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3.5. A USWERTUNGSDESIGN

3.5.3. Die Sequenzierung

Bei der Sequenzanalyse, also der Interpretation der Interaktionsstruktur, kommen die bereits erwähnten methodologischen Überlegungen einer sozialwissenschaftli-chen Hermeneutik in besonderem Maße zum Tragen. Die Auswertung ist nach einer sprachlichen Konvention ausgerichtet und analysiert Wort für Wort. Relevant ist hier das Muster dem der Sprecher folgt, was drei unterschiedliche Rekonstruktions-ziele vereint. Zum einen kann rekonstruiert werden, welchem Selektionsprinzip der Sprecher folgt, um sein Sprachhandlungsziel zu erreichen. Zum zweiten kann die Analyse offen legen, welches Regelsystem der Narration zu Grunde liegt und schließlich, welchen Wahlmechanismen der Redner folgt.

Bei der Interpretation wird jede Sinneinheit auf mögliche Bedeutungen ausgelegt, ohne jedoch den weiteren Textverlauf zu beachten. Wichtig ist hierbei in besonde-rem Maße der Interviewbeginn, da sich hier meist die Darstellung des gegenwärtigen Relevanzsystems in der Latenz des Textes manifestiert (vgl. Oever-mann et al. 1979). Entscheidend bei diesem Analyseschritt ist die methodische Unterstellung, die Abfolge der einzelnen Textelemente konstituiere eine eigene Art von Ordnung. Das Ziel ist daher die reale Temporalstruktur nachvollziehbar zu re-konstruieren. In der Sequenzanalyse sollen "Handlungsprozesse in ihrer historischen und situativen Konkretion dadurch sichtbar werden, dass ihre aktuelle Realisierung als Prozess des sinnhaften Ausschließens von anderen Handlungsmöglichkeiten begriffen wird, die zum ursprünglichen Handlungshorizont der Interpreten gehören"

(Soeffner 1989, 145). Ziel ist es, Idealtypen zu erarbeiten, die durch Zusammen-schluss einer Fülle von Einzelerscheinungen entstehen.

Sind erste Thesen erarbeitet, werden gezielt Textstellen ausgewählt, in denen bis-her nicht aufklärbare latente Sinngehalte vermutet werden bzw. die dazu führen sollen, die Thesen zu falsifizieren. Hier gilt die Konvention, wonach die neue Deu-tung größeres Gewicht als die vorherige erhält. Es geht nicht darum, einmal aufgestellte Hypothesen zu manifestieren, sondern stattdessen darum, ganz gezielt Textstellen zu finden, die die Deutung nicht länger aufrechterhalten lassen. Erst dadurch, dass zu Beginn noch möglich erscheinende Sinnzusammenhänge im Ver-lauf der Analyse ausgeschlossen werden können, wird die Ordnung der zentralen

Gesetzmäßigkeit deutlich (vgl. auch Iser 1991). Gerade für die Sequenzanalyse sind die im Transkript festgehaltenen phonetischen Details von Bedeutung, da sie Auf-schluss darüber geben, welche Themen nur latent thematisiert werden.

Es geht darum, die, den gesamten Fall erklärenden, Strukturhypothesen zu erarbei-ten. Wenn sich im Laufe dieses Arbeitsschrittes eine Strukturinterpretation immer wieder durch die Analyse einzelner Sequenzen belegen lässt, versucht man erneut, gezielt auf Textstellen zu treffen, die auf andere Hypothesen schließen lassen. Erst wenn jetzt keine Textpassage mehr zu finden ist, die im Widerspruch zur Struktur-hypothese steht, kann diese als gesicherte Interpretation angenommen werden.

Am Ende kann der ‘Fall’ dem historischen Milieu (Weber 1972) zugeordnet werden und es ist möglich, eine vom Einzellfall abstrahierte Aussage darüber zu treffen, wofür der ‘Fall’ steht bzw. was der hier rekonstruierte Handlungstyp repräsentiert.

Das, was im Fall noch als subjektive Besonderheit angesehen werden kann, wird im Kontext mit dem historischen Milieu, den Beobachtungen des Samples und der Ge-sprächsnotizen objektiviert. Die Ergebnisse lassen sich einordnen und generalisieren.

