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3 „Jedes einzelne Buch hat eine Seele.“ 221 − Buch und Leben

3.1 Anthropomorphisierung des Buchs: Lebendige Bücher

3.1.4 Buch und Tod

Das Buch wird als lebendiges Subjekt angesehen und so gehört auch der Tod mit zum Schicksal der Bücher. Das ungelesene, vergessene Buch ist tot, während der Leser das Buch im Zwie-gespräch des Lesens zum Leben erweckt und mit Bedeutung auflädt. Wie oben beschrieben, geht bei der Lektüre ebenso etwas vom Leser auf das Buch über wie etwas aus dem Buch beim Leser zurückbleibt. Daher ist es auch im Interesse des Literaturbetriebs, den Leser weiterhin für das Buchlesen zu begeistern, um das Buch, auch als Konsumgut, am Leben zu erhalten.

Ohne den Leser wären Bücher nur unbelebte Objekte, die ausschließlich auf ihren äußeren Wert − prachtvoller Einband, Rarität − reduziert wären. Texte existieren genau wie Menschen,

„solange sich jemand an [sie] erinnert“287. Daher schätzen die Weggefährten der fiktiven Autoren Prado (Nachtzug nach Lissabon) und Carax (Der Schatten des Windes) die Nachforschungen der Le-serprotagonisten und geben bereitwillig Auskunft. Für das literarische Vermächtnis eines Autors sind die Leser bei Huizing die ‚Testamentsvollstrecker’, denn werden die Texte nicht gelesen, sind sie genauso tot wie die bereits verstorbenen Autoren.

Antiquarische Bücher sind träumende Bücher, die sich in einem „Zwischenzustand […], der dem Schlafen ähnelte“288 befinden, das sieht zumindest der Erzähler in Die Stadt der träumenden Bücher so. Ihre eigentliche Existenz, ihre große Zeit, nämlich diejenige als Novität, haben antiqua-rische Bücher bereits hinter sich und nur noch die Zeit des Zerfalls vor sich. Diese Bücher kön-nen nur zu neuem Leben erwachen, wenn sie von einem Leser gefunden und an sich genommen werden − der Traum aller Bücher −, so können sie unter den Augen des Lesers reanimiert und reaktiviert werden. In diesem Roman gibt es, analog zu Ruiz Zafóns ‚Friedhof der Vergessenen Bücher’ den ‚Friedhof der Vergessenen Dichter’, einen Platz, auf dem gescheiterte Dichter auf Zuruf Verse schmieden und sich so ihren Lebensunterhalt verdienen.

3.1.4.1 Der ‚Friedhof der Vergessenen Bücher’ in Der Schatten des Windes

Der ‚Friedhof der Vergessenen Bücher’ in dem Roman Der Schatten des Windes von Carlos Ruiz Zafón ist eine riesige Bibliothek und ein hermetischer Ort, der nur Eingeweihten zugänglich ist.

Dort werden die Bücher unbekannter Autoren geschützt, doch sind sie auch gefährdet. Einge-schlossen in dieser Bibliothek und ungelesen, bis auf die geringe Möglichkeit, dass sie ein Leser adoptiert, laufen die Bücher Gefahr, ihrem ursprünglichen Zweck, der Lektüre und Verbreitung,

287 Ruiz Zafón (2003), S. 193.

288 Moers (2006), S. 33.

entfremdet zu werden und zu sterben. Für exzessive Leser, die über dem Lesen nicht mehr aktiv am äußeren Leben teilnehmen, keinen Kontakt mehr zu den Menschen halten, sind die Bücher aber auch selbst wie Gräber.

So wie Bücher lebendig sind und durch Vernachlässigung sterben, so finden sie einen Ruhe-platz auf einem Friedhof, wo sie ihrer Wiedererweckung harren. Hier wird ein Konzept entwor-fen, das der Leser offenbar ohne zu Zögern für sich annehmen kann. Obwohl sachlich feststeht, dass ein Buch ein unbelebter Gegenstand aus Papier, Pappe und Druckerschwärze ist, scheinen die Leser bereit, die Lebendigkeit der Bücher in den Romanen zu akzeptieren und nicht zu hin-terfragen. Auch der religiöse Aspekt eines Friedhofs wird hier übernommen und auf die Bücher übertragen: Die Bücher auf dem Friedhof können zu neuem Leben auferstehen.

