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5. Altersdiskriminierung in der Praxis

5.12 Ehrenamt

Die bestehenden Schwierigkeiten, als Älterer eine für die Gesellschaft nützli-che Aufgabe unentgeltlich leisten zu können, waren für zwei Prozent der Anru-fer/innen Anlass zur Meldung am Beschwerdetelefon. Der weibliche Anteil an dem Beschwerdeaufkommen überwog mit 66 Prozent. Das Alter der Anrufen-den lag zwischen dem 40. und 84. Lebensjahr.

Der Ausschluss vom Ehrenamt aufgrund des Alters wurde von rd. 37 Prozent (s. Tabelle 28) der Meldungen beklagt. Exemplarisch hierzu der Bericht eines Mannes, der meldete, dass Ehrenamtliche zur Abnahme der Seglerprüfung nicht älter als 65 Jahre sein dürfen. Eine Anruferin wies darauf hin, dass die Altersgrenzen für ehrenamtliche Richter/innen bei mindestens 25 und maximal 70 Jahren lägen.

Tab. 28: Beschwerden zum Bereich: Ehrenamt

(s. Anlage: 21)

∑der Beschwerden Gesamt Beschwerdegrund Männlich % Weiblich % %

In der Satzung sind

Altersgren-zen enthalten 1 10,0 3 15,0 13,3

Darf wegen des Alters keine

ehrenamtliche Arbeit verrichten 4 40,0 7 35,0 36,7

Vorstände müssen wegen des

Alters zurücktreten 1 10,0 2 10,0 10,0

Ehrenamt, Übriges 4 40,0 8 40,0 40,0

10 100,0 20 100,0 100,0

Quelle: Büro gegen Altersdiskriminierung (2002), S. 47

• Den satzungsbedingten Ausschluss vom Ehrenamt beklagten ca. 13 Pro-zent der Anrufer/innen. Die damit zusammenhängende Kategorie des al-tersbedingten Rücktritts aus der Vorstandsarbeit war für 10 Prozent der Beschwerdeführer/innen, die zwischen 70 und 74 Jahre alt waren, Grund zur Klage.

Die „übrigen“ Meldungen machten 40 Prozent aus und betrafen u.a.:

• Ehrenamtliche Arbeit wird als Rentnerbelustigung abgewertet.

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• Erhält ein älterer Mensch ein Ehrenamt, wird er als Lückenbüßer und Handlanger angesehen. Junge Leute gelten dagegen als engagiert, tat-kräftig und karrierebewusst.

• Ehrenamtliche Tätigkeiten besitzen keinen Versicherungsschutz.58 5.13 Sonstiger Bereich

In diesem Abschnitt sind die Kritikpunkte dokumentiert, die vom Veranstalter des Beschwerdetages nicht separat erfasst wurden. Dieser Kritikbereich machte zwei Prozent des Beschwerdeaufkommens aus. Hierunter subsumiert der Veranstalter folgende Fakten.59

• Die Kernzielgruppe für das neue Paketabholsystem liegt für die Post bis zum 40. Lebensjahr.60

• Die Partei Bündnis 90/Die Grünen wollen sich nun auch für ältere Men-schen engagieren und spricht dabei stets von der Altersgruppe der 50-bis 80-Jährigen. Was ist mit BürgerInnen, die älter als 80 Jahre sind?

• Kritik von jüngeren Kommiliton(inn)en wegen der Teilnahme von Senio-ren/innen an einigen Veranstaltungen. Diese übernähmen oftmals domi-nant und wortführend das Seminar und befänden sich dauerhaft im Zwie-gespräch mit dem Dozenten.

• Die Kölner Computer-Firma Netcologne schließt nur mit Bürger/innen ei-nen Vertrag über eiei-nen Internetanschluss ab, wenn diese später als 1935 geboren sind.

• Beschwerde einer gehbehinderten Dame, die nicht zu ihrem Arzt in der Fußgängerzone kommt, da die Taxis dort nicht fahren dürfen.

• In Friedrichshafen gibt es 2.000 Jugendliche und 18.000 Senioren. Wäh-rend die Jugendlichen einen gewählten Jugendrat besitzen, verweigert man den Senioren dieses Recht.

