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6 „Leser durch und durch“ 365 , von einer „fast krankhaften Sucht nach Bücherbesitz“ 366 Befallene und „Mörder aus Bücherwut“ 367

6.1 Bibliophilie oder Bibliomanie?

Die Bücherliebe und das Büchersammeln scheinen Voraussetzung für den qualifizierten Umgang mit Büchern zu sein. Die Konvention zeigt, dass jeder Gelehrte ein Büchernarr ist, aber nicht jeder Büchernarr ist auch ein Gelehrter. Doch ist die Zuneigung zu Büchern unterschiedlich stark ausgeprägt. Wo man das Lesen wie ein Handwerk erlernen muss, ist der Bibliophile ein Meister seines Fachs. Aus der Gewohnheit wird ein Bedürfnis, und so kann aus dem Bücherfreund ein Büchernarr werden, bis er als Bibliomane seine Bücher nicht mehr liest, sondern nur noch, weit über den Rahmen der realistisch zu bewältigenden Menge an Büchern hinaus, wahllos anhäuft.

368 v. König (1977), S. 92.

369 Fabian (1977), S. 48−88, hier S. 49.

Der Bibliomane tritt also in zweifacher Ausprägung auf: Als ‚gelehrter Narr’, der Bücher zu dem Zweck ansammelt, sie auch zu lesen, und der ungelehrte, der Bücher nur besitzen will.

Die Grenzen zwischen dem Bibliophilen und dem Bibliomanen verschwimmen jedoch, im-mer wieder kommt es zu Überschneidungen und Verschiebungen. G.A. Bogeng definiert in sei-nem Überblick über historische Bibliophile:

Bibliomanie ist die Kehrseite der Bibliophilie. In den allmählichen Abstufungen einer Bibliofolie wird der Bibliomane aus dem Bibliophilen. Wer will entscheiden, wo der gute Bücherfreund aufhört, sich in den schlechten verwandelnd. Das ist eine Frage der Moral. Und wer will die Grenzen ziehen zwischen dem dummen und dem klugen Sammler; zwischen Wahnwitz und Weisheit; zwischen der Büchertollheit un-gestümer Sammler und der Bücherwut krankhafter Veranlagung; zwischen Leidenschaft und Liebe.370

Der Bibliophile ist ein Bücherliebhaber, der fast immer auch Sammler besonders ausgestatteter, seltener und wertvoller Bücher ist, die er aus Liebe zu den Büchern sein eigen nennt. Die Samm-lung ist meist auf ein bestimmtes Gebiet spezialisiert, wie z. B. Handschriften oder Wiegendrucke.

Bücherliebe artet schnell in einen Bücherwahn aus, in eine „krankhaft überspitzte Bücherliebe“371, in deren Namen Gesetze von Vernunft und Moral gebrochen werden. Der Büchernarr ist kein Sammler von Spezialitäten, sondern bringt alles an sich, dessen er habhaft werden kann. Dabei missachtet er die Moral, indem er für den Besitz der Bücher Verbrechen begeht, sich Bücher kri-minell aneignet oder sogar tötet, und die Vernunft durch das wahl- und ziellose Anhäufen von Büchern und die Vernachlässigung seiner Pflichten. Die Bücher bestimmen sein Leben und seinen Alltag, so dass er bald keiner geregelten Tätigkeit mehr nachgeht, dennoch benötigt er finanzielle Mittel für weitere Bücher, was zu seinem Dilemma wird. In der Person eines Büchernarren bün-deln sich so die Argumente der Lesesuchtkritik. In moralischem Sinne gelten Magister Tinius und Don Vincente (vgl. Kap. II.4) als schlechte Beispiele, da sie bereit waren, für Bücher zu morden.

Seine Kenntnisse nutzt der Bibliophile zur Buchpflege und Erhaltung kostbarer Bände. Unter dem Vorwand, unersetzliche „Schätze der Wissenschaft“372 bewahren zu wollen, versuchte auch Don Vincente seine Taten als hehr und harmlos hinzustellen, blieb aber doch ein Bibliomane.

Bibliomanie gilt als „übermäßige Ausschweifung in der Historie der Gelehrsamkeit“373, doch der Bücherbesitz allein macht noch keinen Gelehrten, worauf der Topos des ‚ungelehrten Bücher-narren’374 hinweist, welcher Bücher als reine Sammelobjekte anhäuft, ohne sie zu lesen oder sich

370 Bogeng (1922), Bd. 1, S. 499, Anm. 10.

371 Helmut Hiller & Stephan Füssel: Wörterbuch des Buchs. 7., grundl. überarb. A. Frankfurt/Main: Klostermann, 2006, S. 48.