Ungelesene Bücher sind vergessen, um ihnen die Möglichkeit einer Reanimierung offen zu halten, werden sie auf den ‚Friedhof der Vergessenen Bücher’ gebracht. In der jüdischen Kultur werden, z. B. durch Schreibfehler, entweihte oder aus Altersgründen nicht mehr brauchbare Thora-rollen beerdigt. Auf dem Friedhof werden aber auch von der Vernichtung bedrohte Bücher ver-wahrt, um sie zu schützen:

[…] wenn ein Buch dem Vergessen anheimfällt, dann versichern wir uns, die wir diesen Ort kennen, also die Aufseher, daß es hierhergelangt. Hier leben für immer die Bücher, an die sich niemand mehr erinnert, die Bücher, die sich in der Zeit verloren haben, und hoffen, eines Tages einem neuen Leser in die Hände zu fallen. In einer Buchhandlung werden Bücher verkauft und gekauft, aber eigentlich haben sie keinen Besitzer. Jedes Buch, das du hier siehst, ist jemandes bester Freund gewesen.289

Die Personifizierung der Bücher als ‚gute Freunde’ wertet sie zusätzlich auf und stellt das Lesen als etwas Besonderes, Persönliches dar. Damit soll das Buch als Individuum gestärkt werden, das sich von der Massenware abhebt und ein direkter, enger Bezug zwischen Leser und Buch herge-stellt werden. Im Roman muss jemand, der den Friedhof zum ersten Mal besucht, das für ihn be-stimmte Buch erkennen, „und er muß es adoptieren und darum besorgt sein, daß es nie ver-schwindet, daß es immer weiterlebt.“290 Der Leser, der das Buch ‚adoptiert’, erweckt es zu neuem Leben und bewahrt es vor Vergessen und Tod. Im Begriff ‚adoptieren’ wird wiederum die Ver-menschlichung des Buchs deutlich. Es ist in der Vorstellung, die Autoren verbreiten und die von Lesern offensichtlich akzeptiert wird, ethisch nicht akzeptabel, dass ein Buch verschwindet. Sein Zweck und seine Bestimmung sind es, gelesen zu werden, deshalb ist auch der Leser in der Pflicht, sich um Bücher verdient zu machen, sie zu verbreiten, darüber zu sprechen. Dieses Credo erinnert beinahe an die Pflicht von Gläubigen, ihren Glauben weiterzutragen.

289 Ruiz Zafón (2003), S. 10.

290 Ebd.

3.1.4.2 Der Leser als Gefahr für das Buch

Zwar ist der Leser derjenige, der das Buch zum Leben erweckt, doch ist er auch eine Gefahr für das Buch, die durch den unpassenden Umgang mit dem Buch resultiert (vgl. Kap. III.6.3).

Schweiggerts Bibli sieht seine Zukunft als Buch als eine qualvolle, schließlich tödliche vor sich:

Er sah sich in abgelegenen Bibliotheken in trostlosen Buchregalen verkümmern und verstauben. Er fühlte, wie ihn unsaubere Leserhände beschmutzen und unfein mit ihm umgingen, wenn sie gleichgül-tig die Ecken der Seiten umknickten, seinen Rücken durch zu weites Auseinanderbiegen beim Öffnen über die Maßen belasteten und nicht einmal davor zurückschreckten, Seiten einzureißen oder mit Stif-ten auf seinem Papier herumzukritzeln. Er sah sich als beschädigtes, mit allen nur erdenklichen Spuren des Gebrauchs behaftetes Exemplar auf einem Stapel liegen. Er ahnte sein Ende voraus, indem er sich ins Feuer geworfen fühlte oder unter entsetzlichen Qualen litt, als man ihn zu Brei makulierte.291

An anderer Stelle heißt es über den unachtsamen Leser:

Er reißt beim Umblättern Seiten ein, beschädigt gedankenlos beim Herausnehmen eines Buches aus dem Regal dessen Rücken, verwendet Bücher als Unterlage für schiefstehende Möbel oder benutzt sie als Wurfgeschoß. Er scheut sich nicht, Bücher mit fettigen oder in anderer Weise beschmutzten Fingern anzufassen, biegt sie beim Aufschlagen zu weit auseinander, fährt mit der Faust kräftig über die Sei-tenheftung, kritzelt auf dem Papier herum, legt sie rücksichtslos längere Zeit geöffnet auf das Gesicht, läßt sie im Freien liegen, jeder Witterung ausgesetzt, und verwendet sie nicht selten als Brennmaterial.292

