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Religion als Medium elterlicher Erziehung : Profanisierung institutionalisierter religiöser Sozialisation (?)

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RELIGION ALS MEDIUM

ELTERLICHER ERZIEHUNG

PROFANISIERUNG INSTITUTIONALISIERTER RELIGIÖSER SOZIALISATION (?)

von

Sabrina Böhmer, Konstanz

Vorgelegte Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades des

Doktors der Sozialwissenschaften im Fachbereich Geschichte und Soziologie

an der Universität Konstanz

Konstanz, 2006

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URL: http://www.ub.uni-konstanz.de/kops/volltexte/2007/2309/

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-opus-23098

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ZUSAMMENFASSUNG

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit spezifischen, paradox anmutenden Wahlentscheidungen von Eltern im Hinblick auf ihre Kinder vor dem Hintergrund der Funktion von Religion in der (Spät-)Moderne.

Warum wenden sie sich bewusst einem konfessionellen (christlichen) Kindergarten zu? Welche elterlichen Erziehungsziele werden hier offenbar und wie definieren Eltern dementsprechend christliche Religion resp. kirchlich gebundene christliche Religion für den Nachwuchs?

Was bedeutet institutionelle Religion für Eltern im Hinblick auf ihre Kinder? Ist ein säkularer Umgang mit institutioneller Religion mit Blick auf die Eltern-Kind- Beziehung rekonstruierbar und welche elterlichen Handlungs- und Orientierungs- muster können im Zusammenhang mit der Entscheidung, das Kind konfessionell einzubinden, herausgearbeitet werden? Inwieweit sind diese Motivstrukturen bio- graphisch oder lebensweltlich erklärbar?

Diesen Fragen wird in der vorliegenden Studie unter anderem exemplarisch anhand zahlreicher qualitativ erhobener Daten nachgegangen. In einen theoretischen Be- zugsrahmen gestellt, präsentiert die Studie die Ergebnisse einer qualitativ angelegten empirischen Untersuchung zum Thema der konfessionellen Fremdsozia- lisation und den hier rekonstruierbaren Intentionen von Eltern. Es geht übergeordnet auch um die Frage, ob Religion in der Spätmoderne den Status eines Mediums innerhalb der Erziehung eingenommen hat und für welche Belange es un- ter Umständen als Substitut fungiert.

Es wurden Interviews mit Eltern und Erziehenden konfessioneller Einrichtungen im Sinne der Oral History geführt und analysiert. Gestützt auf umfängliche und metho- disch zuverlässige Daten, eine angemessene gründliche Analyse des Materials und eine detaillierte Auseinandersetzung mit soziologischen und pädagogischen Stu- dien und theoretischen Überlegungen bzgl. der Funktionsverschiebung und –zuschreibung von Religion in einer säkularen Gesellschaft im Allgemeinen und Familien im Besonderen, konnten neue Einsichten in gegenwärtige Tendenzen ge- wonnen werden, die am Ende abstrahiert in die aktuelle theoretische Diskussion eingebettet werden. Sie geben zahlreiche Anregungen für die Weiterentwicklung vorhandener religionssoziologischer Ansätze.

Auch mit Blick auf die momentan von der amtierenden Familienministerin in Deutschland angestoßene Diskussion mit Vertretern christlicher Kirchen hinsichtlich einer ‘Werteerziehung’ ergeben sich überaus interessante und differenzierte Hin- weise auf elterliche Beweggründe, sich in der Erziehung mit christlicher Religion auseinander zu setzen. Diese haben interessanter Weise oft wenig mit einer inten- dierten Wertevermittlung in der Erziehung zu tun.

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INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG... 6

1 PROBLEMSTELLUNG ... 9

2 THEORETISCHE RAHMUNG ... 16

2.1. RELIGION... 19

2.1.1. Subjektivierung von Religion ... 25

2.1.2. Säkulare Familienreligiosität? ... 29

2.1.3. Kirchlichkeit und ihre möglichen Beweggründe... 34

2.2. DER INSTITUTIONENBEGRIFF... 37

2.2.1. Die Institution Kirche ... 38

2.2.2. Der Kindergarten ... 39

2.2.2.1. Delegation von Erziehungszielen? ... 42

EXKURS I ... 49

3 DIE STUDIE ... 62

3.1. DAS ERHEBUNGSDESIGN... 64

EXKURS II ... 66

3.2. DIE VORGEHENSWEISE DER ERHEBUNG... 71

3.3. ZUR BEFRAGTENGRUPPE... 76

3.3.1. Legende der Gesprächspartner ... 77

3.3.2. Herkunft ... 79

3.3.3. Altersgruppen ... 81

3.3.4. Konfession ... 82

3.3.5. Status... 83

3.3.6. Ehepartner... 84

3.4. ZUSAMMENFASSUNG... 84

EXKURS III... 86

3.5. AUSWERTUNGSDESIGN... 91

3.5.1. Die Gesprächsnotizen ... 91

3.5.2. Die thematische Feldanalyse ... 95

3.5.3. Die Sequenzierung... 98

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4 DARSTELLUNG EXEMPLARISCH AUSGEWÄHLTER NARRATIONEN ... 104

4.1. DAS 'PROTESTANTEN-MODELL’ (FRAU B.)...104

4.2. DIE MACHTOPTION (FRAU N.) ...113

4.3. DIE ORIENTIERUNG AN PISA (HERR F.) ...118

4.4. CHRISTLICHE RELIGION ALS WEG ZUM HUMANISMUS (HERR W.) ...126

4.5. CHRISTLICHE RELIGION ALS (EXPERTEN-)WISSEN (FRAU W.)...130

4.6. (CHRISTLICHE) RELIGION IM KINDSALTER VERMITTELN (FRAU U.)...134

4.7. RELIGION IST VERANTWORTUNG VOR SICH UND ANDEREN (FRAU Z.) ...139

4.8. RELIGIÖSE ERZIEHUNG ALS UNREFLEKTIERTER ANTEIL DER ARBEIT...142

4.9. RELIGIÖSE ERZIEHUNG IN ZEITEN DER PASSAGERELIGIOSITÄT...145

5 IDEALTYPUSORIENTIERTE DARSTELLUNG... 151

5.1. DER TYP DER ENTZAUBERUNG DURCH DEN ALLTAG...152

5.2. DER TYP DER SUCHE NACH KULTURSPEZIFISCHER UNTERRICHTUNG...156

5.3. DER TYP DER BETONUNG ESSENTIELLER BEDEUTUNG VON RELIGION...159

5.4. KONTRASTIERUNG DER KINDERGARTENGESPRÄCHE...161

6 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK... 165

6.1. SÄKULAR ORIENTIERTE PROFANE ERKLÄRUNGSMUSTER...167

6.2. RELIGIÖS ORIENTIERTE ERKLÄRUNGSMUSTER...171

6.3. GENERELLE ERKLÄRUNGSVERSUCHE...172

7 LITERATUR... 180

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Einleitung

Religiöse Erziehung trotz Kirchenferne?

Bereits oft beschrieben und in Deutschland allerorts zu beobachten, äußert sich christlich orientierte Kirchenbindung1 heute oft nur noch im Wunsch, biographisch besondere Ereignisse symbolisch und rituell begleiten zu lassen (Trauung, Taufe, Beerdigung sowie Kommunion bzw. Konfirmation). Vor allem die Kirchen halten für diese Übergänge im Familienleben ein breites Angebot von symbolischen Handlun- gen bereit. Allerdings ist nicht mehr die Ausrichtung des Ritus´ auf das Jenseitige für viele Menschen entscheidend, sondern die sakrale Bestätigung und Überhöhung des Ereignisses; der Kirchgang lässt so viele Feste erst stimmungsvoll und feierlich werden.

Religion ist augenscheinlich zum Marktwert geworden, in dem Nachfrage und An- gebot durch den ‘Eigensinn’ der Familie bestimmt werden (Ebertz 1988, 412). Doch die Kehrseite dieser Entwicklung bedeutet auch, dass der Kirchenaustritt, seit er

„1918 faktisch für jedermann möglich wurde, ... in der Geschichte der beiden großen Kirchen in Deutschland eine konstante Größe“ darstellt (Kretschmar 2000, 1139) und dies für die Kirche akzentuiert, dass sie offenbar „einen Angebotsschwerpunkt setzt, der ... nicht in gewünschtem Maße in Anspruch genommen wird“ (Kretschmar 1990, 379). Dass sich für kirchliche Religion2 eine zunehmende Differenzierung kirch- lich-religiöser Einbindungen durch andere Bereiche der sozialen Integration andeutet, wird schon seit längerem diskutiert (Krüggeler 1989, 233). Es wird inzwi- schen auch anschaulich von einer „Passagereligiosität“ gesprochen, die biographische Phasen im Leben zeremoniell begehen hilft, ohne gleichzeitig den kirchlichen Sinngehalt zu übernehmen (Knoblauch 1999a, 88).

