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6 „Leser durch und durch“ 365 , von einer „fast krankhaften Sucht nach Bücherbesitz“ 366 Befallene und „Mörder aus Bücherwut“ 367

6.2 Büchernarren in den untersuchten Romanen .1 Klaas Huizing: Der Buchtrinker.1 Klaas Huizing: Der Buchtrinker

6.2.1.1 Magister Tinius

Eine „Zentralfigur der literarischen Bibliomanie“389 ist die Person des historischen Pfarrers Magister Johann Georg Tinius (1764−1846). Um seine Büchersammlung zu mehren und seinem Bücherwahn nachzugeben, hat Tinius zwar keine Bücher entwendet, doch unter Missachtung von Moral und Vernunft Verbrechen begangen. Er hat Urkunden gefälscht und Kirchengelder verun-treut, um an die nötigen finanziellen Mittel für weitere Buchkäufe zu gelangen, und schreckte nicht davor zurück, Menschen zu berauben oder sogar zu töten. Seine Leidenschaft Bücher zu sammeln und seine kriminellen Taten fanden und finden in der Literatur große Beachtung, auch über seine Autobiographie und zeitgenössische Pitavale ist man heute bestens über sein Leben und seine Taten informiert. Der Fall Tinius wurde bis heute auch fiktional häufig behandelt390: In dramatischer Form391, den Kriminalfall aufrollend392, im Roman, eben in Der Buchtrinker und zu-letzt in Detlef Opitz’ Der Büchermörder (2005). Wie Huizing setzt Opitz einen heutigen Helden, den Erzähler, auf die Spur des Büchernarren und reflektiert damit die eigene Neuerforschung des historischen Kriminalfalls. Magister Tinius tritt als einzige Büchernarren-Figur in einem Korpus-titel auf, die tatsächlich existiert hat.

Tinius’ Fall ist wohl deshalb so bekannt geworden, da man einem Geistlichen eine solche kri-minelle Energie nicht zutraut und weil er bis zum Äußersten ging und seiner Bücherleidenschaft Menschenleben opferte. Zur Legende wurde er seinen Zeitgenossen, da er raffinierte Betäubungs-mittel (Schnupftabak, Blumensträuße) und Verkleidungen einsetzte, so dass bald abenteuerliche Geschichten über ihn kursierten und er zu einer Schreckensfigur nicht nur für Kinder wurde. Die anhaltende Rezeption zeigt, dass Tinius auch als literarische Figur bis heute reizvoll ist, da sie die Faszination für das Abgründige befriedigt. Seine Geschichte gehört beinahe in den Bereich der Schauerliteratur, hat aber einen realen Hintergrund. In den mit fiktiven Anteilen angereicherten fiktionalen Porträtierungen des Büchernarren wird dargestellt, was in der Realität tabuisiert ist:

Ohne Rücksicht auf Verluste jedweder Art Unmengen an Büchern zusammentragen und sogar für

389 Frewer & Stockhorst (2003), S. 248.

390 Weitere Titel über Tinius erwähnt Georg Ruppelt: Buchmenschen in Büchern. Wiesbaden: Harrassowitz, 1997, Anm. 20 zu Kap. V, S. 150.

391 Vgl. Paul Gurk: Magister Tinius. Ein Drama des Gewissens. Bremen: Schlüssel-Verlag, 1946.

392 Vgl. Ernst Arnold: Der Pfarrer und Magister Tinius. Leipzig: Reclam, 1936.

sie töten. So bietet die Geschichte ein Identifikationsangebot für Bücherliebhaber, die tatsächlich nicht alles für Bücher tun würden, aber Tinius’ Buch-Leidenschaft nachvollziehen können393.