372 Bogeng (1922), Bd. 1, S. 511.

373 Johann Andreas Fabricius: Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit, 1752, nicht eingesehen, zitiert nach Košenina (2003), S. 141.

374 Vgl. ebd., S. 134.

für den Inhalt zu interessieren. Die folgende Übersicht stellt die Charakteristika der Bibliophilie und der Bibliomanie einander gegenüber375.

Bibliophilie Bibliomanie

 Büchertollheit  Bücherwut, krankhaft, Kehrseite der Bibliophilie: in Wahnsinn ausartend

 Unschuldige Liebe  Verderbliche Leidenschaft

 Liebender Sammler  Gieriger Raffer

 Schätzt den Inhalt der Bücher, liest viel

 Schätzt das Äußere der Bücher,

liest nicht alle oder keines seiner Bücher

 Verständige Auswahl, achtet auf hohe Qualität

 Wahl-, sinn-, ziellose, ungeordnete Anhäufung, Quantität, „bookhunter, der Sammelsport betreibt“376

 Wertung des Buchs nach Inhalt und Äußerem, Seltenheit, Ausstattung etc.

 Wägung und Vermessung, Äußeres und Formales

 „der Allgemeinheit nützende Buchpflege“377

 Schreckt nicht vor Buchbeschädigung, Diebstahl und Verbrechen zurück, um zur persönlichen Bereicherung in den Besitz der Bücher zu gelangen

 Büchersammlung/Bibliothek zu Bewunde-rung“378 vor einer großen Büchersamm-lung. Der Bibliomane kompensiert seine

Sowohl Bibliomanen als auch Bibliophilen ist an einer möglichst umfangreichen Bibliothek gele-gen. Die Bibliomanen häufen an und horten, Bibliophile möchten viele Bücher zur Lektüre und ihrer Exklusivität wegen besitzen. Der Umfang der Bibliothek soll zudem Besucher in Staunen

375 Die Darstellung basiert auf Bogeng (1922) Bd. 1, Kap. IX „Bibliomanen“, S. 499−512 sowie Hiller & Füssel (72006), S. 48f.

376 Ebd., S. 499f.

377 Ebd., S. 501.

378 Ebd., S. 504.

versetzen, denn sie dient auch der Repräsentation von Belesenheit, Geschmack und finanzieller Mittel: „Tatsache ist, dass letztlich der Umfang einer Bibliothek zählt. Wie ein riesiges Gehirn wird diese nämlich unter fadenscheinigen Entschuldigungen und falscher Bescheidenheit zur Schau gestellt.“379 So tragen Büchernarren, zumindest in der Fiktion, leicht Bibliotheken mit einer Bücheranzahl im fünfstelligen Bereich zusammen. Allerdings macht eine große Bibliothek noch keinen Gelehrten, die Bücher wollen auch gelesen sein, so dass sich der Leser auch mit „geisti-ge[n] Erwerbungen“380 schmücken kann. Aus diesem Grund beweist der Bibliomane, der nicht liest, einen falschen Umgang mit Büchern.

6.1.2 Bibliomanie als krankhafter Umgang mit Büchern

Košenina erwähnt, dass schon Christoph Martin Wieland die Bibliomanie in einer Lucian-Überset-zung als „eine der unschuldigsten Thorheiten“381 verharmloste. Auch Nicholas A. Basbanes zeigt in seiner Sammlung von Büchernarren und -freunden die Bibliomanie als „gentle madness“ und nach Benjamin Franklin als „the gentlest of infirmities“382. Mit ihren verschiedenen Ausprägungen wird die Bibliomanie als Bücher‚verrücktheit’ jedoch zur krankhaften Veranlagung und Suchterkrankung.

Der Typ des Büchernarren wurde, eng verknüpft mit der Lesesuchtkritik, schon immer skeptisch betrachtet und sogar verspottet. Die gängigen Vorurteile gegen den Gelehrten werden auch dem Bibliomanen zugeschrieben, da die Büchersucht besonders häufig unter Gelehrten anzutreffen ist:

