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5. Altersdiskriminierung in der Praxis

5.5 Krankenkassen / Ärzte

5.5.1 Ein Insider packt aus

Der Arzt und Medizinjournalist Werner Bartens berichtet in seinem Werk „Das Ärztehasserbuch“ von Unkorrektheiten, Größenwahn und Ignoranz der Ärzte-schaft gegenüber den Patienten.

Kritisch analysiert er seine eigene Reaktion auf die Frage einer Mitte sechzig Jahre alten Patientin, ob sie sterben müsse, die er beiläufig mit der Floskel:

„Sterben müssen wir alle mal“ beantwortete. Negativ beurteilt er seine Verhal-tensweise sowie die seiner Medizinkollegen. Erschreckt stellt er fest, dass sich seine bisherige Zuneigung zu alten Menschen zu einer Bedrohung entwickelt habe. Er beobachtete, dass sich viele seiner Kollegen/innen gegenüber den Hilfesuchenden ebenfalls gefühlskalt, oberflächlich und zynisch verhalten, und fragt sich, ob dieses Auftreten als eine Art des Selbstschutzes wegen der permanenten Anspannung und der Überlastung anzusehen ist?

Unter dem Begriff der sprechenden Medizin kann, nach Auffassung Bartens, nicht verstanden werden, dass die Ärzte immer nur reden, dem Patienten

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nicht zuhören, ihm über den Mund fahren, sie kränken und beleidigen. Er schildert hierzu den Fall einer älteren, an Rheuma erkrankten Dame, zu der der Rheumatologe nach der Inaugenscheinnahme ihrer Beine feststellte:

„Mein Gott, sie haben ja Stampfer!“ Bartens vermerkte hierzu, dass die ältere Dame noch nie derartige Demütigung gesagt bekam und dies erst recht nicht von einem Mediziner erwartete.

Der zu einem einundachtzig Jahre alten Patienten gerufene Notarzt diagnosti-zierte Flüssigkeitsmangel und verordnete, gegen den Willen des Patienten („Da käme man lebend nicht heraus“, sagte dieser), eine Krankenhauseinwei-sung. Eine häusliche „Behandlung per Infusion“, als anzuwendende Therapie, lehnte der Notarzt kategorisch ab. Alle Bemühungen den Patienten umzu-stimmen blieben erfolglos, so dass „…der Notarzt fast persönlich beleidigt…“

abrückte, ohne dem Mann in irgendeiner Weise geholfen zu haben. Ein her-beigerufener zweiter Notarzt kam zu der gleichen Diagnose, sah jedoch von einer Klinikeinweisung ab. Er versorgte den im Wohnzimmer sitzenden Patien-ten (Infusion), dessen Zustand sich nach vierundzwanzig Stunden normalisiert hatte.

In einem weiteren Beispiel behandelt der Autor die Belegungspolitik in statio-nären Krankenversorgungseinrichtungen. Äußeres Zeichen sind die in den Stationsfluren aus den Krankenzimmern ausgelagerten Patientenbetten. Be-sonders „beeindruckend“ ist diese Patientenverwahrung dann, wenn diese Betten mit Urinbeutel, Flaschen und sonstigen körperflüssigkeitsableitenden Drainagen drapiert sind. Dieses System der Patientenbetreuung erfüllt nach seiner Deutung gleichzeitig mehrere Funktionen:

• Demotivierung von Patienten und Angehörigen zu einer Einweisung ihrer (älteren) Angehörigen in „…diese Vorhölle“,

• Disziplinierung von missliebigen Patienten, die Ansprüche stellen, ständig nach der Schwester und / oder nach dem Arzt verlangen bzw. Extrawün-sche äußern mit der Androhung, wegen der Bettenknappheit auf dem Gang platziert zu werden,

• Demonstration der Assistenzärzte gegenüber dem Chefarzt über ihre Be-mühungen, auf dieser Station bis an die Belastungsgrenzen des Gesund-heitssystems tätig zu sein,

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• diese „Gangbetten“ gelten außerdem als Gradmesser für eine hausinterne Rangliste über erfolgreich abgelehnte bzw. erfolglos zurückgewiesene Aufnahmeersuchen. In der Werteskala haben Zugänge einen negativen Wert und sind grundsätzlich zu vermeiden. Priorität besitzt die erfolgreiche Verlegung, gleichgültig aus welchem Grunde.