Bei dieser Betrachtung geht es allerdings immer um den subjektiven Umgang mit Religion bzw. kirchlich gebundener Religiosität hinsichtlich der eigenen Person.3 In

1 Wenn im Folgenden von christlicher Religion die Rede ist, sind sowohl die evangelische wie auch die katholische Glaubensrichtung gemeint. Ich unterscheide die beiden Konfessionen nicht, da es mir um den Bezug zum Glauben im christlichen Kontext generell geht.

2 Wie im Verlauf noch deutlich wird, ist es angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung ange- bracht, zwischen ‘kirchlicher’ und ‘privater’ Religion zu differenzieren. Ich gehe später sehr ausführlich auf diese Unterscheidung ein, die auch in der Religionssoziologie eine gewaltige Rolle spielt.

3 Ich möchte hier gleich zu Beginn die verwendeten Begriffe in ihrer Semantik unterscheiden: ‘Kon- fessionell’ bedeutet in der vorliegenden Studie, einer Religionsgemeinschaft anzugehören, ist aber

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einer Welt, in der allein positives Wissen zu gelten scheint, hat das Religiöse offen- bar keinen angestammten Ort mehr (vgl. Greiner 2005).

Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass einige Eltern, die selbst nicht mehr zur kirch- lich gebundenen Bevölkerung zu zählen sind, einen konfessionellen4 Kindergarten für ihren Nachwuchs wählen.

Sind die Kinder getauft, also auch die zweite Generation ggf. in die ‘Passagereligi- on’ aufgenommen, wird dem, mit der Taufe eingegangenen Versprechen der religiös orientierten Erziehung nicht im Elternhaus selbst nachgegangen. Stattdessen wird diese Aufgabe somit angenommener Maßen an professionelle Erziehungs-, Religi- onslehrkräfte und Pfarrer bzw. Pfarrerinnen delegiert – so scheint es zumindest auf den ersten Blick. Diese Situation mutet mit Blick auf einschlägige Studien hinsicht- lich religiöser Sozialisation paradox an, da in ihnen immer die diesbezüglichen Einstellungen der Eltern thematisiert werden. Durch eine konfessionell orientierte elterlichen Erziehung werden, so zahlreiche Aufsätze, die Grundvoraussetzungen für eine dauerhafte religiöse Verankerung und die Empfänglichkeit für entsprechen- de Fragen gelegt. Eine ‘aufgesetzte’, von den Eltern inhaltlich nicht mitgetragene, konfessionelle Sozialisation könne daher nur selten eine gefestigte Verankerung in der Religion hervorbringen (Ebertz 1988; Allensbach 1989; Zinnecker 1996; Hof- sümmer 1999). Es wird demzufolge vorausgesetzt, eine religiöse Erziehung, sei es durch eine Institution (initiiert von den Eltern) oder das Elternhaus selbst, müsse auch religiöse Intentionen verfolgen.

Dass verstärkt zu beobachten ist, dass zahlreiche Menschen, die sich (auf den ers- ten Blick) von der christlichen Kirche gelöst haben, ihr unter Umständen nicht mehr als Mitglied nahe stehen, für ihre Kinder genau diese institutionelle Anbindung in Form konfessioneller Kindergärten suchen und den Organisationen der christlichen Kirchen die (konfessionelle) Fremdsozialisation ihrer Kinder anvertrauen, ist meines

nicht gleichbedeutend mit dem Begriff der ‘Religiosität’. Dieser betont den Sachverhalt, dass hier eine Vorstellung von Transzendenz vorhanden ist, die die Lebenswelt durchdringt. Diese muss aber wiederum nicht gleichbedeutend mit ‘kirchlicher Gebundenheit’ sein. Wird jemand als ‘kirch- lich gebunden’ beschrieben, soll dies in der vorliegenden Arbeit zunächst lediglich bedeuten, dass er oder sie sich an der Kirche und ggf. ihren Unterorganisationen orientiert und dieses für andere sichtbar geschieht. Inwieweit diese Gebundenheit auch Konfessionalität oder sogar Religiosität beinhaltet, gilt es im Verlauf der Arbeit erst noch herauszuarbeiten.

4 Ich verwende hier den Begriff des Konfessionellen, da er im alltäglichen Sprachgebrauch heute weitgehend wertneutral gebraucht wird und sich nicht ausschließlich auf die Vertreter der refor- matorischen Kirche bezieht, wie dies noch im 19. Jahrhundert der Fall war.

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Erachtens bemerkenswert. Es drängt sich für eine genauere Betrachtung geradezu auf, da bisher in theoretischen Arbeiten zwar der Wandel des Verhältnisses von Religion und Pädagogik thematisiert wird – und dies mitunter geradezu klagend – aber eine Auseinandersetzung mit der spezifischen, nahezu paradox anmutenden, Wahlentscheidung kirchlich nicht gebundener Eltern im Hinblick auf den Nach- wuchs vor dem Hintergrund der (zugeschriebenen) Funktion von Religion im Erziehungsprozess gibt es nicht.

Die vorliegende Arbeit will dieser Frage nachgehen. Sie wird sich damit beschäfti- gen, welche Bedeutung der Wahl einer konfessionellen Anbindung der eigenen Kinder von Seiten der Eltern beigemessen wird. Der konfessionelle Kindergarten, so die Überlegung zum jetzigen Zeitpunkt, könnte dabei exemplarisch für die Instituti- onalität der Anbindung stehen.

Bleibt man gedanklich bei dem theoretisch etablierten Konzept der Passagereligio- sität, fügt sich die beobachtbare Entwicklung zunächst geradezu nahtlos ins Bild:

Vor allem die Loslösung symbolischer Handlungen aus ihren Sinnbezügen ist ja hier zentraler Bestandteil der Überlegungen. Somit kann unterstellt werden, dass Eltern mit einer konfessionell orientierten Erziehung keine religiösen erzieherischen Effek- te verfolgen.

Es wäre meines Erachtens durchaus interessant, die Wahlentscheidung von kirch- lich nicht gebundenen Eltern im Hinblick auf ihre Kinder hinsichtlich des konfessionellen Kindergartens in der (Spät-) Moderne genauer zu betrachten und danach zu fragen, ob diese Wahlentscheidung tatsächlich religionsferne oder sogar paradoxe Erklärungsmuster beinhaltet oder ob hier andere Handlungsbeeinflussun- gen rekonstruiert werden können.

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1 Problemstellung

Kirchlichkeit ohne Religionsbezug?

In der Religionssoziologie wird bereits seit den 50er Jahren des letzten Jahrhun- derts unterschieden zwischen der sogenannten ‘Kirchensoziologie’ und der Erarbeitung und Rekonstruktion des individuellen Glaubens. Schlagworte wie ‘Ent- kirchlichung der Gesellschaft’ oder ‘Emigration der Kirche aus der Gesellschaft’

(Fürstenberg 1970), sind dabei nicht mehr Spiegel der Forschungsergebnisse aktu- eller Untersuchungen. Vielmehr geht es spätestens seit Berger und Luckmann vor allem um die Rolle von Religion im Prozess der Wirklichkeitskonstruktion (Berger, Luckmann 1992). "Mit der These der Privatisierung der Religion als strukturell ange- legter Entwicklungsrichtung von Religiosität in der Moderne, liegt faktisch schon seit den 60er Jahren ein theoretisch und inzwischen auch empirisch gehaltvolles Alternativkonzept zur Säkularisierung vor" (Gabriel 2003, 109).5 Aber so relevant diese Unterscheidung für die Entwicklung der soziologischen Theorien war, betont sie in der Wissenschaftspraxis doch überwiegend die Notwendigkeit der Rekon- struktion innerlicher Glaubensformen – seien sie nun unsichtbar (Luckmann) oder subjektiviert (Knoblauch). Soziologische Analysen forschen über wechselnde Aus- formungen innerhalb sozialer Handlungsfelder.

Viele Einzelbeobachtungen auf der kirchlichen Seite (schwindende Teilnahme an Gottesdiensten, zunehmende Austritte oder fehlendes Engagement in der Gemein- de) schienen die Säkularisierungsthese für Deutschland anfangs zu stützen und alles deutete auf eine fortschreitende Auflösung der Religion hin – zumindest was die Verbundenheit zur Kirche betrifft.6 Da sich die Ergebnisse aber nicht auf Religio- sität im Allgemeinen Sinne bezogen, sondern lediglich die Kirchlichkeit im Blick hatten, ging man dazu über, von der ‘Entkirchlichung’ zu sprechen. Beide Teilas-

5 Das Konzept ist auch deswegen sehr produktiv, da die Reduzierung auf das Schlagwort der Säkula- risierung lediglich den Verlust von Religion bedeuten würde.

6 Die Ablösung und Emanzipation weltlicher Bereiche von religiösen Normen und Einrichtungen bei gleichzeitigem Niedergang religiöser Überzeugungen und Verhaltensformen, so wie die Abdrän- gung der Religion in die Privatsphäre wird in ihrer Summe in soziologischen Theorien häufig als geschlossene Säkularisierungstheorie debattiert. Doch obwohl diese Prozesse in Europa eher zufäl- lig gemeinsam auftraten, wird dies häufig verallgemeinert als Beleg dafür gesehen, dass die genannten Aspekte „nicht nur historisch, sondern auch strukturell und ihrem Wesen nach mitein- ander verbunden“ sind (Casanova 1996, 182). Blickt man jedoch über den ‘Tellerrand’ Europas hinaus, wird schnell deutlich, dass diese Entwicklung der Religion „weitaus eher eine Ausnahme darstellt, als den vorherrschenden Typus der modernen Entwicklung des Religiösen überhaupt“

(Casanova ebd., 183).

