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9 „Unsere Wirklichkeit ist also nur die Fiktion eines Schriftstellers?“ 589 −Buch und Wirklichkeit

9.1.4 Intertextuelle Bezüge im Roman

Neben dem Subtext des Mordfalls werden Pendletons Roman „Schrei“ die Wirkung des Existen-zialismus, Bezüge zu Nietzsches Konzept des Übermenschen sowie zum Vorbild des authentischen Falls von Leopold und Loeb unterstellt. Die amerikanisch-jüdischen Studenten hatten 1924 Mord an einem willkürlich gewählten Opfer

In Pendletons Bibliothek wird ein Buch über Leopold und Loeb gefunden, weshalb vermutet wird, er habe ihre Idee eines ‚perfekten Mordes’600 nachahmen wollen, damit verbunden wird so-gar ein literarischer Rückgriff auf Dostojewskis Schuld und Sühne / Verbrechen und Strafe (1866). Das Verbrechen der Studenten hatte philosophische Motive: Ihr Ziel war es, den Beweis der Existenz des Nietzsche’schen Übermenschen zu erbringen, die die Tötung eines niederen Wesens rechtfer-tigt. Auch Pendleton als mutmaßlicher Mörder soll sich in die Herausforderung Gottes hineinge-steigert haben, die durch die Erhebung des Intellektuellen über die als ‚Abschaum’ betrachtete Unterschicht geschehen soll. Das Motiv des außergewöhnlichen Menschen, der Überlegenheits-gefühle entwickelt und den Mord an vermeintlich Unwürdigen als gerechtfertigt empfindet, ist auch in Schuld und Sühne anzutreffen.

Beinahe einen zweiten ‚Buch-im-Buch’-Komplex stellen die Romane von Stephen King dar.

Wright, Pendletons Student und wie sich heraus

Die Vorstellung einer Tötung als ‚perfektem Mord’ mit Bezug auf d

600 as Konzept eines Übermenschen findet sich

-Film Rope, dt. Cocktail für eine Leiche (1948).

auch in dem Hitchcock

Rom

rem Seminar zu William Carlos Williams wird zudem gemutmaßt, „[...] was war The Shining schon anderes als der flüchtige Einblick des

N kade

ie Bilder ‚sehen’ kann.

9.1.5

In De situation des Binnenbuchs auf der Fiktionsebene vom Groß-teil des Publikums missverstanden und der Autor des fiktiven Romans mit dem Erzähler-Ich

n.“

„Okay, dann beweisen Sie es! Sie sind der Polizist.“602

an bezieht, ist ein großer Anhänger des Horror-Schriftstellers, so dass dessen Werke an mehreren Stellen erwähnt und unter den Figuren diskutiert werden. King thematisiert in einigen Romanen die Nöte von Schriftstellern, das prominenteste Beispiel ist wohl Misery (1987). Pendle-tons Pflegerin trägt den Vornamen der Protagonistin, einer Krankenschwester, die einen Schrift-steller gefangen hält. Ein weiterer Bezug gilt The Shining (1977). Adi findet eine rückwärts ge-schriebene Schrift auf einem Spiegel, die an die berühmten rückwärts gege-schriebenen Buchstaben REDRUM aus der Kubrick-Verfilmung erinnert. In ih

ormalbürgers in das Schriftstellerleben, in den offensichtlichen Wahnsinn von Schreibbloc und mangelnder Inspiration?“601 Auch Pendleton scheint dem Wahnsinn verfallen, und es wird die Frage gestellt, ob er im Wahn gemordet hat.