• Verweigerung des Einzugs eines gehbehinderten Ehepaares (75 und 76 Jahre) in eine leer stehende Parterrewohnung trotz schriftlicher Zusage.

Begründung der Wohnungsbaugesellschaft:

- Der ältere Mann sei ein „Frankfurter Knödderer“ (Querulant), der sich mit dem Hausmeister nicht vertrage.

- Alte Menschen würden immer schwieriger und würden zunehmend al-les um sich vernachlässigen.

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- Die Kinder kümmerten sich häufig nicht mehr um ihre älteren Eltern und der Vermieter „habe dann alles am Hals.“

Auch außerhalb des Beschwerdetages ereignen sich die unterschiedlichs-ten Diskriminierungen. Der Autor fügt einige „bemerkenswerte“ Vorfälle diesem Abschnitt bei:

Landgericht verkürzt Lebenserwartung

Am 17.04.2001 befuhr ein Polizeifahrzeug (PKW – Kombi – Hunde- Transportfahrzeug) rückwärts und entgegen der vorgegebenen Richtung eine Einbahnstraße.

Eine „voll erwerbstätige“, an „schweren internistischen Erkrankungen“ lei-dende und erheblich übergewichtige (120 kg, Größe 174 cm), 58-jährige Ehefrau wurde vom Heck des Fahrzeuges erfasst und fiel zu Boden.

„Infolge des Unfalls erlitt die Ehefrau des Klägers (Ehemann) eine Fraktur des Lendenwirbelkörpers I, eine Fraktur des Lendenwirbelkörpers II, eine Radius-Fissur rechts sowie eine Nasenbeinfraktur.“ Sie wurde ins Kran-kenhaus verbracht, am 27.04.2001 operiert und verstarb am 28.04.2001.

Das Land Hessen hatte, als Dienstherr der Polizei zwar die Beerdigungs-kosten übernommen, im Übrigen – unter Verweis auf ein Gutachten der Rechtsmedizin – jedoch alle weiteren Zahlungen verweigert. Das Land Hessen war sich sicher, dass die Verstorbene auch ohne den Unfall nur noch wenige Jahre zu leben gehabt hätte. Auch sei ihr eine Mitschuld an-zurechnen, da sie die Gefahr durch das rückwärts in der Einbahnstraße fahrende Polizeifahrzeug hätte erkennen müssen. Unter Beiziehung eines Zweitgutachtens belehrte das LG Limburg das Land Hessen eines Besse-ren. Danach wurde festgestellt, dass „das tödliche Multiorganversagen“

die Folge einer als „Hospitalkomplikation“ zu bezeichnenden Lungenent-zündung nicht aufgetreten wäre, wenn die Frau nicht ins Krankenhaus gemusst hätte.

Den Schadensersatzanspruch begründet das LG Limburg unter anderem durch den Wegfall der Arbeitskraft der Verstorbenen unter Berücksichti-gung des von dem Kläger ersparten Unterhaltsbeitrags an die Ehefrau und verurteilte das Land Hessen, dem Hinterbliebenen ein Schmerzens-geld (4.000,- Euro), eine Einmalzahlung (3.640,40 Euro) plus Zinsen seit

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dem 22.01.2003 sowie eine monatliche Geldrente (280,- Euro) bis zum 28.04.2007 zu zahlen.

Der Kläger erklärte, dass seine Ehefrau ohne den Unfall noch eine Le-benserwartung von 11 Jahren und 9 Monaten gehabt hätte. Das LG schätzte dagegen die mutmaßliche Lebenserwartung der Verstorbenen lediglich auf weitere sechs Jahre (28.04.2007) und bezog sich dabei auf den Gesundheitszustand, das Alter, den Beruf sowie die Lebensgewohn-heiten der Verstorbenen und blieb mit 64 Jahren weit unterhalb der all-gemeinen Lebenserwartung.61

Die Justiz steht vor Gericht

In diesem Abschnitt soll an einem weiteren Diskriminierungsfall, nämlich über den laxen Umgang mit den Rechten älterer und / oder behinderter Menschen durch die deutsche Justiz berichtet werden. Auch wenn es sich um einen Sonderfall handeln sollte, sind doch bereits 68 Einzelschicksale davon betroffen.