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pekte (Kirchlichkeit bzw. deren Verschwinden auf der einen und subjektive Religio- sität auf der anderen Seite) drifteten in den religionssoziologischen Ansätzen immer mehr auseinander und die eventuell beobachtbare Funktionsverschiebung religiö- ser Normen und in Einrichtungen durch die ‘Kirchgänger’ geriet ins Abseits.

Man fühlte sich stattdessen bemüßigt zu betonen, dass die beobachtbare und theo- retisch ausgelegte Entwicklung gewiss nicht bedeute, dass wir es in Deutschland mit „getauften Heiden“ (Hofsümmer 1999, 59) zu tun hätten. Religion, wenn auch nicht in ihrer geschichtlich gewachsenen Form, sei in zahlreichen Fällen lediglich zu einer Angelegenheit des Individuums geworden und habe "deswegen viel von ihrer öffentlich sichtbaren gesellschaftlichen Bedeutung eingebüßt" (Knoblauch 1997, 180).

Es wurde und wird also in soziologischen Arbeiten klar getrennt, ob es um die indi- viduelle Glaubenskomponente (Religiosität) oder den öffentlich sichtbaren Bezug zur Kirche bzw. den Institutionen und Maßgaben religiöser Organisationen geht (Kirchlichkeit), ohne diese beiden Aspekte im Anschluss wieder gegeneinander zu stellen.

Für Soziologen ist der Glaube keine Eingebung Gottes oder Übernahme kirchlicher Erkenntnis, sondern von Menschen konstruiert. Er ist soziologisch gesehen span- nend, da Religion den Umgang der Menschen untereinander beeinflusst und dabei

„spielt nicht die unerklärliche Frage eine Rolle, ob das, was Menschen glauben, wirklich ist“ (Knoblauch 1999a, 13). So konzentriert sich die Religionssoziologie mit Bezug auf Klassiker wie Simmel, Weber oder Durkheim darauf, das zwischen- menschliche Zusammenleben zu analysieren, die inzwischen ‘unsichtbare’ Religion zu rekonstruieren.

Was die zu Beginn erwähnten Eltern betrifft, ist die Forschung bislang nicht einmal bei der zuvor beschriebenen Trennung von Kirchlichkeit und subjektivem Glau- bensbezug angelangt. Noch immer wird eher unreflektiert betont, die Zustimmung hinsichtlich einer institutionalisierten religiösen Erziehung für die eigenen Kinder scheine ungebrochen (Spölgen 1996). Bei zahlreichen Untersuchungen wird darüber hinaus unterstellt, eine institutionalisierte religiöse Erziehung beinhalte auch glau- bensstarke Intentionen der Eltern. Daran anschließend wird einheitlich vorausgesetzt, die Religiosität der Eltern schlage sich in ihrem Handeln und der Art der Deutung der Alltagswelt nieder und präge so das kindliche Glaubensverständ-

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nis (vgl. Mette 1983; Bröking-Bortfeld 1994; Spölgen 1996). Die Frage, ob diese In- tentionen den Eltern tatsächlich zuzuordnen sind, wurde nie gestellt, obwohl doch hinlänglich diskutiert wird, dass "‘religiös sein’ und ‘eine Religion haben’ nicht mehr ganz selbstverständlich dasselbe“ ist (Soeffner 2000, 116).

Stattdessen gibt es Arbeiten zur historischen Entwicklung des Verhältnisses von kirchlicher Religion und Pädagogik seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, in denen darauf verwiesen wird, inwieweit sich die Verbindung (und die damit zu- sammenhängende fraglose Übernahme kirchlich erwarteter Religionspraxis) wandelte (Noelle-Neumann, Petersen 2001; Reichel 2000). Es gibt auch Untersu- chungen die darauf hinweisen, Religion sei seit den 70er Jahren weder richtungsweisend für die Schulordnung (vgl. Lassahn 2000), noch ein Kriterium für die pädagogische Wissenschaft. Doch auch wenn bis heute unbestritten ist, dass der Bildungsbegriff in der Tradition der Theologie steht, als Sinnform von Erziehung nimmt Religion inzwischen eher eine Randstellung ein. Bei der Lektüre bspw. erzie- hungswissenschaftlicher Arbeiten hat man vielmehr den Eindruck, der Zusammenhang beider Disziplinen sei für die Theorie inzwischen irrelevant oder wenn, dann nur noch aus der historischen Perspektive heraus erwähnenswert.

Welche Funktion der Familie und der religiösen Erziehung aus Sicht der Kirche zu- kommt, ist vielerorts nachzulesen (bspw. Spölgen 1994; Buhleier 1993, Bussinger- Simmen 1991; Schwab 1990; Jellouschek, Wessinger 1974); die Beweggründe der Eltern allerdings bleiben unklar. Es gibt bisher keine gesicherten und dokumentier- ten Erkenntnisse darüber, welche Erwartungen Eltern bspw. an eine institutionalisierte konfessionelle Primärsozialisation knüpfen. Auch wenn sicher ist, dass sich ein „facettenreiches und schillerndes Bild [ergibt], wenn man auf Familie und Religion in der Gegenwartsgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland blickt“ (Ebertz 1988, 412) - der diffuse Charakter von wahrnehmbarer ‘Familienreli- giosität’ wird nicht aufgeschlüsselt. Zum Teil, weil die Handelnden selbst sie weitgehend unreflektiert praktizieren, zum Teil aber offenbar auch, weil gerade bei Familien die Trennung von subjektiver Religiosität und beobachtbarer Kirchenbin- dung bisher theoretisch nicht nachhaltig genug unterschieden und analysiert wurde.

Auch ein diesbezüglicher Austausch zwischen Pädagogen und Eltern ist bislang nicht wissenschaftlich dokumentiert. Statt dessen gibt es vor allem Studien zum

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Wahlverhalten hinsichtlich Bekenntnisschulen (bspw. Arbeitskreis katholischer Schulen in freier Trägerschaft 1999), die allerdings sehr oberflächlich in ihrer Argu- mentation bleiben.

Meines Erachtens ist das bisher beobachtbare Desinteresse gegenüber familialen Entscheidungsmustern hinsichtlich einer konfessionellen Sozialisation der Kinder bemerkenswert, da ja gleich zwei Ebenen hier manifest werden, die einer Weiter- entwicklung bestehender Religionstheorien dienlich sein könnten: Zum einen die gesellschaftliche Bedeutung von Religion in der Eltern-Kind-Beziehung und zum anderen der Aspekt der Delegation von Erziehungsaufgaben an religiös orientierte Institutionen bzw. deren Organisationen, die doch für die eigene Person gemieden werden.

Mit der bewussten Wahl eines konfessionellen Kindergartens verleihen entkirchlich- te Eltern der religiösen Erziehung Gewicht und vertrauen darauf, dass die gewählte Institution ihren Vorstellungen und Zielen gerecht wird. Aber geht es tatsächlich um eine konfessionelle Anbindung für die eigenen Kinder? Dies würde darauf ver- weisen, dass Erziehung und Bildung im gesellschaftlichen Verständnis nicht derart säkularisiert sind, wie theoretische Abhandlungen und wissenschaftstheoretische Diskussionen dies vermuten lassen. Oder sind die Intentionen, in Anlehnung an das Konzept der Passagereligiosität, eher außerhalb transzendenter Bezüge zu suchen?

Welche Folgen hat dann die Privatisierung der Religion im Hinblick auf die Glau- bensvermittlung in den Familien für die gegenwärtige Gesellschaft mit sich gebracht?

Die Delegation von Erziehungsaufgaben ist im beobachtbaren Fall offenbar sehr eng mit der Glaubensinstitution verwoben – aber die Beweggründe und Intentionen der Eltern bleiben unklar; die Entschlossenheiten von Menschen, die sich trotz eigener Umorientierung für ihre Kinder (erneut) einer institutionellen kirchlichen Anbindung zuwenden, kann nicht mit Hilfe der zahlreichen Untersuchungen und den unter- schiedlichen vorliegenden Theorieansätzen aus der Soziologie oder Pädagogik rekonstruiert werden.

Darüber hinaus ist es mit der bloßen Unterscheidung von kirchengebundener Reli- giosität und subjektiven Glaubensbezügen meines Erachtens nicht getan. Natürlich kann diese Differenzierung dazu beitragen herauszufinden, inwieweit es in unserer Gesellschaft religiöse Bezüge außerhalb institutioneller Ordnungen gibt aber die

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kirchliche Seite findet hierbei zu wenig Beachtung. Noch immer scheint es ausrei- chend zu sein, auf schwindende institutionelle Anbindung aufmerksam zu machen.

Meines Erachtens vollzieht sich aber hier bereits seit geraumer Zeit eine Funktions- verschiebung hinsichtlich religiöser Institutionen, die am Beispiel der kindlichen Sozialisation in konfessionellen Einrichtungen gedeutet werden könnte.