Für die interne Klinikbewertung der Ärzte gilt die Norm, dass Neuaufnah-men – wegen der damit verbundenen Arbeit – als schlecht einzustufen sind. In der örtlichen Hierarchie gelten die Ärzte als Positivum, die wie eine Mauer Neuaufnahmen kategorisch ablehnen. Als Sieb werden dagegen jene Ärzte bezeichnet, die allen Aufnahmeersuchen der Haus- und Klinik-ärzte für morbide, verwirrte bzw. für medizinisch nicht lösbare Krankheits-fälle ein Klinikbett zu finden, entsprachen. Dahinter verbarg sich die Er-kenntnis, dass sich etliche Neuaufnahmen als Mogelpackung entpuppten, da die Einweisungsdiagnosen nicht dem wirklichen Krankheitsbild entspra-chen. Hierzu gibt es verschiedene Techniken. So kann der Chirurg zum Beispiel das Blut eines Patienten so weit eindicken, bis das Herz grenzwer-tig belastet wird und sich bedrohliche, einem Herzinfarkt entsprechende EKG-Veränderungen zeigen. Somit kann der Patient aus der Chirurgie in die Innere Medizin abgeschoben werden.

Der Mediziner stellte fest, dass jeder Stationsarzt seine eigene Strategie zur Technik des Abschiebens und des Patientenhandels entwickelte. Hausintern waren die persönlichen Rekorde und Bestmarken bekannt, insbesondere wer schnell zu überreden war bzw. wer unerbittlich bei seiner (ablehnenden) Mei-nung blieb.

Dieser Abschiebe-, Verlege- und Überweisungstechnik bedienten sich auch einige Alten- und Pflegeheime und kompensierten so den an den Wochenen-den reduzierten Personaleinsatz. Auch hier griff die gängige Methode der Ex-sikkose, d.h. die Austrocknung der älteren Schutzbefohlenen, deren Durstge-fühl ohnehin stark reduziert ist.

Nur knapp zwei Wochen ertrug das ärztliche und pflegerische Stationsperso-nal die Betreuung einer todgeweihten einundachtzig jährigen Patientin. Alle Therapieversuche blieben wirkungslos, und allen war klar, dass sie sterben würde. Der Chefarzt rechnete den Stationsärzten vor, dass seine einmal wö-chentlich stattfindende Visite am Krankenbett der alten Dame „…eine

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dung seiner Kompetenzen und seiner teueren Arbeitszeit“ bedeute. Zudem besaß er kein Interesse am Zustand der sterbenden Patientin. Um dieses Problem zu lösen, reaktivierte das Stationspersonal ein als Lager- und Abstell-raum genutztes Zimmer. Verzweifelt musste die Patientin es erdulden, mit ih-rem Bett in diesen Raum geschoben zu werden. Das ärztliche und pflegeri-sche Stationspersonal erfasste eine große Erleichterung, als der „Umzug“ ab-geschlossen war. Denn ab sofort gehörte die alte Dame nicht mehr zum Stati-onsalltag, da sie bei Visiten nicht routinemäßig und in voller Personalpräsenz aufgesucht wurde. Obwohl die Mehrheit des Pflegepersonals „…einen Bogen um diese Abstellkammer mit der sterbenden Patientin“ machte, waren die Versorgung und Pflege (Verpflegung, Toilette u. a.) sichergestellt. Die Ver-weildauer bis zum Tod betrug vier Tage, und der Chefarzt stellte am Visitentag die Frage: “Ist sie weg?“

Das Phlegma und die Abgestumpftheit mancher Ärzte gegenüber dem Patien-tenschicksal sind erschreckend. Sie vergessen gelegentlich, dass viele - auch schicksalsbedingte – Leiden durch ärztliche Kunst positiv beeinflusst werden könnten.

In diesem Kontext schildert Bartens den Fall einer dreiundsechzigjährigen an Brustkrebs erkrankten Patientin, die wegen der Lethargie des behandelnden Arztes nicht im Normzyklus der Chemotherapie (Anm. in Abständen von drei oder vier Wochen) behandelt wurde und aus eigenem Antrieb nach neun Mo-naten in der Onkologie des Krankenhauses vorsprach.