Es stellt sich die Frage, ob nicht durch eine Reform des Justizwesens (z.

B.: Vier-Augen-Prinzip) nachfolgend geschilderte Vorgänge hätten ver-hindert werden können? Das zu erwartende Strafmaß von einem Jahr (für Rechtsbeugung), bzw. bis zu 10 Jahren (für Freiheitsberaubung, wenn diese länger als eine Woche dauert), besitzt jedenfalls keine abschre-ckende Wirkung und sollte gleichfalls überdacht werden. Immerhin geht es um das Vertrauen der älteren Bürger/innen zur Rechtsprechung, die schon einmal großes Unrecht im Namen des Volkes ertragen mussten.

Einem rechtsunkundigen, dazu noch älteren Bürger erscheint ein gericht-liches Schriftstück, welches mit Kürzeln und Stempeln versehen ist als ein Dokument, an dessen Rechtmäßigkeit kein Zweifel zulässig ist. Mit sol-chen „Dokumenten“ und der Würde seines Amtes als Vormundschafts-richter „arbeitete“ ein 44-jähriger AmtsVormundschafts-richter und veranlasste im Zeitraum vom 2004 bis 2006 in 60 Fällen freiheitsentziehende Maßnahmen und in sieben Fällen eine Unterbringung als pflegebedürftige Person in einer ge-schlossene Einrichtung, zum Teil ohne die dazu notwendigen Anhörun-gen sowie die erforderlichen SachverständiAnhörun-gengutachten angeordnet zu haben. Von dieser Arbeitsweise waren rund 17 verschiedene Senioren- und Pflegeheime des Landkreises betroffen. Von den angeblich

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ten Personen waren jedoch acht zum Zeitpunkt der Anhörung bereits ver-storben.

Wie die zuständige Staatsanwaltschaft (Stuttgart) im Oktober 2007 mitteil-te, wurden diese Vergehen im Zusammenhang mit dem Eingang eines richterlichen Beschlusses über die Zulässigkeit der Anbringung einer me-chanischen Vorrichtung zum Schutze einer betreuten Person, nach deren angeblicher Anhörung auffällig, da diese Person bereits verstorben war.

Das Senioren- und Pflegeheim aus dem Landkreis Esslingen staunte nicht schlecht, dass sich in den Betreuungsakten zum Teil fingierte Anhö-rungsprotokolle befanden, die ein ordnungsgemäßes Verfahren vortäu-schen sollten.

Die Staatsanwaltschaft hat Anklage zum Landgericht – große Strafkam-mer – wegen Rechtsbeugung, Urkundenfälschung und Freiheitsberau-bung erhoben.62

Die 16. große Strafkammer des Landgerichts Stuttgart verurteilte den Amtsrichter wegen Rechtsbeugung in 54 Fällen, davon in sieben Fällen als Versuch, zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Mona-ten.63

• Das Alter und die Zähne

Ein 73-jähriger Rentner, der noch als Fahrlehrer tätig ist, erhielt eine Zahnvollprothese und konnte diese täglich (trotz Haftcreme) max. zwei Stunden tragen, da sie Schmerzen verursachte, Würgegefühl verbreitete und beim Sprechen hinausfiel. Umfangreiche Nachbesserungen halfen nichts, und trotzdem verlangte der Zahntechniker den Ausgleich seiner Forderungen i.H.v. 1.750,- Euro. Der Rentner verweigerte die Zahlung und forderte seinerseits ein Schmerzensgeld von 2.000,- Euro, da die Zähne unbrauchbar waren.

Die Richterin des Amtsgerichts Paderborn entschied, dass Rentner keine festen Zähne benötigen und es ausreicht, wenn das Gebiss eines Seniors zwei Stunden am Tag hält.

Im Amtsdeutsch liest sich das wie folgt:

„Dies ist kein unerheblicher Zeitraum vor allem auch im Hinblick auf das Alter des Beklagten (72 Jahre). In diesem Alter ist man in der Regel nicht darauf angewiesen, eine Prothese den ganzen Tag zu tragen“.64

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