Es klang bereits an: Vorliegende soziologische Theorien und religiös oder pädago- gisch orientierte Studien können die Beweggründe und Intentionen von Eltern im Hinblick auf die Wahl eines konfessionell geführten Kindergartens nicht erhellen oder gesellschaftlich einordnen. Bislang wird differenziert zwischen kirchenfernen Gläubigen und Christen, die im Sinne der Kirche ihren Glauben leben und sichtbar für die Umwelt praktizieren.7 Doch mit Blick auf Kirchgänger und Nutznießer ande- rer Offerten gibt es keine Unterscheidung. In die Kirche zu gehen oder andere institutionelle Angebote der christlichen Religion in Anspruch zu nehmen, heißt nicht unbedingt zugleich, dies (ausschließlich) aus religiösen Gründen zu tun. Mei- nes Erachtens gibt es neben den zu Recht differenzierten Gläubigen auch zu unterscheidende Teilnehmer institutioneller Angebote der christlichen Religion. Es gibt diejenigen, die nach wie vor aufgrund glaubenspraktischer Funktionszuschrei- bungen das institutionelle Angebot annehmen aber – und das ist zentral für diese Arbeit – es scheint auch Menschen zu geben, die der institutionellen Form von christlicher Religion glaubensferne Funktionen zuschreiben, bestehende Aufträge soziokulturell transformieren, ähnlich der Transformation religiöser Riten.

Relevant ist bei dem hier gewählten Beispiel auch, dass es nicht darum geht, wa- rum Menschen Institutionen der christlichen Religion für sich in Anspruch nehmen, sondern darum, aus welchen Zuschreibungen und Überlegungen heraus konfessio- nelle Institutionen und ihre Organisationen mit Blick auf die eigenen Kinder eine Bedeutung erhalten, die eventuell nichts mit Glaubensvorstellungen zu tun haben.

Zugespitzt geht es also darum, wofür konfessionelle Institutionen aus Sicht der El- tern in der Erziehung taugen. Es geht um die elterliche Zuschreibung, die zu einer bewussten Wahl konfessioneller Kindergärten führt.

7 Ich beschränke mich hier auf das Christentum bzw. die beiden großen Amtskirchen in Deutsch- land. Vor allem mit Blick auf den islamischen Glauben gibt es bereits erste Versuche, eine Funktionsverschiebung hinsichtlich der nicht religiös motivierten Frequentierung der Gotteshäu- ser zu rekonstruieren (exempl. Tibi 1994).

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Mit Blick auf die Taufe wurde bereits in verschiedenen Studien nachgewiesen, dass die rituelle Begehung eines Familienereignisses für viele Eltern im Zentrum steht (vgl. Hofrichter, Ball 1995; Gabriel 1996; Knoblauch 1997; Knoblauch 2000; Walden- fels 2003; Bauer 2005) aber wie ist dies bei der Wahl des Kindergartens? Auch hier kann vermutet werden, dass die Wahl nicht kongruent zu religiösen Sinnbezügen ist.

Warum suchen Menschen in Deutschland, die sich von der christlichen Kirche ge- löst haben, ihr unter Umständen nicht mehr als Mitglied nahe stehen, für ihre Kinder genau diese institutionelle Anbindung in Form konfessioneller Kindergärten? Daran schließt sich die eher allgemeine Frage an, welche Folgen die Privatisierung der Religion im Hinblick auf die Glaubensvermittlung in den Familien für die gegenwär- tige Gesellschaft mit sich gebracht hat bzw. bringt. Und nicht zuletzt, ob den Eltern diesbezüglich tatsächlich explizit religiöse Intentionen zuzuordnen sind.

Folgt man den Ergebnissen vorhandener Studien, ist konfessionelle Sozialisation von Kindern mit Blick auf die Eltern biographisch bedingt und entzieht sich säkula- ren Erklärungsmustern (exempl. Boos-Nünning 1974; Abeln 1979; Bandler 1979;

Beinert 1986; Behnken, Zinnecker 1993). Das heißt, es wird angenommen, nur religi- ös sozialisierte Menschen geben – wenn überhaupt – diese erlebte Erfahrung an ihre Kinder weiter und dies, trotz säkularem Umfeld, unhinterfragt.

Diese Analysen könnten dergestalt gedeutet werden, dass in einem konfessionellen Kindergarten nur Kinder religiös erzogener Eltern zu finden sind oder solche, deren Eltern aufgrund äußerer Umstände keine andere Möglichkeit der Unterbringung hatten und die angenommene religiöse Sozialisation innerhalb der Einrichtung le- diglich billigend in Kauf nehmen, sich aber nicht bewusst für sie entschieden.

Betrachtet man nun eine Studie aus Trier (Honig et al. 2004)8 fällt auf, dass einige Eltern angeben, den konfessionellen Kindergarten trotz eigenem Unglauben ganz bewusst gewählt zu haben. Offenbar muss es demnach neben der biographisch be- dingten Tradierung religiöser Vorstellungen auch andere Beweggründe geben, die eigenen Kinder mit konfessionellen Einrichtungen in Verbindung zu bringen – und

8 Das hier erwähnte Projekt trug den Titel „Evaluation der pädagogischen Qualität von Kinderta- geseinrichtungen im Prozess der Reform der Trägerstrukturen im Bistum Trier“ und wurde 2003 abgeschlossen. Es beschäftigte sich in erster Linie mit der Trägerreform des Landes, ging aber in den demographischen Fragen auch auf das Thema der eigenen Konfessionalität und die Wahlent- scheidung hinsichtlich des Kindergartens ein.

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diese, so ist zu vermuten – sind nicht religiös bedingt. 9 Es gibt aber bisher keine gesicherten Erkenntnisse darüber, welche Erwartungen Eltern an eine institutiona- lisierte katechetische Primärsozialisation knüpfen.

Es sollte inzwischen deutlich geworden sein, dass es in der vorliegenden Arbeit nicht darum geht, was Eltern glauben, sondern um die Frage, welche Funktion sie der christlichen Religion im Sozialisationsprozess ihrer Kinder zuschreiben und aus welchen Überlegungen heraus sie eine institutionalisierte Form der Glaubensver- mittlung bei der Erziehung in Anspruch nehmen.

9 Auch die christlichen Kirchen versuchten, auf die Entwicklung der Privatisierung des Glaubens zu reagieren und suchten nach Antworten hinsichtlich des beobachtbaren Wertewandels (vgl. Han- selmann et al. 1984; Engelhardt et al. 1997). Allerdings wurde von allen Beteiligten vorausgesetzt, nicht die Suche nach verbindlichen Antworten auf die Sinnfrage des Lebens in dieser Welt sei in- opportun geworden, sondern eher deren institutionalisierte Form (Mette 1983, 70 ff). Die Untersuchungen waren nur mäßig erfolgreich, machten aber einen Aspekt transparent, der auch im Hinblick auf das Konzept der ‘unsichtbaren Religion’ eine Rolle spielt: Das geringe Niveau der Teilnahme am Sonntagsgottesdienst ist nicht gleichzusetzen mit völliger Beziehungslosigkeit der Kirche gegenüber (vgl. Studien- und Planungsgruppe der EKD 1993).

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2 Theoretische Rahmung

Das Phänomen der Säkularisierung in der Spät-Moderne

Wir leben in einer säkularisierten Gesellschaft, die durch Pluralismus, Entinstitutio- nalisierung und zunehmende Individualisierung gekennzeichnet ist.10

Was aber bedeutet das?

Vor dem Hintergrund der vorläufigen zentralen Forschungsfrage dieser Studie sol- len im Folgenden einige theoretische Bezüge genauer betrachtet werden. Es geht mir nicht darum, Definitionen in ihrer Fülle darzustellen oder in Gänze zu beleuch- ten, sondern darum, die späteren empirischen Ergebnisse in ein vorfindbares theoretisches Gefüge einzubetten und Hintergründe, Vorannahmen und die ge- wählte Semantik auf diese Weise transparent zu machen. Vor allem aber möchte ich zunächst mit Hilfe einer Rahmung eine theoretisch ausgewiesene und begrifflich präzisierte Fragestellung präsentieren.

Religion ist im Alltag kein Randthema – wohl aber in ihrer theoretischen Ausrich- tung. Versteckt ist Religion in unserer Gesellschaft durch Symbole, Zeichen und nicht zuletzt durch die Medien ständig präsent – wenn dies für viele auch nicht (mehr) unbedingt offensichtlich ist.11 In einem Jahrhunderte langen Christianisie- rungsprozess haben sich religiöse Bezüge abgelagert, die oft unbemerkt oder unhinterfragt in das Alltagsleben mit einfließen. Dies hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf angewandte und beobachtbare Erziehungskonzepte. Auch wenn es keine offensichtliche Rückbindung von Erziehung an religiöse Traditionen (mehr) gibt, ist der Abbau religiöser Gehalte, Sinnstrukturen und Motivschichten keines- falls abgeschlossen und daher auch nicht derart eindeutig erklärbar, wie es die Theoriedebatte bspw. in den Erziehungswissenschaften vermittelt.