Die Thematisierung des Lyrikers Williams ist angesichts der postmodernen Bezüge im Ro-man nur folgerichtig. Williams evoziert mit seinen knappen Gedichten eher Bilder in seinen Le-sern und weckt Emotionen statt auf Symbole hinzuweisen. Dies ist vielleicht in der Annahme begründet, der Leser empfinde eine Bedeutsamkeit in den Bildern, und zielt auf eine gemeinsame Vorstellungs- und Verständnisebene von Autor und Leser. Im realen Leser ruft ein Text die Erwartung von Versatzstücken von Genres oder Motiven hervor, die er aufgrund seiner literari-schen Vorbildung besitzt und w

Der Roman im Roman als „Beichte“? Roland Barthes’ „Tod des Autors“

r Bestseller-Mord wird die Erzähl

gleichgesetzt. Dies geschieht aufgrund der Übereinstimmung der Details bei der fiktionalen Schil-derung des Mordes und dem fiktionsintern authentischen Mordfall. Der Roman „Schrei“ trägt zwar autobiographische Züge, ist aber Fiktion (in der Fiktion). Die Annahme, Pendleton habe für literarischen Ruhm gemordet und der Roman sei der Beweis für seine Schuld, ist ein literarisches Missverständnis. Den naiven Blick auf die Situation gegenüber dem Verständnis eines in der Er-zähltheorie bewanderten Schriftstellers schildert der folgende Dialog zwischen dem Autor Horo-witz und dem Ermittler Ryder:

Schroff gab Ryder zurück: „Aber Pendleton hat Amber Jewel umgebracht.“

Horowitz schüttelte langsam den Kopf. „Detective, Sie verwechseln die beiden, den Schriftsteller und die Romanfigur. Ich nicht. Ich kann nur über das Buch reden, über Pendletons Hauptfigur.“

„Sie sind ein und dieselbe Perso

602

601 Collins (2008), S. 222.

Collins (2008), S. 238.

Der A it im

Wach sich

gar, ‚was er bedeuten soll’. Der Text soll für sich selbst stehen und in Dialog mit dem Leser treten.

Der Titel von Barthes’ Essay ist

gesehen, ist der Autor immer nur derjenige, der schreibt“607, als Performativ nach der Sprechakttheorie. Damit sc

utor Pendleton kann sich nicht mehr zu seinem Werk äußern, da er nach einiger Ze koma an den Folgen seines Selbstmordversuchs verstirbt. Aber ist es notwendig, dass ein ‚Autor’ zu seinem Werk äußert, kann man von diesen Aussagen gesicherte Erkenntnisse über ein Werk erlangen? Vielmehr ist es doch so, dass sich ein Autor gar nicht zu seinem Werk äußern sollte, da der Text für sich stehen soll603. Überdies kann er sicher nicht zweifelsfrei und voll um-fänglich angeben, wie der Text zustande kam oder

Der Text überlebt den Autor − gemeint ist hier die Theorie vom „Tod des Autors“, die Roland Barthes in den 1960ern aufgestellt hat, ein Konzept, das auch im Roman angesprochen und wörtlich genommen wird:

Mit seinem Selbstmordversuch hatte Pendleton sein Werk freigegeben, er hatte es ins Leben entlassen, denn nun gab es keinen eindeutigen Erzähler mehr und keinen Autor, bei dem man hätte nachfragen können. War das nicht eines der Kriterien großer Literatur − dass der Autor vor allem tot sein muss-te?604

„nahezu sprichwörtlich geworden“, wobei sich Barthes dezidiert gegen die „naive Identifikation von Werkbedeutung und Autorbiographie“605 richtet. Der auteur als Herr über den Text ist nicht mehr relevant, „[d]er Text wird von nun an so gemacht und gelesen, dass der Autor in jeder Hinsicht verschwindet.“606

Barthes meint, „linguistisch

hwindet der Autor als Schöpfer des Textes und als Subjekt. An seine Stelle tritt der „moderne Schreiber“608, der scripteur, der den Text als immate-rielle écriture nur zu Papier bringt und dabei aus bestehenden Diskursen kompiliert, denn der Text sei „ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur.“609 Jeder Autor bringe nicht mehr als eine Ansammlung von Gelesenem und Erfahrenem oder bestehenden Diskursen hervor, zwar in neuen Kontexten und neu verbunden, aber am Ende steht stets mehr als nur ein Text.

