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5. Altersdiskriminierung in der Praxis

5.1 Die Bereichsdifferenzierung

5.1.2 Es geht auch anders

Die Arbeitswelt weist zwar zarte Hoffnungsschimmer, aber auch drohende Schattenseiten für den Älteren auf. In diesem Abschnitt soll wegen dieser Be-sonderheit bzw. der „regelmäßigen Einmaligkeit“ an einigen Leitbildern das Ge-schehen (und deren Folgen und Gegenmaßnahmen) dargestellt werden.

So testet derzeit der Autohersteller BMW in einem Pilotprojekt die Werksituati-on des Jahres 2017, indem verstärkt, begrenzt auf einen ProduktiWerksituati-onsbereich (Achsgetriebemontage), ältere Mitarbeiter mit dem zu erwartenden Altersdurch-schnitt von 47 Jahren (acht Jahre über dem derzeitigen BMW-Mittelwert) ein-gesetzt werden.

Nach den ersten sechs Monaten der Testphase äußerte sich der Personalvor-stand Ernst Baumann äußerst zufrieden. Er stellte fest, die Qualität sei besser, und die Effizienz entspricht der einer jüngeren Belegschaft, so dass dieses Pro-jekt auf weitere Standorte des Unternehmens ausgedehnt werde. Dadurch

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höhe sich der Personalanteil der Gruppe 50plus in der BMW-Belegschaft von vierzehn auf siebenunddreißig Prozent.3

„Die Älteren sind die Säulen des Erfolgs“, schwärmt der Gesamtvertriebsleiter Gütebier der Möbelfirma Segmüller. In einer neu eröffneten Filiale mit 1.020 Beschäftigten erschienen am Einstellungstermin mehr als fünfzig Prozent Be-werber, die älter als 45 Jahre waren. Die vor dem Kauf notwendige Beratung ist qualifizierter, wenn der eine glaubhafte Erfahrung zu Grunde liegt, vermerkt da-zu der Vertriebschef.

Selbst ausgesprochen jugendkonzentrierte Möbelanbieter, wie das schwedi-sche Möbelhaus, erkennen diesen Trend und setzen gezielt auf ältere Mitarbei-ter, sagt die Firmensprecherin für Deutschland, Sabine Nold.

Trotz dieser positiven Einzelfallbeispiele scheuen sich immer noch viele Unter-nehmen, Ältere einzustellen, solange sich Jüngere bewerben, erklärt die Leite-rin der Forschungsstelle im Bildungswerk der hessischen Wirtschaft, Cornelia Seitz. Sie stelle jedoch ein Umdenken in den Firmen fest. Obwohl der Gedanke noch nicht ausgereift ist, überlegt z. B. die Deutsche Bank, wie dem älteren Kunden am Schalter zu begegnen sei. Ebenso überlege die Automobilbranche, dem älteren Kaufinteressenten einen gleichaltrigen Verkäufer gegenüber zu stellen, wusste sie zu berichten.

Die geistige Flexibilität der Alten wird gleichwertig mit der des Jüngeren gese-hen. Die Vorurteile, Alte seien weniger flexibel und lernfähig, bewertet der Per-sonalleiter von BMW in Leipzig, Rudolf Reichenauer, als falsch. Bei der Werks-eröffnung stellte BMW bewusst Bewerber über dem 45. Lebensjahr ein, eine Bewerberin erhielt mit 61 Lebensjahren eine Vollzeitstelle. Fast 25 Prozent der BMW-Belegschaft sind über 45 Jahre alt.4

Auch diese Hoffnungsschimmer können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der demografische Wandel schon jetzt schleichend fortschreitet und für die Öf-fentlichkeit nicht so deutlich erkennbar ist. Dafür sorgte die Praxis der Frühver-rentung, dass die alternden Belegschaften – angepasst durch Restrukturie-rungs- und Rationalisierungsmaßnahmen, zum Teil mit eingeplanten Phasen von Übergangsarbeitslosigkeit - sozialverträglich und im gesellschaftlichen Konsens aus dem Berufsleben ausscheiden.

In seiner Abhandlung beurteilt Bruno Schrep den trotz dieser Tendenz von wei-ten Teilen der Wirtschaft immer noch praktizierwei-ten Jugendwahn. Er stellte fest,

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dass in ca. 60 Prozent der Firmen keine Beschäftigten über dem 50. Lebens-jahr zu finden seien. Bei den im Jahr 2007 von Großunternehmen neu Einge-stellten finden sich nur fünf Prozent, die älter als 50 Jahre sind. In mittelständi-schen Unternehmen waren es noch weniger. Hierbei nimmt man bewusst in Kauf, dass der Volkswirtschaft mehr als verkraftbar geistige Ressourcen verlo-ren gehen.