Wird von der säkularen Gesellschaft gesprochen, geht es in aller Regel um charakte- ristische Merkmale einer bereits länger andauernden Gesellschaftsentwicklung (vgl. Kaufmann 1989, 32 ff.). Es wird mit der Verwendung des Begriffs und seiner

10 Laut Berger und Luckmann sind gemeinsame und übergreifende Deutungsmuster für Europa be- reits sehr früh ins Wanken geraten. Ihrer Ansicht nach ist dies auch ein Hinweis darauf, dass einheitliche Deutungssysteme kein Strukturmerkmal moderner Gesellschaften sein könnten und keinesfalls mit „radikalen Regressionsversuchen“ zurückrufbar seien (Berger, Luckmann 1995, 32).

11 Man denke nur an die mediale Präsenz bei dem Tod und der Beerdigung von Johannes Paul II.

2005

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Einführung als Kategorie theoretischer Überlegungen darauf verwiesen, dass der Bezug auf das religiöse Element in der Gesellschaft (zumindest in unserer) inzwi- schen nicht ohne weiteres erwartet werden kann, sondern zunehmend erklärungsbedürftig ist.

Noch immer gehört Säkularisierung für die meisten Soziologen zu den konstitutiven Dimensionen gesellschaftlicher Modernisierung (vgl. Gabriel 2003). Aber unter dem Begriff, der ursprünglich die Einziehung kirchlichen Vermögens und Grundbesitzes thematisierte, und im 19. Jahrhundert in den deutschen Geisteswissenschaften zur

„Parole kultureller Emanzipation“ wurde (Wohlrab-Sahr 2001, 312), werden heute verschiedene Entwicklungen subsummiert, ohne sie zu differenzieren (vgl. Casano- va 1996).12 Die Verwendung des Konstrukts ‘Säkularisierung’ wirft für die Religionssoziologie eine Reihe von Interpretationsproblemen auf. Es beinhaltet den fortlaufenden Prozess der Freisetzung profaner Verhaltens- und Bewusstseinsstruk- turen aus dem Einflussbereich religiös bestimmter Vorstellungen. Ich werde mich hier Fürstenberg anschließen, der vier Bereiche unterscheidet, wenn es darum geht, das Säkularisierungsphänomen in eine These umzuwandeln (Fürstenberg 1999).

Neben dem Aspekt der Entkirchlichung, thematisiert er auch die Subjektivierung von Religiosität und den Gesichtspunkt der Säkularisierung als Entwicklungspara- digma. Schließlich – und das ist für mich hier zentraler Bestandteil der Diskussion hinsichtlich der vorliegenden Arbeit – geht es ihm um den Komplex der Profanisie- rung, den er am Beispiel von Sprache und bildender Kunst erörtert (ebd., 11 ff.).

Ich lenke den Blick sehr bewusst auf den Aspekt der Profanisierung, da es bei der Wahl eines konfessionellen Kindergartens nicht um den Rückzug religiöser Über- zeugungen ins Private geht – ganz im Gegenteil. Auch scheint mir nicht der Verlust

12 Im 19. Jhdt. entstand in Frankreich und Deutschland zeitgleich die Soziologie, bei deren religions- soziologischen Ansätzen verschiedene Fassungen von Säkularisierungstheorien entstanden. Ich möchte an dieser Stelle nur zwei kurz erwähnen, da ich auf beide noch näher eingehen werde:

Während Emile Durkheim ein Konzept der säkularen Religion entwickelte und davon überzeugt war, die Gesellschaft bleibe auf eine, wie auch immer geartete, Religion angewiesen, da sie das kollektive Ideal repräsentiere und den einzelnen in ein Verpflichtungsverhältnis einbinde, betrach- tete Max Weber Säkularisierung vor allem vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Differenzierung. Für Weber war die Herauslösung sozialer Teilbereiche aus dem Einflussbereich der Religion zentral und er folgerte daraus, dass es zur Konkurrenz einzelner Bereiche mit der Reli- gion käme, nicht aber zu deren Autonomie. Weber sprach von der „Entzauberung“ der Welt und glaubte, der beobachtbare Rationalisierungsprozess werde nicht von außen an die Religion heran- getragen, sondern von ihr selbst aktiv forciert. So nahmen Weber und Durkheim den Bedeutungsverlust von Religion im Sinne einer substantiellen Religion an und sahen den Pluralis- mus als Indiz für die Schwächung von Religion. In neueren Ansätze wird Pluralismus dagegen als konstitutiv beschrieben, womit folgerichtig auch zunehmend von der religiösen Individualisierung gesprochen wird (vgl. Gabriel 1994).

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religiöser Bezüge in Entscheidungsprozessen und Handlungsmustern vordergrün- dig relevant zu sein.

An zwei Beispielen versucht Fürstenberg zu erläutern, inwieweit bereits vor 50 Jah- ren beobachtbar war, dass bestimmte religiöse Formen im Zuge des Säkularisierungsprozesses aus ihrem Bezug gelöst und zu profanen Darstellungen verwendet wurden (Fürstenberg 1999, 11 ff.). Er beruft sich dabei auf Arbeiten, die Ende der 50er Jahre entstanden und sich mit der beobachtbaren Bedeutungsverla- gerung ursprünglich religiös motivierter Darstellungsformen beschäftigen (Lankheit 1959; Schöne 1958). Neuere Arbeiten hierzu gibt es augenscheinlich nicht, wobei meines Erachtens auch in anderen Bereichen als Sprache oder bildender Kunst der- artige Herauslösungen „meist theologisch fixierter Vorstellungen“ beobachtbar sind, bei denen „Formen und teilweise auch Inhalte ihrer Heilsbedeutung entkleidet [werden] und als Bestandteile vernünftiger Weltinterpretation fortwirken“ sollen (Fürstenberg 1999, 10).

Was aber bedeutet nun Säkularisierung für unsere heutige Gesellschaft, einmal ab- gesehen von der hier untersuchten Teilgruppe? Dies fragte auch Habermas vor einigen Jahren (Habermas 2001) und betonte, dass Gläubige und Ungläubige noch immer aufeinander prallten, sobald es zu existentiell relevanten Fragen in der Ge- sellschaft käme. Luckmann dagegen wies bereits vor 30 Jahren darauf hin, dass sich die angeblich beschleunigte Säkularisierung moderner Gesellschaften nicht belegen lasse – und dies hat meines Erachtens nicht nur damit zu tun, dass die in der Verfassung festgeschriebenen säkularen Entscheidungsgrundlagen keineswegs immer zugunsten einer Seite bewerten, wie Habermas vermutet.

Für diese Arbeit soll der Begriff für die verzweigte Entwicklung in der Gesellschaft stehen, sich von religiös bestimmten Vorstellungen zu lösen oder aber diese für die eigenen Interessen zu modifizieren und sie aus ihrem ursprünglich religiösen Bezug zu lösen.

An dieser Stelle scheint es mir erforderlich, näher auf den Begriff der Religion einzu- gehen, bevor darüber gesprochen werden kann, von wem oder was sich die moderne Gesellschaft theoretisch betrachtet getrennt hat bzw. trennt. Es soll zu- nächst der Blick auf Konzepte gerichtet werden, die bereits eine Funktionsverschiebung bzw. einen, vom klassischen Verständnis abweichenden Umgang mit Religion thematisieren. In diesem Zusammenhang spielt natürlich die

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bereits erwähnte Säkularisierungsdebatte eine nicht unerhebliche Rolle. Es geht mithin um die Frage, inwieweit die theoretisch vollzogene Trennung von Kirchlich- keit und subjektivem Glaubensbezug gesellschaftlich längst durch eine Funktionsverschiebung relativiert wurde – beobachtbare ‘Kirchlichkeit’ also gar nicht ohne weiteres mit institutionell gebundener Religiosität gleichgesetzt werden kann.

Im Anschluss werde ich verdeutlichen, welche Akzente im Hinblick auf eine zu- nehmende ‘Subjektivierung’ von Religion in der Gesellschaft von mir aufgegriffen und gegebenenfalls modifiziert werden. Hierbei verstehe ich Religion als eine au- ßerhalb der Familie liegende Sinnbildung, die die Familie bzw. die Eltern ganz bewusst einzubeziehen versucht. Was die Frage erlaubt, warum religiöse Vermitt- lung außerhalb der Familie diskutabel erscheint – mit anderen Worten, welche Relevanz konfessioneller Sozialisation in unserer westlichen Gesellschaft (noch im- mer) zugeschrieben wird, dass ihre Vermittlung nicht von außen kommen soll?

Mit einem Blick auf religiöse Traditionen und ihre beobachtbare gesellschaftliche Entwicklung, wird in diesem Zusammenhang auch das Phänomen der ‘Passagereli- giosität’ näher zu beleuchten sein.