Tinius, das „Bibliomanenungeheuer“394, wird in der Literatur395 immer wieder mit einem an-deren mordenden Büchersammler, mit Don Vincente, dem „Ungeheuer von Barcelona“, in Ver-bindung gebracht (vgl. Kap. II.4). Beide waren Bibliomanen, die aufgrund der Zwangsvorstel-lung, bestimmte Bücher besitzen zu müssen, mordeten und somit die Bücher über die Menschen stellten; „Menschen brauchen nicht zu leben; aber Bücher müssen sein.“396 Košenina bescheinigt Tinius eine „pathologisch[e] Besessenheit“397, Bogeng die „Büchersucht“398. Bogeng399 zeigt aller-dings den Unterschied auf, dass Tinius die Bücher zwar in großem Stil ansammelte, doch mit-nichten der Bücher wegen mordete, und somit nicht als Bibliomane bezeichnet werden könne:

„Tinius […], den einen Bibliomanen zu nennen in jedem Falle seiner Schuld oder Unschuld kein Anlaß vorliegt. Denn er beging seine Verbrechen nicht der Bücher, sondern des Geldes wegen, um sich aus seinen Zahlungsschwierigkeiten zu befreien.“400 Don Vincente als echter Bibliomane dagegen mordete, um in den Besitz von Büchern zu gelangen, was als verwerflicher zu bewerten sei. Tinius unterscheidet von dem ausschließlich für den Erwerb seltener oder kostbarer Bücher mordenden Bibliomanen, dass er die Überfälle beging, um mit dem erraubten Geld seine Schul-den abzutragen, die er wegen des Erwerbs von Büchern, ungeachtet seiner finanziellen Möglich-keiten, angehäuft hatte. Dennoch nahm Tinius den Tod seiner Opfer billigend in Kauf.

Don Vincente und Tinius sind echte Prototypen eines Büchernarren, der eine ein ungelehrter, der andere ein gelehrter Büchernarr. Don Vincente will nur besitzen, liest aber nicht. Die Objekte seiner Begierde sind austauschbar und willkürlich gewählt. Tinius hingegen hungert nach den Inhalten, weshalb er auch die Bücher besitzen will. Hunger ist ein Bedürfnis, das zur Lebenser-haltung befriedigt werden muss, und so betrachtet er auch die Bücher als lebensnotwendig. Arno Schmidt schildert in Das steinerne Herz (1956) eine ähnliche Sicht auf den Büchernarren, der aus der Not heraus zum Mörder werde. Als mildernder Umstand gelte bei ihm die Sucht: „Ich dachte

393 Vgl. dazu Frewer & Stockhorst (2003), S. 262, die Wolfgang Isers anthropologisches Konzept von Literatur-rezeption aus Das Fiktive und das Imaginäre (1991) reflektieren.

394 Bogeng (1922), S. 507.

395 U. a. ebd., S. 510; Ruppelt (1997), S. 107; Košenina (2003), S. 138; Opitz (2005), S. 269.

396 Gurk (1946), S. 42.

397 Košenina (2003), S. 139.

398 Bogeng (1922), S. 509.

399 Vgl. ebd., S. 507−10 zu Tinius. Eine Bibliographie zu Tinius findet sich in Bd. 3, S. 248.

400 Ebd., S. 510. − Diesen Verweis stellt auch Rainer Schmitz her, vgl. Rainer Schmitz: Art. „Tinius, Johann Georg“. In: Ders.: Was geschah mit Schillers Schädel? Alles, was Sie über Literatur nicht wissen. Frankfurt/Main:

Eichborn, 2006, S. 1442f., hier S. 1443.

lange an den Magister Tinius, den Bücherverfallenen, der mit seinem Hammer durch die öden Heiden des Fläming schlich: wenn Andere das Geld haben, und er braucht doch die Bücher?!“401

Tinius’ „Bücherei des Verbrechens“402 zählte etwa 17.000 Bände, in Gurks Drama liest man allerdings die weit höhere, exakte Zahl von 31.473403, Schmitz schätzt den Umfang auf „zwischen dreißig- und sechzigtausend Bücher“404. Für die Bücher mietete er mehrere Lagerräume an, die noch zusätzliche Mietkosten verschlangen. Nach seiner Verurteilung wurde die ganze Bibliothek versteigert, auch Goethe soll einige Bände erstanden haben. Tinius soll seine Bücher alle bis zur

„Inbesitznahme“405 auswendig gekannt haben, so dass ihm als fleißiger Leser, der er war, auch in Haft der Inhalt seiner Bibliothek geblieben ist. Dort verfasste er seine Auslegung der Johannes-Offenbarung − ein theologisches Trend-Thema der Zeit − und Schriften zum Jüngsten Tag406 ohne Hilfsmittel aus dem Gedächtnis.