Im Zuge der Ursachenanalyse wagt Schrep eine mutige These, indem er den praktizierten Jugendwahn mit den studentischen Aktivitäten im Jahr 1968 im Zusammenhang bringt. Er vermutet, dass das studentische Misstrauen gegen die ältere Generation mit deren nationalsozialistischer Vergangenheit begründ-bar sei. Die darauf hin von den Alten erhaltenen Antworten hatten offensichtlich nicht die Qualität, das Misstrauen gegen diese Form des gesellschaftlichen Umgangs zu beheben, stellt er fest. Dafür befanden sich zu viele PGs der e-hemaligen NSDAP in leitenden Positionen in den Verwaltungen, Universitäten und politischen Gremien.5

Dies war die Konnotation zum Begriff „Alt“, was gleichbedeutend für Starrsinn, nicht wandlungsfähig und rückwärts gewandt stand. Die dann seit den siebziger Jahren um sich greifende Jugendzentriertheit ließ Vorurteile entstehen, dass ab dem vierzigsten Lebensjahr die psychische und physische Leistungsfähigkeit nachlässt, die krankheitsbedingten Fehlzeiten steigen, das Personal zu teuer ist, so dass möglichst eine unspektakuläre Trennung, ggf. mit einer (möglichst) kleinen Abfindung, angestrebt wird. Lässt sich eine solche personelle Maß-nahme nicht realisieren, greift regelmäßig die Skala von der betriebsbedingten über die außerordentliche, sofortige Kündigung (soweit begründbar) bzw. bis zum Mobbing.

Wobei die „Allzweckwaffe“, Mobbing auch gesetzlich „geschützte“ Betriebsan-gehörige (z. B.: Schwerbehinderte, langjährige und ältere Arbeitnehmer, Lang-zeiterkrankte usw.) bis zur Selbstkündigung zu treiben in der Lage ist. Einige

„beliebte“ Mobbing-Methoden sind z. B. die Über- oder Unterforderung, die Versetzung an einen unattraktiven Arbeitsplatz, der Kompetenzentzug, Fehlin-formationen und Fehlerzuweisungen, der Statusentzug, die Ausgrenzung usw.

Dass eine solche Tortur für den Gemobbten nicht ohne gesundheitliche Folgen bleibt, ist verständlich (und beabsichtigt) und führt häufig zur Selbstaufgabe (Eigenkündigung).

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Die von solchen Angriffen betroffenen Menschen sind fast regelmäßig über 50 Jahre alt und in ihrem Selbstwertgefühl tief verunsichert, sie fühlen sich nutzlos und versuchen, unauffällig in der Öffentlichkeit zu wirken, um den Anschluss an den Alltagsablauf zu finden.

Dies führt zu extremen Verhaltensweisen, wie zu der Fälschung des Geburts-datums im Führerschein, um als Jüngerer eine verbesserte Bewerbungschance zu erhalten, bis zum Schauspiel für die Nachbarn, indem man täglich aus dem Haus geht, um den Gang zur Arbeit vorzutäuschen.

Um den Alterungsprozess zu verzögern, wird intensiv Sport betrieben bzw. sich dem Skalpell des Schönheitschirurgen anvertraut.

Als wenig hilfreich sieht Schrep in diesem Zusammenhang die Fernsehäuße-rung des Ex-Bundeskanzlers Helmut Schmidt, der sagte: „Ich bin jetzt 88 und noch immer nicht im Ruhestand“, und die Meldung, dass eine 77jährige Frau an der Universität Oldenburg ihr Studium mit der Promotion abgeschlossen ha-be.6

Alle zuvor genannten Besonderheiten, Auswüchse, Reaktionen usw. können nichts an der Tatsache ändern, dass die demografische Entwicklung auch in den Belegschaften spürbar wird. Schon mittelfristig wachsen mit den geburten-starken Jahrgängen der „späten“ 50er und 60er Jahre große Jahrgangskohor-ten in die Gruppe der „älteren Arbeitnehmer“ hinein.

Verspätet, aber gerade noch rechtzeitig, um einer drohenden Bußgeldzahlung i. H. v. 500.000 bis 10 Mio. Euro pro Tag an die EU zu umgehen, setzte die Bundesrepublik Deutschland die EU-Richtlinien in der Form des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) per 18. August 2006 um.