2.1. Religion

Vom kollektiven zum subjektiven Sinnanbieter

Folgt man der klassischen Religionssoziologie in Europa, wurde die Funktion von Religion zwar je abhängig vom historischen und gesellschaftspolitischen Kontext interpretiert aber ihr wurde immer eine zentrale Rolle für den Menschen zuge- schrieben. Dem Heiligen, auch wenn es in unterschiedlichen Formen vorgestellt und erörtert wurde, fiel dabei in fast allen Theorien die Funktion zu, gegenüber den dif- ferenten Erfahrungen in der ‘Wirklichkeit’ einen Bezugspunkt zu schaffen, in dem die Welt als Ganzes erfahrbar, als sinnhaft geordnet erlebbar wird. „Während sich die Religionswissenschaft gerne von Hegel und Schleiermacher ableitet, beruft sich die Religionssoziologie auf Autoren wie Max Weber, Emile Durkheim oder Georg Simmel, die ... ihre Fragestellungen, ihre Begrifflichkeiten und ihren Themenbereich wesentlich bestimmt haben“ (Knoblauch 1999a, 37).

Ich werde hier vornehmlich auf Weber und Durkheim verweisen und die ihnen vo- rangegangene Religionskritik nur kurz zu deren besserer Einordnung streifen.

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Zu Beginn steht die Kritik. Dieser Religionskritik, bei der es vornehmlich um die jen- seitigen Ansprüche von Religion geht, war die „Erfahrung einer zunehmenden Trennung von Reich und Kirche, von ‘Imperium’ und ‘Ecclesia’ voran“ gegangen (ebd., 22).

Kant ging davon aus, der Geist spiele eine entscheidende Rolle im Erkenntnispro- zess und verband Religion mit der Moral. Ich erwähne diese, von Hume und der Aufklärung beeinflusste Sichtweise, da Kant erheblichen Einfluss auf die späteren Vorstellungen von Weber und Durkheim hatte.13 Marx sah in der Religion einige Jahre nach Kant das Produkt des vergesellschafteten Menschen. Sie sei die Auslie- ferung an scheinbar übermenschliche Mächte, die in Wirklichkeit nichts anderes als die Macht von Natur und Menschheit darstellten.14 Hier ist sehr deutlich eine Ge- sellschaftskritik zentraler Bestandteil der Einordnung von Religion. Grundlegende Erkenntnis ist die Verknüpfung religiöser Vorstellungen von Gruppen mit den jewei- ligen (wirtschaftlichen) Interessen. „Sowohl Marx wie Nietzsche ... deuten ...

Erklärungen der Religion an, die deutlich soziologische bzw. sozialpsychologische Züge tragen“ (Knoblauch 1999a, 32). Die sich entwickelnde Religionssoziologie fand demnach vornehmlich Überlegungen zu Religion vor, die die einengende, kontrollie- rende Komponente betonten. Die Religionskritik akzentuierte Machtverhältnisse und die beobachtbaren jenseitigen Ansprüche von Religion. Es ging um etwas ‘au- ßerhalb’ des Menschen verortetes, das ihn anleitete, so die Vorstellung, welches Verhalten angebracht sei und dies auch gegebenenfalls ahndete.

Die nachfolgende Phase versuchte hingegen, das Phänomen wissenschaftlich zu erklären. Es ging jetzt darum, inwieweit Religion in der Lage sei, grundlegende Antworten zu liefern, womit ihr eine sinnvermittelnde Funktion zugeschrieben wur- de.

Ausgangspunkt der Religionssoziologie des 19. Jahrhunderts war bereits eine Theo- rie zunehmender Säkularisierung mit beobachtbarer Rationalisierung und Differenzierung; womit sie sich in wesentlichen Punkten von der vorangegangenen Religionskritik unterschied. Jetzt war Religion selbst Gegenstand der Untersuchung

13 Immanuel Kant, 1724-1804 hatte bedeutenden Einfluss durch den sich im 19. Jahrhundert entwi- ckelnden Neukantianismus auf die Vorstellungen von Religion.

14 Karl Marx (1818-1883) setzte an der materialistischen Religionskritik von Feuerbach an und radika- lisierte Religion zur historischen Kategorie (Marx 1953-58; III, 31).

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und der Fokus lag bei der Betrachtung religiöser Erfahrung aus der Perspektive der menschlichen Vernunft. „Ehemals suchte man zu beweisen, dass es keinen Gott gebe – heute zeigt man, wie der Glaube, dass es einen Gott gebe, entstehen konn- te“ (Nietzsche 1900, 89).

Bedeutete Religion für Marx in seiner Kritik noch die Auslieferung an scheinbar übermenschliche Mächte, ging es Weber in seiner Religionssoziologie um die Ver- wissenschaftlichung der marxistischen Religionskritik.15 Für Weber lag der Grund für die massenhafte Ausbreitung der kapitalistischen Wirtschaft seiner Zeit in der calvinistischen Ausprägung der protestantischen Ethik, in dem der berufliche Erfolg dem Individuum als Kennzeichen von Gottes Liebe ihm gegenüber diene (vgl. Mörth 1978). Er nahm in seiner Betrachtung von Religion zunächst die Fragestellung von Kant, Marx und Nietzsche auf16 und fragte vor allem nach der kulturellen Bedeutung von Religion.17 Ihn interessierte, welchen Einfluss religiöse Vorstellungen auf die Wirtschaft hätten und fand vornehmlich im Calvinismus die besondere Betonung des Berufes. Diese Betonung bezeichnete Weber als die ‘protestantische Ethik’18 und richtete sein Augenmerk auf die Folgen für das praktische Handeln.19 Weber zeichnete das Bild einer Entzauberung: Indem andere Bereiche von der Religion pro- fitierten – wie bspw. die Wirtschaft – seien sie ohne sie nicht mehr denkbar, doch sie profilierten sich zu eigenständigen Systemen und würden die religiösen Wurzeln abstoßen.

Somit ist bei Weber das diesseitige Handeln auf das Jenseits ausgerichtet; Religion übernimmt die Aufgabe der Bereitstellung außerweltlicher Errettung von weltlichen

15 Marx setzte an der materialistischen Religionskritik von Feuerbach an und radikalisierte Religion zur historischen Kategorie (Marx 1953-58; III, 31). Weber dagegen faßte die geschichtliche Ent- wicklung als Geschichte der Säkularisierung auf.

16 Max Weber (1864-1920) war schon zu Lebzeiten ein Mythos; er lehrte unter anderem in Freiburg und Heidelberg und prägte nachhaltig den Begriff der Säkularisierung, die ihren Ursprung seiner Meinung nach in der ‘protestantischen Ethik’ hat (Mörth 1978).

17 Weber hat im Grunde keinen definierten Religionsbegriff. Er weigerte sich stets, Religion zu defi- nieren. Trotzdem lässt sich ein Religionsbegriff rekonstruieren, da Weber sich mit der Unterscheidung von religiösem und magischem Handeln beschäftigte.

18 Vgl. Weber 1988

19 Die Grundlage dieser Ethik ist die Prädestinationslehre, die das menschliche Leben ausschließlich durch die Verherrlichung Gottes als sinnvoll gelten lässt. Nach dieser Lehre ist bereits vor der Ge- burt für jeden Menschen vorbestimmt, wie sich sein Lebensweg und das ‘Leben nach dem Tod’

gestaltet. Der berufliche Erfolg wird als Zeichen gedeutet, dass Gott dem Individuum gegenüber gnädig gestimmt ist.

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Beschwerlichkeiten; die Funktion der Sinngebung rückt ins Zentrum der Betrach- tung von Religion.

Durkheim dagegen, ein Zeitgenosse Webers, stellte vor allem die Religion in nicht europäischen Kulturen in den Mittelpunkt seiner Gesellschaftstheorie.20 Für ihn be- zeichnete Religion eine soziale Kategorie, wobei das Kernstück seiner Analyse die Hinwendung zum sozialen Leben darstellte. Für Durkheim waren religiöse Über- zeugungen ein Integrationsfaktor der Gesellschaft, der als normatives Wertesystem funktioniere. Er war der Meinung, "die Aufteilung der Welt in zwei Bereiche: in ei- nen heiligen und in einen profanen, ist das bestimmende Merkmal religiösen Denkens" (Durkheim 1981, 37) und ging davon aus, dass die Analyse grundlegender Formen von Religion wesentliche Funktionen zutage brächte, die als Voraussetzung jeglicher Religion gesehen werden könnten. So erfülle Religion zunächst die Funkti- on der Vergesellschaftung: Das Individuum wird Teil eines Kollektivs. Durkheim gliederte diese Aufgabe in mehrere Teilfunktionen wie etwa die Aufgabe der Integ- ration, der Normenbereitstellung und schließlich auch die Funktion der Strukturierung des Denkens. „Soll eine Gesellschaft bestehen bleiben, müssen die elementaren Funktionen der Religion erfüllt werden.“ (Knoblauch 1999a, 70). Er fragte danach, welche sozialen Gebilde Lösungen für individuelle Probleme bieten und fand in der Religion eine Antwort.

Die klassische Phase der Religionssoziologie ‘endete’ mit Überlegungen, die sich vornehmlich mit der Zuschreibung von gesamtgesellschaftlich relevanten Funktio- nen auseinander setzten. Noch immer ging es um ein außerhalb des Menschen zu verortendes Phänomen, doch jetzt wurde weniger die mögliche Bestrafung ‘fehler- haften’ Verhaltens fokussiert, sondern mehr die Aussichten, die den Menschen durch Religion offen zu stehen scheinen.

