• Keine Ergebnisse gefunden

Politisch beeinflussbare Modellvorgaben

29. November 2007 (1. Tag) Begrüßung:

4.2 Kritische Betrachtung der statistischen Annahmen

4.2.2 Politisch beeinflussbare Modellvorgaben

Der Betrachtung des Themas in diesem Abschnitt sei vorangestellt, dass Hei-ner Geißler in seinem Buch „ZEIT, DAS VISIER ZU ÖFFNEN“ vermerkt, dass die demokratischen Parlamente den Politikern eine Macht auf Zeit verleihen und diese auf eine friedliche Auseinandersetzung mit Hilfe des Wortes be-schränken. Er verweist auf die Trümmer des Wahlsonntags vom 27. Septem-ber 1998 und stellt fest, dass das Ausmaß der Niederlage (seit 1983 befan-den sich die CDU und CSU in der Regierungsverantwortung) von vielen nicht

Der demografische Wandel 96 begriffen wurde. Zum Politikverständnis der Bevölkerung vertritt er die Mei-nung:

„Das Unverständnis in der Bevölkerung für die Politik der CDU ist zum gro-ßen Teil darin begründet, daß sich Helmut Kohl und die Bevölkerung nicht mehr verstanden. […] Zum Beispiel hätte er die Rentenreform, die Gesund-heitsreform und die Steuerreform nicht in der Konfrontation angehen dürfen, sondern mit den Betroffenen, also den Gewerkschaften, den Sozialverbän-den und Sozialverbän-den Kirchen.“31

Spekulative Fragen nach den Alternativen beantwortet Geißler mit der Meta-pher:

„Wenn die Katze eine Pferd wäre, könnte man die Bäume hochreiten."32

Die Politik und die Presse verbreiten das Märchen, dass die demografische Entwicklung zwangsläufig wie ein Naturgesetz sei, und unterschlagen, dass mindestens zwei demografische Parameter durch die Politik beeinflussbar sind:

• Kinderzahl pro Frau

Eine familien- und kinderfreundliche Politik, die eine Kombination zwi-schen Kindern und beruflicher Tätigkeit für Mütter ermöglicht, hätte positi-ve Auswirkungen auf die Geburtenrate. Hierzu kann auf die positipositi-ven Er-fahrungen, z.B. in Frankreich, verwiesen werden. Dort erhöhte sich durch eine entsprechende Politik die Anzahl der Geburten pro Frau von 1,65 im Jahr 1993 auf 1,88 (+ 14 Prozent) im Jahr 2000.33

Durch umfangreiche staatliche Fördermaßnahmen für Familien mit Kin-dern wurde in der ehemaligen DDR ein kurzfristiger Geburtenanstieg von 1,54 Kindern in 1975 auf 1,94 im Jahr 1980 erreicht.34

Trotz dieser belegten Nachweise der Geburtenausweitung durch staatli-che Interventionen wird parteipolitisch unterschiedlich argumentiert. So wird die Familienpolitik auch nicht nur als bevölkerungsökonomische Auf-gabe zur Vermehrung der Deutschen verstanden, sondern auch als Chance für ein Leben mit (oder ohne) Kinder interpretiert. Diese Fragen von Lebensgestaltung, Lebenssinn und Lebensglück erfahren durch eine nur demografisch ausgerichtete Debatte eine technokratisch-bevölkerungspo-litische Bedeutung. Somit wird die Entscheidung für Kin-der und Familie zu einer utilitaristisch verstandenen Frage des Gemein-wohls umgewandelt.35

• Offene Grenzen in der EU

Der demografische Wandel 97 Offensichtlich ist, dass durch politische Maßnahmen in ausländischen, eu-ropäischen und integrativen Fragen der Zuzug von Ausländern nach Deutschland maßgeblich beeinflusst wird. Nach der vollständigen Freizü-gigkeit in der EU reagiert der Zuzug von EU-Bürgern, als zweiter Parame-ter, entscheidend auf die Attraktivität Deutschlands.