Barthes richtet sich gegen die Erschließung eines Textes über die Autorbiographie und nimmt so dem Autor die Autonomie über den Text, indem er ihn zum bloßen Kompilatoren im Spiel mit Intertextualität, Zitaten und Anspielungen macht. Der Autor soll also nicht mehr Bezugspunkt des

603 „Der Autor müßte das Zeitliche segnen, nachdem er geschrieben hat. Damit er die Eigenbewegung des Textes erto Eco: Nachschrift zum ‚Namen der Rose’. München: dtv, 1986, S. 14.

605 eorie der

hier S. 181.

s: „Der Tod des Autors“. In: Jannidis (2000), S. 185−193, hier S. 189.

nicht stört.“, vgl. Umb 604 Collins (2008), S. 77.

Fotis Jannidis: Einleitung zu: Roland Barthes: „Der Tod des Autors“ [zuerst 1967]. In: Texte zur Th Autorschaft. Hg. u. komm. v. Fotis Jannidis et al. Stuttgart: Reclam, 2000, S. 181−184,

606 Roland Barthe 607 Ebd., S. 188.

608 Ebd., S. 189.

609 Ebd., S. 190.

Texte nicht geplan

In

ufge-wertet. Hinter dem Text steht nicht eine ‚zutreffende’ Bedeutung, ein endgültiger Sinn, vielmehr

n der Verweise auf zitierte Schriften laufen im Knotenpunkt des Textes zusammen, wo sie der Leser durch mehr oder

reiben, ohne dass ein einziges verloren ginge. Die Einheit eines Textes liegt nicht in sei-ng, sondern in seinem Zielpunkt […]611

Die

’schen Beg

s sein, denn der Text kann bei der Rezeption Implikationen entwickeln, die der Autor t oder beabsichtigt hat.

diesem Zusammenhang wird die Rezeption des Textes gegenüber der Produktion a steht das Erkennen und Deuten von Verweisen auf Texte im Vordergrund. Über den Autor gehen lediglich jene Implikationen in den Text ein, die Umberto Eco das „Echo der Intertextua-lität“610 nennt. Dies sind Diskurse und Texte, die den Autor beim Schreiben implizit oder explizit beeinflussen. Die Fäde

weniger Kenntnisreichtum mehr oder weniger erfolgreich entwirren kann. Der Leser unternimmt, abhängig von seiner literarischen und kultu-rellen Vorbildung, eine eigene Textinterpretation und liest wiederum unterschiedliche Texte und Lesarten aus dem Text heraus, vielleicht ganz andere, als der Autor eingeschrieben hat, und das auf unterschiedlichen Ebenen und Codes.

Ein Text ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen. Es gibt aber einen Ort, an dem diese Vielfalt zusammentrifft, und dieser Ort ist nicht der Autor (wie man bislang gesagt hat), sondern der Leser. Der Leser ist der Raum, in dem sich alle Zitate, aus denen sich Schrift zusammen-setzt, einsch

nem Urspru

se Postulierungen weisen bereits auf Merkmale des postmodernen Romans hin (vgl. Kap. II.9).

Nach Barthes erlangt das Werk erst durch die Rezeption Sinn, nicht durch die Produktion, durch den Leser, nicht den Autor. Barthes schlussfolgert: „Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.“612

In Collins’ Roman wird der ‚Tod des Autors’613 nun wörtlich genommen. Die englische Über-setzung von Barthes’ Text erschien 1967 als The death of the author, während Collins’ Roman im amerikanischen Original den Titel Death of a writer trägt. Die Ähnlichkeit ist sicher nicht unbeab-sichtigt, wobei der feine Unterschied schon auf die Lösung hindeutet: Auf den Protagonisten Pendleton wird nicht als author, sondern richtig als „writer“ verwiesen, was etwa dem Barthes

riff des scripteur entspricht. Ein fiktionsinterner Kenner von Barthes’ Konzept hätte die Figur also nie in Verdacht gehabt, einen selbst verübten Mord literarisch geschildert zu haben, da er

612

613 97,

issen- m-x beweist in der Fiktion, dass Tem-xte mehr Autorität besitzen als (ihre) Autoren.