Es folgte eine stark empirisch orientierte Neugestaltung der wissenschaftlichen Ar- beiten; die Zeit der ‘Kirchensoziologie’. Diese orientierte sich vor allem an der kirchlichen Praxis und beschäftigte sich mit der Frage, wie denn Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft Auswirkungen auf Struktur und Einstellung der Mit- glieder habe. Beschränkt man die Betrachtung auf das Christentum, kann „diese

20 Emile Durkheim (1858-1917) war Sohn eines Rabbiners, sagte aber von sich selbst, wie schon We- ber, er sei ‘religiös unmusikalisch’. Er war unter anderem Ordentlicher Professor für Pädagogik und Soziologie an der Sorbonne in Paris.

(23)

Entwicklung ... im 19. und mehr noch im 20. Jahrhundert in unserer Gesellschaft ...

als ‘Verkirchlichung des Christentums’ erfasst und beschrieben werden. Gemeint ist damit eine zunehmende Organisierung der christlichen Religion im Bereich der Kirche und die gesellschaftliche Festlegung des Christentums auf seine kirchlichen Erscheinungen“ (Bettinger 1994, 88). Die gesellschaftliche Entwicklung führte dazu, dass das Christentum im alltagssprachlichen Sinn zu einem spezifischen Bereich der Gesellschaft wurde – durch die Kirche als Organisation repräsentiert. „Die Fol- gen für das Christentum sind ebenso ambivalent wie vielschichtig: ... So wird in der Konsequenz dieser ‘Verkirchlichung des Christentums’ die Kirche zunehmend als Organisation und Dienstleistungsunternehmen, und nicht als ‘Volk Gottes’ erlebt“

(ebd., 89).

Vor allem Luckmann meldete grundsätzliche Kritik an den kirchensoziologischen Messungen an. Er reklamierte, man habe die klassischen Fragen der Religionssozio- logie aus den Augen verloren und lasse sich von kirchenpolitischen Interessen leiten (Luckmann 1960).

Diese Kritik blieb nicht folgenlos. „Auf der einen Seite verfeinerte die Kirchensozio- logie ihre Methoden; auf der anderen Seite wurden auch wieder Fragestellungen verfolgt, die sich stärker an den theoretischen Problemen der klassischen Religions- soziologie orientierten“ (Knoblauch 1999a, 95).

Vor allem in den theoretischen Arbeiten kam es in der Folge zu einer ‘Funktionsver- schiebung’ von Religion. Nicht mehr die zentrale Rolle für die Gesellschaft an sich war jetzt Thema, sondern die Auseinandersetzung mit der individuellen, oft nicht unbedingt öffentlich sichtbaren Bedeutung von Religion.

Berger und Luckmann sprachen von einer „unsichtbaren Religion“ und nahmen damit nicht nur Bezug auf klassische Komponenten der Auseinandersetzung, son- dern auch auf die Ergebnisse kirchensoziologischer Arbeiten (Berger, Luckmann 1992; Luckmann 1991). Doch die abnehmende Kirchlichkeit war für sie nicht Aus- druck nachlassender Religiosität, sondern ein Zeichen dafür, dass sich Religion im Subjektiven bewähren müsse. Nicht das Individuum, sondern lediglich die Sozial- struktur sei säkularisiert, folgerte Luckmann (Luckmann 1991). Somit wird hier im Grunde zum ersten Mal ein Aspekt thematisiert, der auch heute noch Kern vieler religionssoziologischer Überlegungen ist. Religion wird nicht mehr bezogen auf et- was außerhalb des Menschen Verortbares, sondern auf eine Erfahrung innerhalb

(24)

des Seins. Nicht ‘Etwas’ diktiert Regeln oder offeriert Optionen des Verhaltens, son- dern Religion ist im Menschen selbst und muss dort erfasst und zugrunde gelegt werden – oder aber nicht. Wie zuvor Weber und Durkheim stellten auch Berger und Luckmann Religion als zentrale Dimension menschlicher Existenz heraus – mit der Betonung, Religion sei zunehmend eine ‘Kann-Option’ und nicht für alle strukturie- rend und objektivierend. Im Laufe ihrer Analysen entfernten sich beide inhaltlich allerdings voneinander.21

Luckmann spricht dem Selbst zunehmende Relevanz zu und betont, Religion müsse sich im Ich bewähren, könne aber weiterhin die Unbestimmtheit des Welthorizonts in einen komplexen, begründeten Sinnhorizont verändern – zumindest für den Ein- zelnen (vgl. Luckmann 1991). Diese beobachtbaren Modelle ‘privater Religion’

führten zu neuen Sozialformen und ließen sie auf den ersten Blick „unsichtbar“ er- scheinen, so Luckmann.

Es wird demnach versucht, gelebte Religiosität mit der kirchensoziologisch beo- bachteten Abnahme kirchlicher Bindung in Verbindung zu bringen. Die rückläufige Beziehung zu gesellschaftlich etablierten und verbindlichen Erscheinungsformen wird mit der zunehmenden Differenzierung in der Gesellschaft begründet aber nicht als Zeichen schwindender Religiosität interpretiert.

So wurde in der Folge Religion soziologisch immer mehr in die alltäglichen Lebens- zusammenhänge eingebettet und verlor damit ihre zugeschriebene gesamtge- sellschaftliche Funktion – beobachtbar und auch theoretisch.

Heute wird vornehmlich die durch Religion mögliche Kontingenzbewältigung des Einzelnen in den Vordergrund gerückt. Es zeichnet sich eine Religionssoziologie ab, die empirisch wie theoretisch offen ist und in der Analyse bspw. auch Zusammen- hänge von Religion, Wissen und Kultur im Hinblick auf Lebensführung und –bewältigung hinterfragt (vgl. Soeffner 2000; Tenbruck 1989). So zahlreich die Mög- lichkeiten eines Verhältnisses von Lebenswelt und religiöser Sinnstiftung sein

21 Berger folgte eher den Überlegungen Webers und betonte, Religion sei in der säkularisierten Ge- sellschaft lediglich ein Sinnanbieter unter vielen. Bei ihm wurde und wird Religion verbunden mit der Errichtung und Erhaltung bestimmter Weltdeutungen (vgl. Berger 1994). Luckmann dagegen folgte und folgt eher den Ideen Durkheims und definiert Religion funktionalistisch aber offen wenn er davon spricht, dass Religion der Prozess der Menschwerdung sei. Bei ihm wird Religion viel weiter verstanden als bei einem substantiellen Ansatz.

(25)

können, so unerschöpflich sind auch die diesbezüglichen religionssoziologischen Ansätze.

Auf die Funktion von Religion bezogen, kann schon lange keine einheitliche Ant- wort gegeben werden. Die Theorien variieren von der Annahme, Religion bestimme die letzten Grenzen menschlichen Handelns (Döbert 1973), über die Vorstellung, Religion ermögliche die Fixierung und Anerkennung fundamentaler Normen kom- munikativen Handelns (Habermas 2001), bis zur Weiterführung der Ideen Bergers und Luckmanns und zur Einmündung der ‘unsichtbaren Religion’ in eine ‘Subjekti- vierung von Religiosität’, bei der die individuellen religiösen Erfahrungen ins Zentrum der Betrachtung rücken (Knoblauch 1993; 1998; 2000).

Doch im Grunde geht es noch immer um religiöse Sinnstiftung – wenn nicht für eine ganze Gesellschaft, dann zumindest für die je individuelle Lebenswelt; egal, ob nun von ‘religiöser Individualisierung’ (Gabriel 1996; 2003), ‘Entprivatisierung’ (Casano- va 1994; 1996) oder ‘Subjektivierung’ (Knoblauch exmpl. 1998) die Rede ist.22

Die Funktion von Religion hat sich demnach in der Religionssoziologie vor allem in ihrem (ihr zugeschriebenem) Wirkungskreis verschoben. Noch immer kann als Reli- gion gelten, was als Identität stiftend (Sinnvermittlung), sozialintegrativ (gesell.

Zusammenhalt sichern), moralisch („richtiges“ Handeln in außeralltäglichen Situati- onen ermöglichen), Kontingenz bewältigend (Umgang mit Leid, Unrecht), prophetisch (Distanzierung von gegebenen Sozialverhältnissen) und kosmisierend (weltumfassend, erhöhen und auf eine andere Ebene heben) erfahren wird (Kauf- mann 1989; Gabriel 2003). Auch wenn nicht einheitlich beantwortet wird, ob Religion noch immer das Sinngebende des menschlich-gesellschaftlichen Daseins an sich darstellt (Luckmann 1963).

2.1.1. Subjektivierung von Religion

Die theoretisch angenommene Entwicklung hin zur Subjektivierung erscheint mir im forschungsrelevanten Rahmen eine exponierte Stellung einzunehmen. Subjekti- vierung meint im Hinblick auf Religion zweierlei. Zum einen wird mit dieser Bezeichnung darauf verwiesen, dass nicht mehr der religiöse Experte, sondern jeder

22 Knoblauch versteht unter einer zunehmenden Subjektivierung die Bildung sozialer Strukturen und Gemeinschaften, die durchaus kein neues Phänomen darstellen, sondern den religiösen Typ von Vergemeinschaftung kennzeichnen, den Troeltsch mit dem Begriff der ‘Mystik’ beschrieb. Doch im Unterschied zu Troeltsch betont Knoblauch die Häufikeit zu beobachtender Subjektivierung (vgl.