Die Literatur zu Tinius, auch die fiktionalen Werke, greifen auf dieselben Quellen zurück und orientieren sich stark aneinander, bieten aber auch Einblicke in unterschiedliche kulturelle Dis-kurse, wenn die krankhafte Bibliomanie u. a. kriminalanthropologisch, soziologisch oder als teu-felsbündlerisch erklärt wird407. Zeitgenössische Beiträge aus der Gartenlaube408 sind beinahe Wort für Wort in Arnolds Porträt des historischen Rechtfalles zu finden, der wiederum in Gurks Drama einfließt und zitiert in Der Buchtrinker zu finden ist. Bei Arnold in Der Pfarrer und Magister Tinius (1936) steht die Tatsache im Vordergrund, dass Tinius als Geistlicher zum Räuber und Mörder wurde. Sein Bücherwahn ist zweitrangig und wird als Erklärungsversuch für seine Taten vernach-lässigt, denn „[s]eine Lieblingsneigung schien, an sich betrachtet, unschuldig zu sein.“409 Die Nei-gung zu Büchern an sich ist tolerabel, lobenswert sogar, als verwerflich wird aber beurteilt, dass sich Tinius als Pfarrer von einer einzigen Neigung beherrschen und diese sogar in Leidenschaft auswachsen ließ. Der Kontrollverlust, der mit seiner Leidenschaft einherging und vor dem Ver-stand, Bildung und Priesteramt bewahren sollten, führte ihn zu verbrecherischen Taten. Lesen und Bücherliebe sind eigentlich positiv konnotiert, und es erschien den Zeitgenossen unerklärlich, wie ein kultivierter Bücherfreund zu diesen Verbrechen fähig war. Wo Arno Schmidt zu erklären, zu

401 Arno Schmidt: Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954. [Zuerst 1956] Frankfurt/Main: Fischer, 1991, S. 158.

402 Bogeng (1922), S. 509.

403 Gurk (1946), S. 20f.

404 Schmitz (2006), S. 1442.

405 Karger (o. D.).

406 Eine vollständige Tinius-Bibliographie findet sich bei Huizing (1996), S. 191f.

407 Vgl. Frewer & Stockhorst (2003), S. 259.

408 E. Fließ: „Das Ende des Magisters Tinius“. In: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt H. 21 (1893), S. 346ff. &

Eduard Schulte: „Ein Verbrecher aus Bücherwut“. In: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt H. 5 (1893), S. 76ff

& H. 6 (1893), S. 88−92.

409 Huizing (1996), S. 144 & Arnold (1936), S. 23.

verstehen und beinahe zu beschönigen versucht, wird Tinius in älteren Bearbeitungen als durch und durch schlecht hingestellt und die Frage nach seiner Motivation außer Acht gelassen.

Das Drama Magister Tinius, Ein Drama des Gewissens (1946) von Paul Gurk, das bereits in den 1930er Jahren erfolgreich aufgeführt wurde, spielt 1839 und fiktionalisiert Tinius nicht als Geist-lichen, sondern zunächst als gnadenlosen Raubmörder. Diese Darstellung kippt in den folgenden Akten, wo er als „faustischer Charakter“410 gezeigt wird, dessen Teufelsbund ihn ins Verderben zog. Seine Bücherlust und Gewissenlosigkeit werden mit dem Streben nach Wissen erklärt. Die Sache des Buchs und somit des Geistes rechtfertigen seine Taten, die er in seiner Eigenschaft als bücherliebender Schöngeist begangen hat. Als Gelehrter, der zu schier unglaublichen Gedächtnis-leistungen fähig war, wird er nun bewundert und als Märtyrer des Buchs gesehen. Im Drama wer-den Tinius Bonmots in wer-den Mund gelegt, die wer-den Stellenwert der Bücher für ihn als Freunde und Vertraute, Erzieher, Trost, Fürsorge, Heimat und Refugium verdeutlichen. Bücher seien Teil der Schöpfung, aber mehr wert als Menschen. Im Sinne der Aufklärung begründet er dies mit der Erschaffung der Bücher aus des Menschen Verstand. Košenina411 stellt sich die Frage, wie die zeitgenössischen Zuschauer und Leser in den 1930ern wohl auf die Tatsache reagiert haben, dass Tinius seine Taten aus einer falschen, aber für wahr gehaltenen Ideologie heraus begründet.

