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6 Die Erwerbsarbeit im Spiegel des demografischen Wandels

6.1 Demografische Herausforderungen

Unsere Gesellschaft vergreist. Der Anteil der in Deutschland lebenden Men-schen im Alter von 60 und mehr Jahren hat sich innerhalb des letzten Jahr-hunderts mehr als vervierfacht. Das Statistische Bundesamt berechnete in seiner 10. Bevölkerungsvorausberechnung bis zum Jahr 2050, dass sich - je nach Variantenannahme - im günstigsten Fall (Variante 9) die Bevölke-rungszahl von gegenwärtig 82 nur leicht auf 81 Millionen verringert und un-ter der ungünstigsten Annahme (Variante 1) sich massiv auf 67 Millionen reduziert.1

Als Folge der steigenden Lebenserwartung und gleichzeitig sinkender Ge-burtenraten werden nach der Vorausberechnung im Jahr 2050 auf 100 Per-sonen im Alter von 20 bis 60 Jahren rund 80 über 60-jährige bzw. beim Al-tersquotienten 20 bis 65 Jahre rund 55 über 65-jährige kommen.2

Abb.9:

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Diese Entwicklung wird zu massiven Veränderungen in vielen Bereichen des ge-sellschaftlichen Lebens führen. Nicht nur die in diesem Zusammenhang bereits heute eröffnete Diskussion über die Alterssicherungssysteme ist davon betroffen, sondern auch die vorgelagerten Bereiche, wie das der Arbeitswelt. Danach wird derzeit davon ausgegangen, dass die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung mit einer insgesamt älter werdenden Belegschaft bewältigt werden muss. Derzeit erle-ben wir jedoch eine Personalpolitik, die den Eindruck vermittelt, als ob die Alterung an dem Erwerbspersonenpotenzial vorbeiginge. Nach wie vor hält die Frühverren-tung durch die Inanspruchnahme des Altersteilzeitgesetzes an mit dem Paradoxon, dass die Gesamtgesellschaft zwar altert, das Teilsegment „Arbeitswelt“ jedoch jün-ger wird. Unter Hinweis auf die vorangestellte Abbildung wird erkennbar, dass der Anteil der älteren Bevölkerung im Erwerbsalter (50- bis 64-jährig) im Jahr 2000 30 Prozent beträgt, seinen Höhepunkt im Jahr 2020 mit maximal 39 Prozent erreicht und sich bis 2050, bei einer insgesamt sinkenden Bevölkerung, mit einem Anteil von 37 Prozent einpendelt.

Tendenziell wird diese Entwicklung von vielen Arbeitsmarktexperten bestä-tigt. Diese prophezeien, dass ab 2015 für die betriebliche Personalpolitik ei-ne andere Strategie Gültigkeit erhalten wird. Die Betriebe werden sich so-wohl auf ältere Beschäftigte als auch auf eine insgesamt anders zusam-mengesetzte Belegschaft (mehr Frauen, mehr Ausländer) einstellen müs-sen.3 Bei dieser, dem Grundsatz nach positiven Voraussage, gehen die Prognosen davon aus, dass die künftige Nachfrage nach Arbeitskräften so erheblich sein wird, dass nach Ausschöpfung aller betrieblichen Rationali-sierungsreserven und Ausweichstrategien4 die Nachfrage nach Arbeitskräf-ten derart expandiert, dass diese auch ältere Erwerbslose erreicht. Hierbei bewegt sich die gesamte Volkswirtschaft im Spannungsfeld zwischen dem Rückgang der Gesamtbevölkerung und damit der Gesamtnachfrage sowie der fortschreitenden Technisierung in den Betrieben und Verwaltungen.

„Eine OECD-Beschäftigungsstudie von 1994 sieht die hohe Arbeitslosigkeit als ein Element des weltwirtschaftlichen Strukturwandels; ihre Überwindung hänge von der Anpassungsfähigkeit, dem Aufbrechen der Verkrustungen und der Beweglichkeit der Industrieländer ab. Auch McKinsey5 vertritt in ei-nem Fallstudienvergleich von sechs Staaten (Japan, USA, Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien) die Auffassung, dass der technische Fort-schritt und Strukturwandel sich positiv auf die Beschäftigung auswirken wür-de.“6

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Mit dem gleichen Tenor enden die „Demografischen Großprojekte“ des For-schungsverbundes „Demografischer Wandel – Innovationsfähigkeit in einer alternden Gesellschaft“ und die Bundestags-Enquetekommission „Demogra-fischer Wandel“. Beide Institute gehen von einer (optimistischen) Variante der demografisch initiierten Verbesserung der Beschäftigungsaussichten für ältere ArbeitnehmerInnen aus.

Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Demografischer Wandel – Herausforderung unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“ stellt in ihrem Abschlussbericht zur aktuellen, ins-besondere jedoch zur künftigen Entwicklung innerhalb der deutschen Bevöl-kerung bis zum Jahr 2050, nach einer thematischen Analyse über drei Le-gislaturperioden (1994, 1998, 2002), ihre Prognosen und Handlungsempfeh-lungen vor. Sie ging dabei von einer Bevölkerungsentwicklung von derzeit 82 Millionen auf rund 60 Millionen im Jahr 2050 aus und weicht damit noch von der pessimistischen Entwicklungsberechnung des Statistischen Bun-desamtes ab.

Abb. 10: Entwicklung der Bevölkerungszahl in Deutschland1)

entnommen: Statistisches Bundesamt (2003), S. 26

Die Frage der Möglichkeit einer Verjüngung der Bevölkerung durch eine or-ganisierte Zuwanderungspolitik wird verneint, da auch bei den ausländi-schen Staatangehörigen die Geburtenzahlen sinken.

Für die Betriebe ergibt sich daher die Notwendigkeit, ihre bisherigen perso-nalpolitischen Strategien zu überdenken und eine qualitative Antwort auf die

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Alterung der Belegschaften zu finden. Der demografische Wandel muss die Betriebe veranlassen zu überprüfen, ob es sich – wie bisher - vertreten lässt, das in älteren Arbeitskräften schlummernde „Humankapital“ ungenutzt zu lassen.7

Der Schlussbericht stellt fest, dass die bisherige distanzierte Haltung ge-genüber älteren Mitarbeitern in vielen Unternehmen sich fälschlicherweise auf alterskeptische Annahmen einer geminderten Leistungsfähigkeit bzw.

eines geringeren Innovationsvermögens stützt, welche die notwendige Fle-xibilität und Wettbewerbsfähigkeit gefährden. Es herrsche eine jugendzent-rierte Sichtweise vor, die wissenschaftlich nicht zu begründen sei. Einschlä-gige empirische Befunde erbrachten keinen Nachweis, dass zwischen Le-bensalter und Leistungsfähigkeit ein deutlich negativer Zusammenhang be-steht. Menschen im Alter zwischen 50 und 64 Jahren sind danach im Durchschnitt nicht weniger leistungsfähig als jüngere.8

Hierzu stellt Ursula Lehr fest: „Soweit körperliche Kraft und Geschicklichkeit für die Ausführung beruflicher Tätigkeiten erforderlich sind, sind Altersunter-schiede auf Grund physiologischer Funktionsveränderungen eher zu erwar-ten. Da jedoch die Muskelkraft zwar nach 50 Jahren auf etwa 70 % ihrer Maximalkapazität sinkt, von dieser jedoch während des ganzen Arbeitsle-bens nur 40 – 50 % benötigt werden, um die am Arbeitsplatz geforderte Leistung zu erbringen, bedeutet die experimentell ermittelte Funktionsein-buße nur eine relative Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit.

Zudem wurde gezeigt, dass ein Nachlassen der körperlichen Leistungsfä-higkeit nicht primär altersbedingt, sondern auf eine Vielzahl exogener Fakto-ren zurückzufühFakto-ren ist.“

Sie fügt ergänzend hinzu, dass Tätigkeiten, die einen körperlichen Einsatz erfordern, in der industriellen Produktion an Bedeutung verlieren und zu-nehmend Fähigkeiten wie Konzentration, Informationsverarbeitung und psy-chomotorische Anpassung sowie technisches Verständnis gefragt sind.9 Während amerikanische Manager ihren MitarbeiterInnen bis zum 60. Le-bensjahr die volle Leistungsfähigkeit zubilligen, begrenzen deutsche Füh-rungskräfte diese Eigenschaft bis zum 51. Lebensjahr. Diese jugendzentrier-te Sichtweise scheint in Deutschland vor allem ein Phänomen der Großun-ternehmen zu sein. Denn in kleinen und mittleren Betrieben10 weiß man die Berufserfahrung der Älteren durchaus zu schätzen.11

Um die für den Bestand der Gesellschaft notwendige generationsübergrei-fende Solidarität zu stärken, ist es erforderlich, einer Dramatisierung des

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Generationenkonfliktes entgegenzuwirken. Hier ist es die Aufgabe der Poli-tik, insbesondere generativen Entsolidarisierungstendenzen durch rentenpo-litische Verunsicherungen entgegen zu steuern. Damit ist der gesellschafts-politische Kernauftrag: „Die Lösung der demografischen Probleme“ gege-ben. Der aktuell, insbesondere von den Rentenpolitikern, präferierte Lö-sungsvorschlag einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit erscheint zu sim-pel. Noch ist diese Maßnahme den Nachweis schuldig geblieben, dass auch nur ein einzelner Arbeitnehmer aufgrund einer Anhebung der Altersgrenze eine Beschäftigung fand.12 Stattdessen beinhaltet diese Maßnahme renten-rechtliche (fiskalische) Sanktionen, z. B. durch Rentenabschläge bei Inan-spruchnahme einer Transferleistung auch aufgrund beruflich (gesundheit-lich) bedingter Tätigkeitsaufgabe.