610 Eco (1986), S. 18.

611 Jannidis (2000), S. 191.

Barthes (2000), S. 193.

Bereits 1992 erschien Gilbert Adairs Novelle The death of the author (Der Tod des Autors. Edition epoca: Bern, 19 Tb: Rowohlt, 2002). Darin schildert Adair den Mord an dem ‚Theoriepapst’ Sfax, hinter dessen die Literaturw schaft beherrschenden Theorie ganz eigennützige Zwecke stecken: Sfax möchte seine jugendliche Autorschaft nazifreundlicher Artikel ausradieren. In seiner Theorie sieht er eine Möglichkeit zur Ehrenrettung, indem er scheinbar nachweist, der Text sei autonom, schreibe sich selbst und konstruiere gleichsam seinen Autor, nicht u gekehrt. Der Mord am Autor Sfa

werkimmanente Darstellungen nicht mit der Biographie des Urhebers des Textes in Verbindung gebracht hätte.

Pendletons Text ist ein Gewebe von Zitaten mit seinen diversen kulturellen Anspielungen, allerdings auch ein Plagiat. Es stellt sich heraus, dass Pendleton für seinen Roman „Schrei“ aus eine

wird für den ‚naiven’ Leser das Konzept noch einmal ganz anschaulich gemacht: Pendleton, ‚Autor’, besser: scripteur, des Romans „Schrei“, hat auf bereits

b ei sich die Subtexte von Nietzsche oder Leopold und

d

Aneignung fremder Ideen und geistigem Diebstahl. Alle Bücher enthalten andere Bücher: Eine Begründung und Legitima-tion für das Motiv ‚Buch im Buch’.

verspielt eine an sich nicht gerade uninteressante Grundidee, indem er sich permanent in voll-kommen unwesentliche Nebenhandlungen verirrt sowie ständig seine Protagonisten wirr und ab-m literarischen Versuch seines Studenten Wright abgeschrieben, als ungleich verab-mögenderer Schriftsteller das Manuskript aber zu einem Meisterwerk umgearbeitet hat. Wright kann also als

‚geistiger Verfasser’614 der wahren Mordgeschichte gelten, und tatsächlich stellt sich Wright als Mörder von Amber Jewel heraus. So

estehende Texte zurückgegriffen, wob

Loeb als Finten zeigten. Wrights Manuskript aber ist der Schlüssel, der zum Mörder führt.

Zudem wir durch den Bezug zum literaturtheoretischen Konzept die Lösung, bzw. Lesart des Romans nahegelegt: Nicht der Autor dient als Deutungsinstanz des Textes. Vielmehr steht die Leserin, Adi, im Vordergrund, die Pendletons Werke auswertet. Der scripteur Pendleton ist tot

− um mit Barthes zu sprechen, bedeutet dies, dass Pendleton den Freitod wählt, um die Entste-hung der Leserin Adi zu ermöglichen. Wo er als Autor scheiterte, soll sie als Leserin und For-scherin über sein Werk reüssieren.

Ein Schriftsteller ist mitnichten alleiniger Schöpfer seines Werkes. Der Subtext seiner Kultur geht ebenso in sein Werk ein wie Einflüsse von Gelesenem bis hin zur

9.1.6 Der Roman und seine Leser

Das Urteil des auf dem Umschlag zitierten Rezensenten der Washington Post, „Ein verteufelt span-nender Krimi“615, teilen nicht alle Leser des Romans. Mit den Augen eines vor allem an Span-nung interessierten Lesers erscheint der Roman zu langatmig, die z. T. langen, anspruchsvollen Dialoge um Literatur und Philosophie stören möglicherweise, und für einen Kriminalroman er-scheint Der Bestseller-Mord zu ereignislos. Die Erwartungen eines Krimilesers an den Text werden nicht voll erfüllt, wie auch die folgenden Leserrezensionen deutlich machen: „Michael Collins

Darauf verweist auch schon sein Name. ‚Wright’ steht im historischen Englisch

614 für den Wortteil „-bauer“,

615 „-macher“ oder „-verfertiger“.

Collins (2008), Umschlaginformation.