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29. November 2007 (1. Tag) Begrüßung:

4.2 Kritische Betrachtung der statistischen Annahmen

4.2.6 Produktivität und Kopfzahltheorie

Beide Komponenten hängen in der demografischen Betrachtung eng zu-sammen. Bei den Prognosen wird häufig der ökonomische Fortschritt auf die

Der demografische Wandel 102 Anzahl der Geburten reduziert und die Produktivität oft gar nicht oder nur als statistischer Hinweis behandelt.

So ging auch das Statistische Bundesamt vor. In der Prognose bis zum Jahr 2050 wurde eine gleich bleibende Leistungsfähigkeit eines heute Beschäftig-ten unterstellt. Nur unter Ausblendung des zukünftigen technischen Fort-schritts kann eine Bedrohung der Beschäftigten durch die Versorgung von Nichterwerbstätigen begründet sein.45

In Politik und Gesellschaft stehen sich in dieser Frage verschiedene Fraktio-nen gegenüber. So warnte der frühere CDU-Sozialminister Norbert Blüm, die Altersstruktur als Wohlstandsindikator zu werten. Die bekannte Verhältnis-zahl, wonach demnächst jeder Beitragszahler einen Rentner zu versorgen habe, verlöre bei steigender Produktivität ihre Dramatik: „Nach der Kopfzahl-theorie müssten wir eigentlich verhungert sein“, sagte Blüm und verwies dar-auf, dass früher ein Bauer nur drei Konsumenten versorgen musste und es heute mehr als 80 Verbraucher seien.46

Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di kommt in einem Thesenpapier zu ei-nem ähnlichen Ergebnis:

„In der Vergangenheit hat unsere Gesellschaft einen stärkeren Anstieg der über 65-jährigen bewältigen müssen, als dies in den nächsten 50 Jahren zu erwarten ist“.

Die ver.di-Autoren machen folgende Rechnung auf: Vor mehr als hundert Jahren kam auf 12 Erwerbsfähige eine Person über 65 Jahre; im Jahr 2000 waren es nur noch vier Erwerbsfähige, und trotzdem sei in dieser Zeit in Deutschland das Sozialstaatsprinzip weiterentwickelt worden. Ver.di kommt zu dem Schluss, dass nicht die Alterung der Gesellschaft den Ausschlag gibt, sondern Faktoren wie die Produktivität, die Arbeitslosigkeit und die Erwerbs-beteiligung der Frauen.47

Ein gewichtiger Lösungsansatz in der Demografiedebatte scheint tatsächlich in einer Steigerung der Produktivität zu liegen. Bei einem Wachstum der deutschen Wirtschaft von zwei Prozent im Jahresdurchschnitt verdoppelte sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in gut drei Jahrzehnten, bei einer Wachs-tumsrate von vier Prozent würde sich das BIP verdreifachen.

Angesichts der Tatsache, dass sich die Produktivität nicht in allen Wirt-schaftsbereichen permanent steigern lässt, ist eine solche Prognose schwie-rig. Innovative Ideen lassen sich einfacher in der Industrie umsetzen als z. B.

Der demografische Wandel 103 in personalintensiven Dienstleistungsbereichen wie gerade in den Sektoren, die für eine alternde Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnen, dem Gesundheits- und Pflegebereich.

In der Vergangenheit haben sich die Herzog- und Rürup-Kommissionen48 an eine Prognose der Produktivitätsentwicklung herangewagt. Danach ergibt sich eine jährliche bzw. Gesamtsteigerung der Arbeitsproduktivität für den Zeitraum von 2001 bis 2050 von 84 bzw. 140 Prozent (s. Tab.12).

Die Leistungssteigerung von mindestens 84 Prozent bis zum Jahr 2050 er-laubte es, dass jeder Erwerbstätige in die Lage versetzt wird, eine größere Last für die noch nicht erwerbsfähigen Kinder und für die Rentner zu schul-tern, wenn er an der gestiegenen Produktivität mit einem angemessenen An-teil partizipiert.

Tab.12: Arbeitsproduktivität

Kommission

Produktivitäts-steigerung jährlich in %

Gesamtsteigerung 2001 - 2050 in %

Herzog 1,25 ca. 84

Rürup 1,80 ca. 140

Quelle: Bosbach, Gerd (2005), S. 8 Eine weitere Leistungssteigerung träte ein, wenn es gelänge, die Arbeitslo-sigkeit abzubauen. Dieses „Instrument“ wurde jedoch von keiner der Kom-missionen ins Kalkül einbezogen.

Mit einer vereinfachten Überschlagsrechnung (s. Tab. 13) weist Bosbach die Wirkung einer Produktivitätssteigerung auf die Leistungsfähigkeit eines Ar-beitnehmers nach, ohne dass dieser durch höhere Sozialabgaben auf die Teilhabe am Fortschritt verzichten muss.

Diese Modellrechnung geht unter Anwendung der kleinsten Produktivitäts-prognose davon aus, dass dem Arbeitnehmer die Produktivitätssteigerung zumindest anteilig zugute kommt. Bei einem Beitragssatz für die Rentenver-sicherung von 30 Prozent steigerte sich die Entlohnung um rd. 63 Prozent und bei einem völlig unrealistischen Satz von 40 Prozent immerhin noch um rd. 40 Prozent.