„Ältere Arbeitnehmer stehen zunehmend im Schnittpunkt von Widersprü-chen, die nicht ohne weiteres durch klare Handlungsvorgaben aufzulösen sind. Zum Beispiel sollen – nach dem Willen der Betriebe – Ältere nach wie vor früher gehen. Und sie sollen zugleich länger arbeiten – wenn es nach dem Willen der Rentenpolitik geht.“13 Um diese Widersprüche aufzulösen müssten kurz- und mittelfristig sozial akzeptierte Rahmenbedingungen als Grundvoraussetzung für die Weiterarbeit Älterer geschaffen werden.

Hierzu gehören folgende Konditionen14:

• Gesellschaftliche Herausforderungen dürfen nicht durch isolierte Lösun-gen, die z. B. einseitige Belastungen einer Altersgruppe zum Inhalt ha-ben, angegangen werden. Die Beschäftigungspolitik ist zwar ein wichti-ger Aspekt, sie kann jedoch nicht die alleinige Lösungsplattform einer übergreifenden gesellschaftlichen Antwort auf den demografischen Wandel sein. Notwendig sind integrierte Politikentwürfe, die unter Einbe-ziehung der zukünftig zu erwartenden alternden Belegschaftsstruktur die notwendigen Teilpolitiken beinhalten. Insbesondere zählen hierzu die Bildungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik. Wegen der künftig zu erwar-tenden veränderten Zusammensetzung des Erwerbspotenzials, aber auch die Familien-, Gleichstellungs- und Migrationspolitik sind gefordert.

• Viele ältere Mitarbeiter/innen zeichnen sich durch eine Bündelung von Benachteiligungen aus. Sie sind Opfer der Gleichzeitigkeit von formalen Ausbildungsmängeln und zu geringer beruflicher Fort- und Weiterbil-dung. Dies macht eine Doppelstrategie erforderlich, die einerseits die Förderung der Beschäftigungsfähigkeit während des gesamten Erwerbs-lebens als auch die Reduzierung und Beseitigung von akuten bzw. zu-künftigen Beschäftigungsproblemen vorsieht.

• Die betriebliche Sphäre bleibt die entscheidende Plattform, in der die Entscheidung über die Zukunft von Alterserwerbsarbeit maßgeblich be-einflusst wird. Daher kommt den Sozialpartnern (Tarifvertragsparteien) eine besondere Bedeutung zu. Die Politik hat in diesem Kontext die Auf-gabe, geeignete Prozesse zu initiieren, zu moderieren und im Bedarfsfall durch gesetzliche Rahmenbedingungen Einfluss zu nehmen.

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• Die Maßnahmen der Förderung alternder Arbeitskräfte zur Sicherstellung ihrer Beschäftigungsfähigkeit müssen während der gesamten Erwerbs-biographie erfolgen und nicht erst zum Ende der Mitarbeit einsetzen. Die rechtzeitige Bekämpfung potenzieller Beschäftigungsrisiken sollte bereits in den frühen Phasen der Erwerbsbiographie beginnen und somit ihr ständiger Begleiter sein.

„Bei der Entwicklung einer Strategie für die Zukunft ist zu berücksichti-gen, dass innovationserzeugendes Wissen immer mehr an Bedeutung gewinnt. Hierfür ist eine Verknüpfung von Erfahrungswissen mit neuen Erkenntnissen erforderlich und für die optimale Nutzung des Engage-ments und des Wissens Älterer eine Weiterqualifizierung on-the-job. Al-lerdings setzt dies voraus, dass Ältere schon sehr frühzeitig das (Wei-ter)Lernen gelernt haben. Fehlen Weiterbildungsmöglichkeit, ist man-gelnde Innovationskraft und keine Frage des Alters, sondern Folge eines Managementdefizits.“15

• Sinnvolle Kombination der Maßnahmen unterschiedlicher Trägerschaften (z. B. staatliche Bildungsangebote entsprechend der Notwendigkeit auf dem Arbeitsmarkt, betriebliche Weiterbildung). Die zunehmende Ver-flechtung zwischen betrieblichen und außerbetrieblichen Lebenswelten macht es notwendig, auch arbeitsplatzbezogene Initiativen mit der öffent-lichen Sozialpolitik zu koordinieren (z. B. Abstimmung in Bereichen der sozialen Sicherung, der beruflichen Qualifikation bzw. pflegerischer Dienste).

• Das neue Verständnis zur Gestaltung der Lebensarbeitszeit führt zu ei-ner Abkehr von dem klassischen Arbeitnehmerlebensablauf (Schule, Ausbildung, Beruf, Verrentung) in Richtung einer integrativen Verflech-tung von Bildung, Arbeit und Freizeit sowie deren Verknüpfung.