Obwohl das AGG vorrangig seine Schutzwirkung bei der Bewerbung bzw. einer Tätigkeitsaufnahme entfaltet, wirkt es auch, angesichts der älter werdenden Belegschaft, im Betrieb weiter fort.

Zur Vermeidung eines vorzeitigen beruflichen Alterns könnten folgende Wei-chenstellungen dienen:

• Laufbahngestaltung

Scheidet der Aufstieg in eine Vorgesetztenposition aus, so bieten sich häufig inner- oder überbetriebliche Laufbahnen auf gleicher hierarchischer Ebene und Branche an. Diese Perspektive ist nicht nur für den Betrieb, sondern auch für den Beschäftigten entscheidend. Weniger geeignet sind spezielle

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plätze auf horizontaler Ebene, da ein solcher Tätigkeitswechsel häufig als Bruch mit dem erreichten Status (ggf. durch finanzielle Einbußen flankiert) er-lebt wird.

• Tätigkeitenmix

Die in einer frühen Berufsphase einsetzende Mischung von Verrichtungen er-leichtert eine inner- oder außerbetriebliche Tätigkeitsaufnahme in anderen Be-reichen. Gegen diese Binsenweisheit wird am häufigsten verstoßen. Beschäf-tigte werden über Jahre in einem Tätigkeitsbereich eingesetzt, entwickeln sich so zu einem Spezialisten und sind nur schwer für eine andere Tätigkeit zu ge-winnen. Sie befinden sich in einer beruflichen Sackgasse.

• Keine Spezialisierung in alte Wissensbestände

Ein solches „Fachwissen“ ist einem Mangel in der Weiterbildung gleichzuset-zen. Einen eindrucksvollen Beweis für diese These liefern die Systemspezialis-ten für EDV-Programme. Diese mit einem System wachsenden SpezialisSystemspezialis-ten verlieren schlagartig ihre Autorität, wenn das Rechnersystem ersetzt wird. Die-se oder ähnliche betrieblichen „SackgasDie-sen“ können durch geeignete Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen durchlässig gemacht werden.

Häufig scheuen Unternehmen die dazu notwendigen Personalinvestitionen und übersehen, dass es sich bei den Lernenden um bereits im Unternehmen integ-rierte Mitarbeiter handelt, die somit bereits bei der Wissensvermittlung den Be-trieb und seine speziellen Abläufe in den Lehrstoff mit einbeziehen.

Diese praxisbezogene Weiterbildung findet zwischenzeitlich auch in den Hoch-schulbereich Eingang. So bietet die FH Gießen-Friedberg seit dem SS 2001 ein so genanntes Studium Plus an. Hierbei handelt es sich um eine Studienrich-tung der FH im tertiären Bildungsbereich, welche durch Kooperation von mittel-hessischen Unternehmen, der Industrie- und Handelkammer und der FH zu-stande kommt.

• Ausgewogene Altersstruktur

Die Praxis zeigt, dass eine gemischte Altersstruktur eine Erhöhung der Flexibili-tät bedeutet. Diese Mischung von Kompetenzen sorgt dafür, dass Vakanzen erkennbar und kontinuierlich zur Verfügung gestellt werden. Dieses trägt zur Motivation der Jüngeren bei, weil die Vakanzen häufig hierarchisch höher an-gesiedelt sind. Andernfalls würde, wenn keine Stellenausweitung erfolgt, die

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gleichzeitig eingestellte „junge“ Kohorte für mehrere Jahre eine Statusentwick-lung blockieren.

• Mitarbeiter bestimmen die Betriebsstrategie

Als Meßlatte für den Erfolg der vorgenannten Maßnahmen kann die Inan-spruchnahme von Transferleistungen (z. B.: Erwerbsunfähigkeits- und Berufs-unfähigkeitsrente EU-, BU- Rente) gesehen werden, da dieses ein Abbild der Betriebssituation (Mängel in der Organisation, an den Arbeitsplätzen, der Per-sonalbetreuung u. dgl.) widerspiegelt.7

Neben den betrieblichen Aufgaben und Möglichkeiten, einem beruflichen Altern der Belegschaft entgegen zu wirken, hat der Betrieb auch die Aufgabe, der organi-schen Alterung der Belegschaft zu begegnen, durch:

• Eine altersgerechte Arbeitsplatzgestaltung. Hierzu zählen der Abbau der belas-tenden Arbeitsbedingungen durch eine Rotationsorganisation an den Arbeits-plätzen sowie eine vorausschauende Arbeitsplanung.