Bosbach resümierte, dass es dem Arbeitnehmer somit möglich sein wird, sei-nen Anteil für den Nichterwerbstätigen zu erbringen und immer noch am Pro-duktivitätsfortschritt zu partizipieren. Dabei ist in dieser Überschlagsrechnung

Der demografische Wandel 104 noch nicht berücksichtigt, dass eine Anhebung des Renteneintrittsalters über das 60. Lebensjahr hinaus eintreten könnte49 und sich zusätzliche Einspa-rungen durch die ca. 30 Prozent weniger Kinder und den Abbau der Arbeits-losigkeit ergeben würden.50

Als einen Irrglauben stellt Heiner Geißler in seinem Werk „Zeit, das Visier zu öffnen“ fest, dass die Kinderzahl für die Zukunft der Rentenversicherung in Deutschland ausschlaggebend sei. Denn wenn dieses Kriterium maßgebend sei, gäbe es z. B. in Bangladesch das beste Altersversorgungssystem.51 Tab. 13: Überschlagsrechnung bei Produktivitätssteigerung

Annahmen: Betrag: Betrag:

Steigerung gegenüber heute in % Heutiges Bruttogehalt incl.

Sozialversicherungs-anteil des Arbeitgebers 3.000 €

./. Beitrag zur Rentenversicherung (20 %) 600 € Es verbleiben dem Arbeitnehmer heute: 2.400 €

Angenommene Produktivitätssteigerung um 1,25% (Herzog-Kommission), führt zu einer Erhöhung der ursprünglichen Vergütung von 3.000 € inflationsbereinigt nach 50 Jahren auf:

5.583 € 5.583 € ./. Angenommener Abgabesatz für

Rentner von 30% 1.675 €

Es verbleiben dem Arbeitnehmer: 3.908 €

62,8%

./. Angenommener Abgabesatz für Rentner

von 40% 2.233 €

Es verbleiben dem Arbeitnehmer: 3.350 € 39,6%

abgeleitet aus: Bosbach, Gerd (2005), S. 8 Seit dem Ersten Weltkrieg und vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg macht die Alterspyramide einen Kopfstand. Auch Geißler kommt zu dem Schluss, dass andere Fakten für die Zuverlässigkeit der Rentenversicherung maßgeb-lich sind, nämmaßgeb-lich die Antwort auf die Frage, ob es in 20 oder 25 Jahren ge-nug hochproduktive Arbeitsplätze gibt. Wie bedeutungsvoll diese Antwort ist, zeigt folgende Betrachtung: Das Bruttosozialprodukt stieg zwischen 1950 und 1990 um 473 Prozent. Die Kopfzahl der Beschäftigten in diesem Zeitraum je-doch nur um 42 Prozent. Somit hat sich die Produktivität um mehr als 300 Prozent pro Beschäftigten erhöht.52

Der demografische Wandel 105 4.2.7 Der Statistikzeitraum

Zufall oder Absicht? Bei genauer Betrachtung des vom Statistischen Bun-desamt prognostizierten Zeitraumes fällt auf, dass mit dem Endjahr 2050 die schlechteste 10-Jahres-Stufe ausgewählt wurde. Eine günstigere Vorhersage hätte sich ergeben, wenn diese bis zum Jahr 2060 geführt worden wäre. Bis zu diesem Zeitpunkt wären die heute geburtenstarken Jahrgänge der 30- bis 40-Jährigen, die 2050 noch in nennenswerter Zahl leben, überwiegend ver-storben. Selbst im Jahr 2040 zeigt die Prognose des Bundesamtes gegen-über dem Endjahr 2050 eine günstigere Verhältniszahl (s. Tab. 14).

Tab. 14: Bevölkerung 2040/2050

(Alters- u. Gesamtquotienten53 AQ,GQ(mittlere Variante 5)

Auf 100 20- bis < 60-Jährige kommen:

Alter/Jahr 2040 2050

< 20 33,9 34,1

>60 72,8 77,8 Gesamt: 106,7 111,9 Auf 100 20- bis < 65-Jährige kommen:

< 20 30,0 29,7

>65 53,1 54,5 Gesamt: 83,1 84,2

Diese Tabelle zeigt:

Beim AQ <60 kommt auf 100 Aktive (20 bis

<60 Jahre) im Jahr 2040 ein GQ >60 von 106,7 Passiven und 111,9 Passiven im Jahr 2050.

Beim AQ <65 ergibt sich entsprechend ein GQ >65 von 83,1 im Jahr 2040 und 84,2 im Jahr 2050.

entnommen: Statistisches Bundesamt (2003), S.42

Es stellt sich in diesem Kontext die Frage, ob mit dem Argument der Demo-grafie nicht eigentlich von einem gänzlich anderen Schauplatz gesellschaftli-cher Auseinandersetzungen abgelenkt werden soll? Besteht damit vielleicht die Absicht, Löhne und Gehälter von der Teilhabe am Produktivitätsfortschritt abzukoppeln oder massive Eingriffe in das Gesundheitswesen oder das Ren-tensystem mit Auswirkungen auf die Lebensqualität und –dauer54 zu begrün-den?55