In Der Buchtrinker schildert Huizing die Geschichte eines „Mörders aus Bücherwut“412 und macht damit als einzige fiktionale Tinius-Darstellung die Bücherwut ganz explizit zum Thema. Wo in der übrigen Literatur eher von dessen „Büchersucht“ zu lesen ist, ist der moderne Terminus

„Kaufsucht“413 bei Huizing singulär. Das Buch als Objekt der Begierde wird so allerdings relati-viert. Zwar gehören zu Tinius’ Geschichte auch die Verbrechen, Huizing erzählt aber primär die Geschichte von Tinius’ Bücherliebe, kommentiert sie und stellt sie in Zusammenhang mit der Ge-schichte eines fiktiven heutigen Büchernarren mit dem Ziel, das richtige Lesen und den falschen Umgang mit Büchern vorzuführen und vor einem Überhandnehmen digitaler Medien zu warnen.

Nicht durch das Lesen wird Tinius zum Autor, vielmehr verfolgt er zwei Karrieren: Als Geist-licher verfasst er seine theologischen Schriften, Leser ist er im Privaten. Schon als Kind zeigte er Begeisterung für das Buch „Sittensprüche des Buchs Jesus Sirach für Kinder und junge Leute aus

410 Košenina (2003), S. 140.

411 Ebd.

412 Huizing (1996), S. 13. − Die Umschlagabbildung von Der Buchtrinker zeigt eine Verfremdung von Johann Friedrich Schellenbergs Kupferstich Freund Heins Erscheinungen in Holbeins Manier (1785), der bei Košenina (2003), S. 159, im Original abgebildet wird. Darauf sieht man, wie der Tod in Gestalt eines Skeletts ein Bücherregal umstürzt, so dass die Bücher auf einen lesenden, am Tisch sitzenden Büchernarren herabfallen. Der Umschlag von Der Buchtrinker zeigt anstelle des Büchernarren einen Geistlichen.

413 Ebd., S. 19.

allen Ständen mit Bildern welche die vornehmsten Wörter ausdrücken“414. Die Hausbibliothek der Eltern war pietistisch ausgerichtet und überschaubar, denn ein Buch im Haushalt zu haben bedeu-tete etwas Wertvolles, Kostbares, Besonderes. Dabei ist das intensive Lesen im Buch für den jungen Tinius eine Alltagsflucht, bei der er sich in einen anderen verwandelt. Das Klischee des Eskapismus beim Lesen wird hier ganz deutlich: Er flieht vor den ungeliebten Geschwistern und dem kalten Elternhaus in eine Welt, die ganz ihm gehört. Fern der Familie im Studium überneh-men Bücher „als Pflegeeltern“415 seine Erziehung. Seine Bücherliebe beschert ihm das Wohlwollen von Pfarrer und Lehrer, durch seine Bildung wird er „vornehm“416, während seine Geschwister

„bücherscheu“417 bleiben, ein Neologismus in Analogie zu ‚wasserscheu’ sein: etwas ablehnen, weil man es fürchtet. Als Geistlicher macht Tinius rückblickend die Vorsehung für seine Veranlagung und seine Taten verantwortlich. Bei Huizing wird Tinius’ Prädestination für Gelddiebstahl und Buchkaufsucht ironisierend aus dem Familiennamen abgeleitet (lat. tinnire: mit Geld klimpern, zahlen). Tinius hob sich durch seine Bücherliebe zeitlebens von seiner Umgebung ab und wurde durch sie zwar zum Mörder, seine Mitmenschen zeigten aber auch Ehrfurcht und Respekt vor seiner Gelehrsamkeit. Er zeigte eine richtige Art zu Lesen, da er völlig in den Büchern versank und intensiv und genau las, jedoch einen denkbar falschen Umgang mit Büchern.