Die diskutierte politische Frage des Eintritts der Türkei in die EU als Voll-mitglied hat einen großen Einfluss auf den Bevölkerungsstand.36

Welche Brisanz dieses Thema in der politischen Landschaft besitzt, ist an einer Äußerung des Ministerpräsidenten des Landes Hessen, Roland Koch (CDU), festzumachen, der die Unions-Spitze anlässlich einer Sit-zung der Steuerungsgruppe zu einer stärkeren Emotionalisierung des Wahlkampfes 2005 aufforderte. Er verlangte, dass der Streit um den Ein-tritt der Türkei im Wahlkampfendspurt eine wichtige Rolle spielen müsse.

„In den letzten zwei bis drei Wochen brauchen wir Themen, die wir zuspit-zen können“, betonte Koch und setzte dieses Szuspit-zenario mit einer Warnung vor einem rot-rot-grünen Bündnis gleich.37

Nach wie vor wird in vielen Bereichen, z.B. in der Kultur, Wissenschaft, Hochtechnologie, bei hochqualifizierten Facharbeitern, aber auch in vielen weniger qualifizierten Bereichen, die Zuwanderung gewünscht.

In der Regel findet die Migration im jüngeren Lebensalter und häufig vor Eintritt oder zumindest während der generativen Lebensphase statt. Die Magnetwirkung des Arbeitsangebotes bewirkt, dass die Zuwanderung nicht gleichmäßig in der Fläche stattfindet. Zugleich geht damit ein Ausei-nanderdriften der Bevölkerung nach der Herkunft, der Altersstruktur und der generativen Frequenz – zumindest in der ersten Generation – zwi-schen einheimizwi-schen und zugewanderten Bevölkerungsgruppen einher.

Somit steigen die Anforderungen an eine ausgewogene Integrationspolitik (z. B. Arbeitsplatz- und Wohnraumangebot, Infrastruktur, Sprachausbil-dung u.a.m.). Während Ballungsgebiete, wie z. B. das Rhein-Main-Gebiet, geringe Auswirkungen des demografischen Wandels verkraften müssen, haben ländliche Gebiete eine deutlich schneller alternde Bevölkerung.

Eine solche Entwicklung hat erhebliche Auswirkungen auf die kommunale Politik und kommunale Infrastruktur. Das örtliche Infrastrukturangebot, wie die Wasserversorgung, der Straßenbau, der öffentliche Nahverkehr, die Krankenhäuser, das Rettungswesen, die Bildungseinrichtungen, die

Bü-Der demografische Wandel 98 chereien, die kulturellen Einrichtungen usw., stellt die Kommunen vor neue Aufgaben. Hierzu ein Beispiel aus der Trinkwasserversorgung: Ein nachhaltiger Bevölkerungsrückgang kann es erforderlich machen, dass Wasserleitungen zurückgebaut werden müssen. Weniger Menschen be-deutet weniger Wasserverbrauch und somit eine geringere Durchflussge-schwindigkeit in den Leitungen. Hierdurch wächst die Gefahr einer Ver-keimung des Rohrsystems und macht eine zusätzliche Investition der Kommune wegen des Einbaues von Leitungen mit geringerem Rohr-durchmesser (höhere Fließgeschwindigkeit) erforderlich.

Wissenschaftler des Max-Plank-Instituts für demografische Forschung, Rostock fanden in den verlassenen Dörfern Mecklenburg-Vorpommerns reichliche Beweise des demografischen Wandels. Selbst in Städten wie Leipzig wurden ganze Straßenzüge abgerissen. In Cottbus werden die Kosten für die Umrüstung der Kanalisation auf 12 Millionen Euro ge-schätzt. „Auch Abbau kann teuer sein“, warnte Brandenburgs Ministerprä-sident, Matthias Platzeck.38 Erhebliche Konsequenzen des demografi-schen Wandels finden sich auch in sozialen Fragen, wie die wohnortnahe Krankenhausplanung, der steigende Pflegebedarf, die Versorgung mit Al-tenheim- und Pflegeplätzen, die Bereitstellung ambulanter Dienste usw.

Diese, den demografischen Notwendigkeiten entsprechenden individuel-len, aber insbesondere gesellschaftlichen, Antworten machen eine neue bzw. flexible politische Kultur erforderlich (z.B. Gestaltung des Finan-zausgleichs39 zwischen den Regionen).40