Ein Oberarzt, der viele an Brustkrebs erkrankte Patientinnen betreute, wun-derte sich nach der Falldarstellung einer achtundsechzigjährigen Dame in der wöchentlichen „Klinischen Konferenz“ über die vorgeschlagene, sehr belas-tende Chemotherapie. Angesichts der Tatsache, dass einer weitaus weniger anstrengende Hormonbehandlung eine Heilungschance von siebzig Prozent in den ersten fünf Jahren zugeschrieben wird (zum Vergleich: der nebenwir-kungsreichen Chemotherapie wird eine Heilungsaussicht von zweiundsiebzig Prozent zugeschrieben), erklärte der Assistenzarzt auf Nachfrage, dass die Patientin über die ungleich höhere Belastung und eine Chancensteigerung von zwei Prozent bei der Chemotherapie unterrichtet sei. Anlässlich einer Kontrolluntersuchung erhielt der Oberarzt auf eine entsprechende Nachfrage

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von der Patientin die Antwort: „Ja, ich werde dadurch höchstwahrscheinlich geheilt.“

Auch diese Tatsachenschilderung ist ein weiteres Beispiel ärztlicher Überheb-lichkeit über die Gesundheit und das Wohlbefinden (z. B.: durch eine unzurei-chende Aufklärung) allein bestimmen zu können.

Ein siebenundsechzig Jahre alter Mann vom Typ „workaholic“ brach zu Hause zusammen. Der Notarzt des Rettungshubschraubers diagnostizierte einen Schlaganfall und verordnete eine sofortige Klinikeinweisung. Jetzt ging es um Minuten und Sekunden. Vier per Funk kontaktierte Kliniken lehnten aus Kapa-zitätsgründen eine Aufnahme ab. Der Hubschrauber flog fast eine Stunde ziel-los in einer Warteschleife, und der Notarzt benutzte zwischenzeitlich das Funkgerät wie einen Schlagstock und schrie seine Kollegen am Boden an.

Plötzlich gab es in einer Klinik einen freien Platz, und der Hubschrauber konn-te landen.

Dem Notarzt waren die wirklichen Ursachen der Aufnahmeverweigerung be-kannt: - arbeitsintensiver, schwieriger Fall,

- ökonomische Gründe.

Obwohl die Ärzteschaft dieses verneint, wissen Standesvertreter, dass solche Fälle immer wieder vorkommen und sich wegen der ökonomischen Zwänge ausweiten werden. So stellt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Un-fallchirurgie zu diesem Problem fest: „Der Schwerverletztentourismus muss endlich beendet werden“ und „Jeder Patient sollte innerhalb von dreißig Minu-ten in der Klinik sein“.23

Zurück zu dem geschilderten Fall. Der Patient überlebte mit Sprach- und Geh-störungen. Keiner der behandelnden Ärzte hat bisher seiner Ehefrau darge-legt, dass dieser Zustand das Ergebnis seiner verzögerten Klinikaufnahme sein kann.24

Neben der ökonomisch und organisatorisch geprägten Blickrichtung richtet der Autor seinen Blick auch auf den Umgang mit ärztlichen und Dosierungsfeh-lern. Mediziner reagieren empfindlich, wenn es um die Beurteilung ihrer Be-mühungen geht. Hierzu einige Vergleichszahlen. In Deutschland sterben pro Jahr im Straßenverkehr weniger als siebentausend Menschen. In der Medizin nach vorsichtigen Schätzungen jedoch jährlich mindestens sechzehntausend Patienten durch fehlerhafte Medikation. Bartens betont, dass es sich hierbei

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nur in den seltensten Fällen um ärztlichen Pfusch handelt, häufiger jedoch um Dosierungsfehler mit seinen Neben- und Wechselwirkungen. Eine Übertra-gung der Erkenntnisse aus Norwegen, Großbritannien und den USA auf Deutschland (exakte Ergebnisse gibt es nicht) hätte als Ergebnis sogar fünf-zig- bis sechzigtausend Todesfälle.25