Folgende Bereiche wurden im Interview, zusätzlich zum Interviewbeginn, einer Se-quenzanalyse unterzogen, um Strukturhypothesen des ‘Falles’ aufstellen zu können und der von ‘außen’ auferlegten Typisierung zu entgehen:

 Wie wird über den eigenen Bezug zu Religion und Glauben gesprochen?

 In welcher Form wird über die eigene Beziehung zur Kirche gesprochen?

 Wie wird über die konfessionelle Sozialisation der eigenen Kinder, die ihr zuge-schriebenen Ziele und damit verknüpften Vorstellungen bzw. den Versuch der diesbezüglichen Umsetzung gesprochen?

 Wie wird die zu Hilfe genommene Institution Kirche und deren Organisation Kindergarten hinsichtlich der Kindererziehung thematisiert?

 Welche Erwartungen an den konfessionellen Kindergarten werden artikuliert?

Darüber hinaus wurde darauf geachtet, wie die gewählte Semantik bei den Themen Glaube und Religion zu beschreiben ist.

Viele Ergebnisse anderer Studien hinsichtlich der Sinnzuschreibung und Struktur von Religiosität in Deutschland lassen sich auch bei den hier geführten Interviews rekonstruieren und bestätigen. Etwa das noch immer konstitutive Moment der

Be-antwortung der Sinnfrage im Leben. Doch mir geht es in der Analyse vielmehr um die Frage, wie die Interviewpartner Religion und Glaube hinsichtlich ihrer Kinder in die individuelle Lebenspraxis miteinbeziehen.

Bei der Analyse wurden unter anderem drei Dimensionen christlicher Religiosität in den Blickpunkt gerückt und nach deren subjektiv hergestellten Zusammenhängen und Bezügen gefragt: Kirchlichkeit, Vertrauen in die Institution Kirche bzw. ihre Or-ganisation Kindergarten und die subjektive Religiosität (vgl. Pickel, Krüggeler 2001).

Es zeigt sich, das wird bei den differenzierten Typen noch zu zeigen sein, eine er-neute Funktionsverschiebung: Gehen in westlich europäischen Gesellschaften religiöse Inhalte für die eigene Person immer mehr zugunsten tragfähiger Lösungen und Antworten auf das Problem der Moderne verloren, verschieben sich die Funkti-onszuschreibungen für die Kinder hin zu einem eindeutig bildungswissenschaftlich orientierten Deutungsmuster.

In einigen deutschen Familien (des Mittelstandes – ob religiös oder nicht), das lässt sich in fast allen geführten Gesprächen rekonstruieren, wird Religion mit anderen als konfessionellen Inhalten verknüpft – was sich in der Sozialisation niederschlägt und dann die bereits bekannten Auswirkungen auf das eigene Selbstverständnis Jugendlicher hat (bspw. Deutsche Shell-Studie 2000; Zinnecker, Silbereisen 1996).

Nicht zuletzt die Durchsetzung monotheistischer Denkmuster und die Auseinander-setzung mit nichtchristlichen Praktiken in Europa im ausgehenden 19. Jahrhundert scheint sich in den Erklärungsmustern niederzuschlagen.

Wie noch zu zeigen sein wird, sind einige rekonstruierte Orientierungsmuster auch stark von der ‘Politik gesellschaftlicher Anerkennung’ anderer Religionen beein-flusst und thematisieren die mitunter sehr emotional geführte Debatte zur ‘Abwehr’

des sich verbreitenden Religionenpluralismus. Hier wird in den Interviews als ge-geben vorausgesetzt, die Vielfalt und Unterschiedlichkeit vieler Glaubens-richtungen in der eigenen Stadt sei gefährlich und staatszersetzend. Doch entgegen den Überlegungen von Baumann (2005) geht es bei den Erklärungsversuchen weni-ger um das faktische Zusammenleben, als um Befürchtungen hinsichtlich der Erfolgschancen der eigenen Kinder in den Bereichen Schule und Ausbildung bzw.