Über seinen Studien gelinge es ihm nicht, eine Partnerin an sich zu binden, oder er zeigt daran überhaupt kein Interesse, da er die Bücher vorzieht. Zum anderen werden Gelehrter und Biblio-mane häufig kränklich dargestellt, was auch in eine geistige Krankheit ausarten kann. Man nahm an, dass die übermäßige Lektüre wegen der Überanstrengung der Augen sowie der mangelnden Bewegung und der krummen Körperhaltung für den ‚geneigten’ Leser schädlich sei und Erkran-kungen fördere. Zudem verzichten Bibliomanen häufig auf Nahrungsaufnahme und Schlaf, um ihrer Manie mehr Raum zu geben. Die Beschäftigung mit Büchern führe, im Übermaß durchge-führt, zu Hirnschäden und darüber zu körperlichen Beschädigungen, der Bücherwurm sei „meis-tentheils an Seele und Körper verkrüppelt“383. Unter Bibliomanen herrsche eine geistige Krankheit vor, die in den meisten Fällen unheilbar ist. Darunter leide er selbst, sei aber unfähig, seine Manie zu überwinden. Zum Bild des Büchernarren gehört auch die Verwahrlosung im Alltag, was sein Äußeres und mangelnde Hygiene ebenso betrifft wie den Mangel an sozialen Beziehungen und in einigen Fällen die Aufgabe von Beruf und Besitz, um ganz für die Bücher leben zu können.

379 Domínguez (2006), S. 18.

380 Ebd., S. 17.

381 Vgl. Košenina (2003), S. 134.

382 Nicholas A. Basbanes: A Gentle Madness. Bibliophiles, Bibliomanes, and the Eternal Passion for Books. New York:

Henry Holt & Co., 1995, S. 3.

383 Johann Christian Reil: Nervenkrankheiten, 21805, nicht eingesehen, zitiert nach Košenina (2003), S. 138.

Das schwerwiegendste Symptom der Bibliomanen ist die Fixierung auf den Besitz bestimmter Bücher, wobei der Büchernarr unterschiedliche Ausprägungen und Spezialisierungen384 zeigt. Ein Bibliotaph versteckt seine Bücher als Schätze, die er ganz für sich haben möchte und lediglich hortet. Dadurch, dass er sie wie Wertgegenstände im Tresor wegschließt, entzieht er sie dem le-bendigen Gebrauch, für den sie eigentlich vorgesehen sind. So führt er eine „Totenhalle“385 für Bücher, die nicht gelesen und der Öffentlichkeit vorenthalten werden. Der Biblioklast sammelt Spezialitäten und schreckt nicht vor der Beschädigung von Büchern zurück, wenn er z. B. einen bestimmten Aufsatz oder einen wertvollen Druck benötigt, schneidet er ihn aus dem Buchblock aus. Möglich ist auch eine Zerstörung von Büchern zu Sammlerzwecken, mit Hilfe derer der Biblioklast die Seltenheit seiner eigenen Bücher steigert und sie so aufwertet. Der Biblioklep-tomane stiehlt triebhaft, misst den Büchern aber keinerlei Wert bei. Nicht außer Acht gelassen werden sollte, dass es neben dem Büchersüchtigen auch den Bibliophoben gibt, der eine krank-hafte Abneigung gegen Bücher zeigt.

Als Psychotherapeut stellt Volker Faust386 die große Bedeutung des Buchs für Sozialisation und Persönlichkeitsausbildung eines Menschen fest und bewertet die zwanghafte und einseitige Fixie-rung auf das Buch als Suchterkrankung. Faust sieht jedoch nicht nur den schädlichen, sondern auch den durchaus heilsamen Effekt der Lektüre, der in Form einer Bibliotherapie genutzt werden kann.

Mit dem speziellen Fall von Magister Tinius befassen sich Frewer und Stockhorst387 und bele-gen die Bibliomanie anhand pathologischer und literarischer Untersuchunbele-gen von Tinius’ Fall als kulturelles Phänomen. Die Bibliomanie sei nach Philippe Pinel eine auf eine einzelne Idee kon-zentrierte sog. Monomanie, die psychosomatische Ursachen habe und nach der gründlichen Ana-lyse des Geistes durchaus heilbar sei388.

384 Vgl. Hiller & Füssel (72006), S. 48f sowie Volker Faust: „Über den krankhaften und heilsamen Umgang mit Büchern“, Homepage Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang, ohne Datum, [http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychohygiene/buecher.html], eingesehen am 18.11.2010.

385 Schweiggert (1989), S. 103.

386 Faust (o. J.).

387 Vgl. Andreas Frewer & Stefanie Stockhorst: „Bibliomanie als Krankheit und Kulturphänomen. Pathographische Fallstudien zur Rezeption von Magister Johann Georg Tinius (1768–1846)“. In: KulturPoetik. Zs. f. kulturgeschicht-liche Literaturwissenschaft 3 (2003), S. 246−262.

388 Ebd., S. 260.

6.2 Büchernarren in den untersuchten Romanen