Knoblauch 1997).

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Einzelne tendenziell zum Spezialisten religiöser Erfahrung geworden ist (Soeffner 2000). Zum anderen beschreibt der Begriff den Umstand, dass sich Religion heute in der subjektiven Erfahrung bewähren muss, in ihr verortet ist und nicht mehr unbe- dingt als Sinngefüge der Gesellschaftsordnung generell gelten kann (Luckmann 1963).

Dem Einwand, Religion und Modernität seien zwei sich ausschließende Größen, „da eine Zentralinstanz, die die Welt im Innersten zusammenzuhalten imstande wäre, der Gesellschaftsstruktur der Moderne diametral widerspricht“ (Nassehi 1993, 3), begegnet Luckmann mit dem Argument, die moderne Gesellschaft erlaube zwar auf Grund ihres dezentralen und pluralistischen Aufbaus kein solches auf eine Spitze oder ein Zentrum hin ausgerichtetes Religionsverständnis mehr23, doch Religion fin- de sich nichtsdestotrotz „überall da, wo aus dem Verhalten ... moralisch beurteilbare Handlungen werden“ (Luckmann 1991, 165). Für ihn wird subjektiver Glaube überall dort möglich – und nur dort – wo es zu Spannungen zwischen profa- nen und sakralen Daseinserfahrungen kommt (vgl. Luckmann 1963).

„Der starken Individualisierung und dem erheblichen Rollenpluralismus moderner Vergesellschaftung Rechnung tragend, siedelt Luckmann die Religion nun in der je individuellen Wirklichkeitsstruktur von Personen an, bei denen diejenigen psychi- schen Relevanzen religiöse Funktionen erfüllen, die als letzte Bedeutung erfahren werden. Das können nach Luckmann sowohl traditionale kirchlich-religiöse Inhalte sein, aber auch andere Wirklichkeitsbereiche, die durch sekundäre Institutionen vor allem massenmedial vermittelt werden“ (Nassehi 1993, 4).

Grundgedanke ist hier, dass der entstandene Interessenpluralismus auf der einen Seite dazu geführt hat, dass der Einzelne an Autonomie gewann – was auf der an- deren Seite bedeutet, dass er nun auch mehr Eigenverantwortung für sein Handeln entwickeln muss. 24 So werden Menschen nach Ansicht von Luckmann zu ‘Bastlern’

ihrer persönlichen Identität, was auch ihre Religiosität beinhaltet (vgl. Luckmann 1988).

Im Hinblick auf kirchliche Bindung betont er, Kirchen und ihre Sinndeutungen hät- ten zwar zunehmend an gesellschaftlicher Relevanz verloren und seien inzwischen

23 Siehe hierzu ausführlich Luckmann 1980, 161-172.

24 Siehe hierzu ausführlich auch Oevermann 1984.

(27)

lediglich ein ‘besonderer Ort’ für das System religiöser Denk- und Verhaltensformen (Luckmann 1963, 41), doch das Fehlen einer Unterstützung von ‘offizieller Seite’ ma- che die privaten Systeme auch fragil. Luckmann spricht hier die zunehmende Bedeutung der Privatsphäre an und den Umstand, dass neben dem offiziellen Mo- dell von Religion ein ganzes „Warenlager letzter Bedeutung für den einzelnen bereitsteht“ (Luckmann 1991, 145).

Er vertritt ein Konzept von Glauben, das mit ‘Sinngefüge’ ein menschliches Selbst- verständnis in der jeweiligen Daseinswelt meint (vgl. Luckmann 1963). Der Mensch, so ist sich Luckmann sicher, glaubt oder besser benötigt Glauben, um mit der kom- plexen Umwelt zurechtzukommen, um die Grundprobleme der Komplexitäts- reduktion menschlicher Erfahrung und Handlungsmöglichkeit zu bewerkstelligen.

Für ihn ist Religion dabei eine Möglichkeit, Umweltbeziehungen für den Einzelnen zu strukturieren und zu objektivieren; ‘Nicht-Alltäglichkeit’ in die Wirklichkeit mit einzubeziehen. Aus diesem Grund ist für Luckmann auch das Individuum nicht ‘sä- kularisierbar’, denn die Erfahrung des „Nicht-Ich“ bleibt immer bestehen, auch wenn institutionelle Religion gesellschaftlich an Einfluss verliert. Er lehnt vielmehr eine Betrachtung von Religion ab, die auf eine institutionalisierte Gestalt fixiert ist (Kreiner 1986, 164ff.) und somit sind seines Erachtens bspw. Entscheidungen wie Gut und Böse, Richtig oder Falsch keine einzeln zu verstehenden Alternativen, son- dern nur im Rahmen eines sozialen Gefüges fassbar (Luckmann 1963, 36).

Religion bietet für Luckmann eine Wirklichkeitskonstruktion an, die auftretende Grenzerfahrungen thematisiert und es dem Einzelnen ermöglicht, die eigene Natur sozial zu transzendieren, also persönliche Erfahrungen durch intersubjektiv soziale Erlebnisse zu überschreiten. Das menschliche Leben erfährt seines Erachtens Sinn- bezug durch das gesellschaftliche Dasein – ein isoliertes Individuum ist für Luckmann bloße Fiktion (vgl. Luckmann 1963).

Zentral für ihn ist auch der Aspekt der Kommunikation. Luckmann geht davon aus, dass Religiosität trotz ihrer ‘Unsichtbarkeit’ begrifflich fassbar ist, da sie eine be- sondere Form der symbolischen Kommunikation darstellt. Gerade in Face-To-Face- Situationen vollzieht sich Transzendenz – also das Ablösen von der eigenen Erfah- rung. Indem ein äußerer Blickwinkel mit in die eigene Betrachtung einbezogen wird, können subjektive Denkwege verlassen werden (vgl. Knoblauch 1997).

(28)

Doch die Kommunikation mit anderen birgt auch Gefahren – gerade im Bereich der religiösen Verständigung. Sprache, also ein Gefüge sinnvoller Lautungen, das in bestimmten Anordnungen Bedeutung hat (vgl. Luckmann 1984), ist im Alltagsleben verwurzelt. Doch lt. Luckmann ist Religion eine besondere konventionalisierte Form, die sich gegen den Alltag ausdifferenziert. Erfahrungen außerhalb der Alltagswelt werden damit kaum sprachlich vermittelbar, da erzählte Erfahrungen, die nicht selbst gemacht wurden, kaum nachvollziehbar sind. Der Sinnhorizont des außerall- täglichen Erlebnisses bleibt anderen damit unter Umständen verschlossen.

Luckmann thematisiert hier bereits einen Bereich ‘moderner’ Religiosität, die mei- nes Erachtens für die vorliegende Studie bedeutsam ist: Subjektive Religiosität ist zwar da und wird es aufgrund der vorangegangenen Überlegungen wohl auch im- mer sein, doch deren Vermittlung an Dritte wird zunehmend schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Zugehörigkeit bedeutet plötzlich nicht mehr Verbundenheit mit ei- ner sozialen Gruppe und Teilhabe an deren Überzeugungen, sondern Partizipation an Schemata des ‘Ich-Seins’ (vgl. Schulze 2001, 579 ff.).

Auch im Hinblick auf die hier relevante Gruppe der Eltern wird unter diesem Ge- sichtspunkt relevant, inwieweit Religion überhaupt (noch) Medium25 elterlicher Erziehung sein kann. Wenn die eigene, subjektive und institutionell ungebundene Religiosität kaum mehr vermittelbar erscheint, stellt sich nicht nur die Frage, wie eine konfessionelle Institution diese Aufgabe erfüllen soll sondern auch, welchen Stellenwert Religion hier erhält und was genau als Religion institutionalisiert wer- den kann (vgl. Luckmann 1963, 33 ff.). Entscheidend scheint zu sein, ob das, was als Religion im vorliegenden Beispiel institutionalisiert wird, eine gesellschaftliche oder lediglich personale Wirklichkeit besitzt, die von der religiösen Institution analytisch getrennt werden kann.

Weltansichten sind innere, subjektiv erfassbare Sinnkonfigurationen, die den Pro- zess der Wirklichkeitskonstruktion im Alltag ermöglichen (vgl. Luckmann 1988).

Doch was, wenn der Einzelne im Gebet keine Antwort mehr erhält? Wenn das Jen- seits ins Diesseits verlegt wurde und sich organisierte Religion immer weiter von der Sachlogik anderer gesellschaftlicher Institutionen entfernt (vgl. Soeffner 2000)?

Christlicher Glaube versprach einst Erlösung aber der diesseitige Glaube an die

25 Zur medientheoretischen Entfaltung des bereits im Titel der Sudie gewählten Begriffs des ‘Medi- um’ siehe ausführlich Kap. 2.2.2.1 (Delegation von Erziehungszielen?).

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