Berufsfindung. Doch auch hier gilt, was Baumann in seinem Artikel betont: "Die Ängste und Befürchtungen auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft dürfen nicht igno-riert werden. Sie sind ebenso ernst zu nehmen wie Beschwerden über

Benachteiligung und Diskriminierung auf Seiten der Migranten" (ebd., 71). Und ich möchte hinzufügen, sie sind offenbar ebenso gesellschafts- und handlungsformend.

In jedem Fall lässt sich in den hier präsentierten Interviews wiederum rekonstruie-ren, dass ein religionssoziologischer Ansatz zu kurz greift, wenn er die zunehmende Säkularisierung mit einem Verschwinden oder in die Unsichtbarkeit abdriftenden Prozess hinsichtlich der Religion gleichsetzt. Die christliche Religion bietet offenbar, neben dem Fundus an Antworten für die Eltern hinsichtlich der Lebenssinn-Frage gerade auch bezüglich der Erziehung ein großes Repertoire (oder ihr zugeschriebe-ne Offerten) an handhabbaren und vermeintlich tragfähigen Lösungen im Alltag.

Es zeigt sich, dass die Narrationen strukturiert werden können, wobei deren Gliede-rung intern noch einmal DifferenzieGliede-rungen und Besonderheiten aufweist, ohne jedoch den übergeordneten Tenor zu verlassen. Hierbei sind die präsentierten Diffe-renzierungen häufig ein Ausdruck unterschiedlicher Stadien der Auseinandersetzung mit den Themen Religion und Gesellschaft. Es soll nicht igno-riert werden, dass diese Stadien zum großen Teil vom jeweiligen Mikromilieu, den lebensgeschichtlichen Bezügen zu Religion und der sich selbst zugeschriebenen Handlungskompetenz in Sachen Kindererziehung beeinflusst sind.

Auffällig ist, dass eine eigene konfessionelle Sozialisation keinerlei Aussage darüber ermöglicht, wie die Einstellung zu Kirche, Religion und Glaube mit Blick auf die Kinder ist.

Insgesamt möchte ich hier noch einmal darauf hinweisen, dass mein Erkenntnisin-teresse darin zu suchen ist, welche Zuschreibungen und Erwartungen an den Kindergarten rekonstruiert werden können, welche Definitionen die Interviewten mit Blick auf die Bereiche Glaube, Religion und Kirche präsentieren und schließlich, ob die Gesprächspartner unterscheiden zwischen institutioneller und subjektiver Religion und nicht zum Ziel hat, konkrete Erziehungsstrategien herauszuarbeiten.66 Ich werde am Ende keine Aussage darüber treffen, was konfessionelle Erziehung in einer Organisation wie dem kirchlich gebundenen Kindergarten ‘bringt’ – dies ha-ben bereits andere Studien getan (vgl. hierzu exemplarisch Dippelhofer-Stiem 2002;

Honig et al. 2004). Diese Einschränkung ist meines Erachtens bedeutsam, da bei den folgenden Rekonstruktionen und jeweiligen Differenzierungen die

66 Ich werde im Verlauf der Auswertungsdarstellung auch auf die zuvor aufgestellten theoriegeleite-ten Erklärungsversuche eingehen.

schreibung von Religion, Kindergarten und Kirche ganz anders ausfällt – offenbar mit Blick auf das Eltern-Kind-Verhältnis ausfallen muss – als sie es hinsichtlich einer Sinnzuschreibung mit der Fokussierung auf die eigene Person wäre. Dies bedeutet für die Analyse: Nicht immer hatte ein Elternteil, der für sich selbst religiöse Deu-tungsmuster geltend macht auch nachweislich für seine Kinder vor allem

‘glaubensstarke’ Motive bei der Wahl des Kindergartens im Blick. Ich werde trotz-dem versuchen herauszustellen, inwieweit diese beiden Ebenen ineinander greifen oder inwiefern sie zu unterscheiden sind. Allerdings wird die Darstellung überwie-gend auf die Aspekte Kindergarten, Erziehungsziel, Religion, Glaube und Kirche bzw. deren Definitionsangebot bezogen sein, da ein Eingehen auf weitere rekon-struierbare Einstellungsfiguren den Rahmen der Auswertung sprengen und sie zu stark im Sinne einer Fallpräsentation darbieten würde. Genau darum soll es aber nicht gehen. Einzelne Sprecher, ihre Biographie und die daraus resultierenden Ori-entierungen sollen letztendlich nicht als Einzelfall dargestellt werden, sondern als Modell im Rahmen eines Typs gesellschaftlich vorfindbaren Umgehens mit einem spezifischen Thema fungieren– der Frage nach dem Einbezug von Religion in die Sozialisation der eigenen Kinder.

