origo und auf den von ihr abhängigen Referenzrahmen durch ko-textuelle Elemente nicht neutralisierbar ist.103 Darüber hinaus existieren auch innerhalb einer deiktischen bzw. überwiegend deiktischen Sprache Kontexte, in denen die allgemeinen Bewegungsverben nicht aufgrund

101Daneben wird auch gezeigt, dass βαίνω in Suppletion zum Aor. ἔβην steht (Létoublon 1985: 123-143).

102Die Ergebnisse der Analyse sind auch in Létoublon 1992: 271 zusammengefasst zu lesen. Auf Létoublon (1985) stützt sich auch Schawaller (1990) und Kölligan (2007).

103Vgl. den bereits besprochenen Fall der Kopplung aus Wohin...? / Woher...? und Bewegungsverb in deiktischen Sprachen, in dem gegensätzliche oder auch nur überflüssige Rauminformationen nicht zusammen mit den orientierten allgemeinen Bewegungsverben koexistieren dürfen, SS. 35-37.

ihrer Orientierung angewendet werden (vgl. SS. 37-49).

Es fällt darüber hinaus auf, dass die Ergebnisse von Létoublons Untersuchung bezüglich der Orientierung der Verbformen trotz des grundlegend unterschiedlichen Ansatzes denjenigen der semantischen Analyse Blochs ähneln. Ihr Unterschied liegt in der Analysemethode, das Ziel aber ist dasselbe: die Überprüfung der Zugehörigkeit der Verbformen zu einem Suppletivparadigma. Bloch teilt die Verbformen in zwei Paradigmen ein und gruppiert die Formen danach, ob sie semantisch kohärent sind, also eine gemeinsame Orientierung teilen. Létoublon geht hingegen von einer induktiven Analyse der Verbformen aus und gruppiert bzw. trennt die Formen nach ihren Auswahlkriterien. Im Unterschied zu der vorliegenden Arbeit steht die Deixis aber nicht im Zentrum des Forschungsinteresses Létoublons. Ihre Forschungsperspektive bezüglich Deixis konzentriert sich auf das bestehende Suppletionsverhältnis unter den verschiedenen Verbformen: Warum können solche räumlich-deiktischen Unterschiede irrelevant für die Entstehung eines Suppletivparadigmas sein? Nach Létoublons Auffassung104 können die Verbformen nur aufgrund ihrer aspektuellen Unterschiede ihren semantischen, d.h. in diesem Fall räumlich-deiktischen Kontrast (zentripetalen vs. zentrifugalen), überwinden und ein gemeinsames Paradigma bilden. Die gegensätzliche Orientierung der Formen behindert ihre Vereinigung in einem Paradigma nicht, weil die Relevanz der Verbkategorie Aspekt sich als dominant herausstellt. Das aus den Formen der Bewegungsverben gebildete Suppletivparadigma wird von ihren Aspektunterschieden erlaubt, welche komplementär innerhalb des Paradigmas sind.

Die Arbeit von Létoublon ist, wie bereits erwähnt, maßgeblich für das Thema Bewegungsverben, was die angewandte Methodik und den Umfang der Beispiele aus den homerischen Texten betrifft. Dennoch bleibt ihre Betrachtung stellenweise unbefriedigend.

Die Rolle der Deixis bezüglich der Bewegungsverben wird nicht klar definiert: In dem von Létoublon geschilderten System wird die Deixis zwar berücksichtigt, aber ihre Rolle und ihr Einfluss auf das gebildete Suppletivparadigma werden nicht klar begrenzt: Wenn auf einer Seite die Formen die dementsprechenden Lücken innerhalb des Paradigmas ausfüllen, lässt auf der anderen Seite die gegensätzliche deiktische Bedeutung der Verben nicht nach; sie bleibt im Paradigma semantisch erhalten. Der Kontrast zwischen den Bedeutungen der Formen wird nicht aufgelöst. Das Verhältnis zwischen den beiden Kategorien Deixis und

104Létoublon (1985) stützt sich auf einen Ansatz von Meillet (1929), der auch in Chantraine (1942: 332) besprochen wird. Diese Arbeiten werden im letzten Teil der Arbeit näher diskutiert, wenn die Ergebnisse der Analysen in ein Erklärungsmodell integriert werden.

Aspekt bleibt deshalb noch näher zu bestimmen, ebenso wie die Relevanz der jeweiligen Lexeme bezüglich der Formation eines Paradigmas. Zu dieser Bestimmung könnten einerseits eine diachrone Perspektive und andererseits die Integration der typologischen Arbeiten über den Ausdruck von Deixis in modernen Sprachen behilflich sein. Ein durch die Erweiterung des untersuchten Corpus vertretener diachroner Ansatz hat im Fall der griechischen Bewegungsverben zudem den Vorteil, die zahlreichen Veränderungen zu berücksichtigen, welche diese Verbklasse charakterisieren. Zusätzlich erlaubt die Berücksichtigung der Typologie eine nähere Bestimmung der üblicherweise vorkommenden Aspekte in dieser besonderen Verbklasse und infolgedessen die Definition geeigneter Untersuchungskriterien.