• Eine betriebliche Gesundheitsprävention. Die im Rahmen der betrieblichen Ge-sundheitspolitik durchzuführenden präventiven Maßnahmen müssen einsetzen, bevor eine Gefahr für den Arbeitsplatzinhaber eintritt. Für häufig bzw. langfristig Erkrankte sollte ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) installiert werden, welches die seit 1996 vorgeschriebene Gefahrenbeurteilung (§ 84 SGB IX) vornimmt und für den Abbau gesundheitsgefährdender Arbeitsbedin-gungen Sorge trägt. Hierzu darf nicht unerwähnt bleiben, dass und solange ein Verstoß gegen diese gesetzliche Vorgabe sanktionslos bleibt, kaum ein großes betriebliches Interesse besteht, Ressourcen für den betrieblichen Gesundheits-schutz zur Verfügung zu stellen.

Das BEM darf auch nicht nur für Behinderte der Belegschaft bzw. nicht nur ab einem definierten Krankenstand aktiv werden, er sollte auch früher eingreifen können.

Verstöße durch unterlassene bzw. unzureichende Gefährdungsbeurteilungen gem. § 5 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) müssen zu Sanktionen führen.

Zweckmäßig wäre die Etablierung eines Präventionsgesetzes, welches den Un-ternehmen den Gesundheitsschutz in den Betrieben überträgt.8

• Die permanente Aktualisierung der Wissenspotenziale durch die Umsetzung eines (betriebs)-lebenslange Lernens. Neues Wissen sollte weniger über den

„Einkauf“ von Nachwuchskräften als vielmehr durch eine kontinuierliche

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terentwicklung der betrieblichen Bildungsmaßnahmen unter Einbezug der älte-ren Beschäftigten für den Betrieb gewonnen werden.

Für die Älteren bedeutet eine solche Weiterbildung nicht nur eine Wissensver-mehrung, sondern auch einen Statusgewinn und die Stärkung des Selbstwertgefühls. Die Corporate Identity (d. h. die Unternehmenskultur, ethik, -philosophie und das –leitbild) wird gefördert und eine Diskriminierungsplattform („Jüngere haben oft ein besseres Know-how“)9 abgeschafft.

• Die Unterlassung einseitiger Spezialisierungen und dafür eine systematische Kompetenzförderung und eine laufbahnbegleitende Flexibilitätsausbildung, die einen Tätigkeits- und Anforderungswechsel im Zuge der betrieblichen Lauf-bahngestaltung erlaubt.

• Die Unterstützung des Wissenstransfers zwischen den betrieblichen Alters-gruppen und gezielte Nutzung der komplementären, altersspezifischen Fähig-keiten Jüngerer und Älterer durch altersgemischte Gruppenbildung.

Dem Verfasser erscheinen die vorgenannten Maßnahmen innerhalb der be-trieblichen Personal- und Organisationsentwicklung geeignet, nicht nur die In-novationsfähigkeit der Unternehmen mit alternden Belegschaften zu sichern, sondern auch eine Vielzahl von Diskriminierungsplattformen (z. B.: Wissens-stand, hierarchische Eingliederung, Verantwortung, Gleichwertigkeit usw.) zu entschärfen.

Die Flexibilitätsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt steigen: bezüglich der zeit-lichen und räumzeit-lichen Verfügbarkeit, der Kontinuität der Berufsverläufe usw.

Eine noch immer jugendzentrierte Arbeitswelt steht einem zunehmend älter werdenden Erwerbspersonenpotenzial gegenüber. Daraus ergäben sich Be-schäftigungsprobleme, wenn nicht zeitgerecht Gegenmaßnahmen eingeleitet werden und eine alterskonforme Personal- und Arbeitsmarktpolitik Platz greift.

Die Mängel, Gefahren, Ursachen usw. sind bekannt, die Lösungsmöglichkeiten, Auswege usw. auch, es fehlt nur noch an der Bereitschaft, den Mut, dieses Szenario zu aktivieren und als volkswirtschaftliche Gesamtaufgabe zu begrei-fen.

Erfreulich und hoffnungsvoll ist die Tatsache, dass einige Unternehmen die kommende Situation und deren Lösungen, wenn auch nur als Modellversuch, simulieren und bisher – wie berichtet – zu positiven Aussagen kommen.

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