Für alle Gesprächspartner galt zum Zeitpunkt der Befragung, dass sie von sich sag-ten, den konfessionellen Kindergarten bewusst gewählt zu haben – ich bin bereits bei der Beschreibung des Samples darauf eingegangen. Es wurde schnell deutlich, dass die Erwartungshaltung an die gewählten Einrichtungen enorm ist und in den seltensten Fällen konkret christlich motivierte Erziehungsmaßnahmen oder Einstel-lungsvermittlungen beinhaltet. Vielmehr wird – ohne vorheriges Abklären mit den Erziehenden in der jeweiligen Einrichtung – davon ausgegangen, das eigene Kind werde in der erwünschen Form sozialisiert und auf das Leben vorbereitet. Hinzu kommt die Kopplung mit der Erwartung, der Kindergarten könne die ihm zuge-schriebenen Aufgaben aufgrund seiner konfessionellen Anbindung bewerkstelligen und unterscheide sich daher explizit von kommunalen Einrichtungen.67

In den Interviews ist auch rekonstruierbar – unabhängig davon, welche Typen sie später repräsentieren – wie stark das Antwortverhalten vom sozialen (säkularen) Umfeld und der hier artikulierten Zwiegespaltenheit und Distanz zum Thema

67 Hier scheint sich abzuzeichnen, dass Überlegungen hinsichtlich einer ‘Profanisierung’ konfessionell geprägter kindergarteninhärenter Aufgaben nicht von der Hand zu weisen sind.

gion geprägt ist. Die Biographen waren insgesamt selten bereit, erzählend das In-terview zu strukturieren. Meist gab es über weite Strecken Dialoge oder Berichterstattungen, Evaluationen oder Argumentationen.68 Es ist anzunehmen, dass die Erklärungsmuster hinsichtlich der konfessionellen Anbindung der eigenen Kinder nur bedingt in den jeweiligen Lebenskontext eingebettet werden können bzw. strikt von diesem getrennt werden sollen. Bei den Narrationen konnten mit Hilfe der Sequenzanalyse unterschiedliche Erklärungsmuster rekonstruiert werden, die der Wahl des Kindergartens und dem Einbezug christlich-religiöser Momente in der Erziehung jeweils eine richtungsweisende Akzentuierung geben. Diese sollen im Folgenden weniger ‘beschreibend’ dargestellt werden, als vielmehr argumenta-tiv erklären, inwieweit die subjekargumenta-tiven Deutungsmuster mittels zentraler Begriffe auf einer allgemeinen, vom Einzelfall abstrahierten Ebene, Sinn erzeugen und Er-kenntnisse hervorbringen – was ja dann im Anschluss in der Typisierung letzten Endes auch vollends erfolgt.

Was die kirchliche Bindung betrifft, sprechen die Narrationen in vielen Fällen für sich und offenbaren den Spagat zwischen gelebter Religiosität ohne gesellschaftlich verbindliche Modelle und die gleichzeitig im Hinblick auf die nächste Generation (wieder) eingegangene institutionelle Bindung.

68 Dies fiel bereits bei der thematischen Feldanalyse auf, konnte aber zum Zeitpunkt dieses Auswer-tungsschrittes noch nicht vollständig lebensweltbezogen auslegt werden.

4 Darstellung exemplarisch ausgewählter Narrationen

Nachfolgend werde ich exemplarisch einzelne Fälle und jeweilige interne Differen-zierungen vorstellen, bevor die mittels der gesamten Analyse rekonstruierten Typen präsentiert werden.

Auf biographische Besonderheiten gehe ich nur hier bei der Fallpräsentation ein – und dies auch nur bedingt. Zentral soll die Gegenüberstellung der jeweiligen Zu-schreibung hinsichtlich der Begriffe Religion und Glaube sein und die Erwartungen, die sich an einen konfessionellen Kindergarten knüpfen.69