Der Hinweis auf diesen weit verbreiteten, aber unangemessenen Umgang mit dem Buch und die Gefährdung des Buchs durch den Menschen scheint dem Autor am Herzen zu liegen, da er gleich zwei solcher Auflistungen in seinen Roman einflicht. Die Agonie des Buchs besteht laut den Romanen aus unsachgemäßem Gebrauch und aus den Endstationen des Buchs auf dem Buchmarkt293: Lagerkeller, Makulatur, Ramsch- und Wühltische, Altpapierpresse und schließlich Vergessen und ‚Tod’.

„Bibliotheken sind die wahren Friedhöfe der Ideen.“294 − Werden die Bücher nicht genutzt und ihre Inhalt nicht denkend aufgenommen und Ideen verbreitet, findet kein Austausch und keine Vernetzung zwischen Lesern statt, werden Bibliotheken zu Friedhöfen. Bereits im 18. Jahr-hundert gab es Stimmen, die die tradierte und womöglich bis zur völligen Verstaubung unbe-nutzte Welt des Wissens in den Bibliotheken als tot ansahen295. Diese ‚tote Bibliothek’ taucht als Topos in der Literatur auf und steht im völligen Gegensatz zum organischen ‚Buch der Natur’.

Der Tod des Buchs geschieht durch das Vergessen seines Textes: Digitalisierung und Lang-zeitarchivierung elektronischer Quellen und eine beinahe unendliche Verfügbarkeit von Texten,

291 Schweiggert (1989), S. 70.

292 Ebd., S. 99.

293 Vgl. dazu auch Maike Schiller: „Endstation Altpapierpresse. Makulatur: Nach dem Ramschtisch − was aus Büchern wird, die keiner mehr lesen will.“ In: Hamburger Abendblatt, 10.05.2005, online [http://www.

abendblatt.de/kultur-live/article325168/Endstation-Altpapierpresse.html], eingesehen am 14.11.2010.

294 Walter Mehring: Die verlorene Bibliothek − Autobiographie einer Kultur, 1980, S. 124, nicht eingesehen, zitiert nach: Achim Hölter: „Zum Motiv der Bibliothek in der Literatur“. In: Arcadia 28 (1993), S. 65−72, hier S. 69.

295 Vgl. dazu Japp (1975), S. 653.

abhängig von der zukünftigen Lesbarkeit der Speichermedien, können dem entgegenwirken, aber nur, wenn die gespeicherten Texte auch tatsächlich genutzt und verbreitet werden:

Texte als Speicher − schön und gut. Sagen wir aber statt Konservieren nun Einfrieren, sagen wir zur Bibliothek nun Aufbewahrungs-Halle oder gar Aufbahrungs-Halle, polarisieren wir einen leblosen Speicher gegen eine lebendige Verkörperung, eine tote Schrift gegen eine mediale Bewegung […]296

3.2 Schlussfolgerung

Leser hauchen Büchern Leben ein. Wirkungsästhetische Ansätze, die dem Leser und dem Rezep-tionsprozess eine bedeutsame Stellung gegenüber dem Verfasser eines Textes zubilligen, werden in vielen Buch-Büchern wörtlich genommen und fiktional aufbereitet. Für Leser, die sich gern mit dem Buch beschäftigen, ist es zusätzlich reizvoll, über lebendige Bücher und sich selbst als Leser zu lesen. Ein passionierter Leser sieht das Lesen als lebensnotwendiges Bedürfnis an.

Nüchtern und pragmatisch betrachtet ist Lesen aber keineswegs lebensnotwendig. Für viel lesende Bücherfreunde ist es zweifellos wichtig und Gewohnheit, jeden Tag zu lesen, aber auch ohne Lesen kann man leben. An dieser Stelle wäre interessant zu untersuchen, wie Liebhaber anderer Künste, z. B. Cineasten, mit dem Konsum von Kunstwerken umgehen und ob sie ihm die gleiche Glorifizierung angedeihen lassen wie Leser den Büchern.

4 „Ich möchte wissen, wie es war, er zu sein.“

297