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II. Fiktionale Darstellungen des ‚Buchs im Buch’ bis in die 1990er Jahre und postmoderne Einflüsse auf die Verwendung des Jahre und postmoderne Einflüsse auf die Verwendung des

1.3 Das ‚Buch im Buch’ als neuer Weg des Erzählens

Um 1800 wird Literatur in der Literatur immer häufiger reflektiert. Die Gründe dafür liegen in der neuen Etablierung des Romans und der Lektüre überhaupt: Angesichts der Neuerungen von Lesestoffen und -gewohnheiten werden fiktionale Inhalte, die dies thematisieren, populär. Die Gattung, in der Literatur reflektiert wird, ist wiederum der Roman: „Als sich allererst etablierende Gattung hat der Roman wie keine andere Gattung des 18. Jahrhunderts Literatur zu seinem Thema gemacht.“49 Die Lektüre von Büchern gewinnt eine immer stärkere Bedeutung nicht nur im privaten Bereich, sondern auch im gesellschaftlichen Leben, im Austausch über die Lektüre.

Die Literatur des bürgerlichen Zeitalters emanzipierte sich gegenüber den überkommenen litera-rischen Vorbildern, wie denen aus der Antike, und entwarf ihre eigenen Themen, die die Zeitum-stände, und eben die Umstürze auf dem Buchmarkt reflektierten50, von denen die Autoren unmittelbar betroffen waren und daher großen Anteil hatten.

Mit der Selbstthematisierung von Lektüre im Roman beginnt sich auch das Buch in fiktiona-len Darstellungen zu etablieren. Doch kann das Buch nicht allein auftreten, da es sonst einfach ein Gegenstand wäre. Das Buch benötigt in der Fiktion wie in der Wirklichkeit die Kombination mit anderen Motiven und vor allem mit dem Leser, denn erst dieser lädt das Buch durch seine Auseinandersetzung mit dessen Inhalt mit Bedeutung auf. Deshalb wird in der Literatur das Auf-treten des Buchs stets mit einer Leserfigur verknüpft, mitunter auch als Satire oder als Warnung vor einem möglichen Realitätsverlust durch ein Sich-Verlieren in den fiktionalen Welten.

1.3.1 Herausgeberfiktionen

Zu den Büchern, die Bücher zum Gegenstand machen, gehören auch Herausgeberfiktionen, die in der Literatur des späten 17. Jahrhunderts erfunden werden. Das Verschachteln von Büchern in Büchern, wie es in Herausgeberfiktionen üblich ist, ist laut Japp „die hermetische Geste par ex-cellence“51. Die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit lösen sich für den Leser auf, da die Wahrscheinlichkeit des Fiktionalen erhöht wird. Die Herausgeberfiktionen legitimieren sich durch angebliche Manuskriptfunde, die der Erzähler in der Handlung vorgeschalteten Kommentaren

49 Friedhelm Marx: Erlesene Helden. Don Sylvio, Werther, Wilhelm Meister und die Literatur, 1995, S. 49, nicht eingesehen, zitiert nach Stocker (2007), S. 79.

50 Als Beispiel für einen Roman, der den Literaturbetrieb des 18. Jahrhunderts karikierend darstellt, sei hier Friedrich Nicolais Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker (1773/76) genannt.

51 Japp (1975), S. 655.

erläutert. Sie stellen die Vorläufer der Bücherfunde in den Titeln aus dem hier untersuchten Kor-pus dar. Ein weltberühmtes Beispiel hierfür ist Robinson Crusoe (1719). In der Absicht, dem Vor-wurf mangelnder Seriosität und Unglaubwürdigkeit zu entgehen, authentifiziert der Autor Daniel Defoe seine Geschichte mit dem Hinweis auf Originalaufzeichnungen des Protagonisten Robin-son Crusoe, die ihm vorliegen und die er nur noch in der Funktion eines Herausgebers zur Publi-kation bereitstellen müsse. Ein weiteres Beispiel für eine frühe Herausgeberfiktion ist Grimmels-hausens Simplicissimus (1668): Ein Kapitän habe die von Simplicissimus selbst verfasste Geschich-te seines Lebens mit in seine Heimat genommen und dem AdressaGeschich-ten German von Schleiffheim (ein Anagramm zu Christoffel Grimmelshausen) zur Veröffentlichung übergeben.

Der Manuskriptfund kann auch in der Rahmenhandlung durch den Erzähler eingeführt wer-den. Dies erhöht den Wirklichkeitsbezug und die Glaubwürdigkeit der Binnenhandlung, was paradoxerweise dadurch geschieht, dass eine weitere fiktionale Ebene, nämlich die Rahmenhand-lung, eingefügt wird. Die Fiktion führt vor, wie jemand, häufig auf Reisen, zu einem Buch oder Manuskript gelangt, in dem von einer wahren Begebenheit, einer „Geschichtsbeschreibung“52, berichtet wird. Dies ist der Fall in Insel Felsenburg von Johann Gottfried Schnabel (1731), der das Manuskript schließlich unter seinem Namen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat.

Außer den vorgeblich wahren Berichten, die keine Romane, also nicht fiktive Geschichten sein wollten, waren auch − kaum verschlüsselte − Schlüsselromane über tatsächliche private oder öffentliche Ereignisse populär, die leicht als Wiedergabe eines aktuellen Skandals oder brisanter Details der Innenpolitik des jeweiligen Publikationslandes entlarvt werden konnten53. Neben die vorgeblich wahren öffentlichen und privaten Historien, die tatsächlich jedoch Roman und Erfin-dung waren, wie La Guerre d’Espagne (1707) und Robinson Crusoe (1719), traten nun tatsächlich wahre öffentliche und private Historien, die als Fiktion zu lesen waren, wie Menantes’ Satyrischer Roman (1706) und Manleys New Atalantis (1709). Wie viel des Berichteten ist wahr? Wie viel des Erdichteten ist erfunden? Affaires publiques werden als erfunden bezeichnet, während Romane, also Erdichtetes, als wahr betont und so glaubhafter gemacht werden. Fiktion und Realität wer-den einerseits als unabhängige Territorien aufgefasst, deren Diskrepanz ja gerade die Spannung für den geübten Leser ausmacht, andererseits verschwimmen ihre Grenzen, so dass von her-metischer Literatur an dieser Stelle nicht die Rede sein kann.

Mit den Herausgeberfiktionen werden anspruchsvolle literarische Methoden als Stilmittel ge-nutzt, die das zeitgenössische Leseverhalten reflektieren, da auch der Leser durch seine vermehrte

52 Johann Gottfried Schnabel: Die Insel Felsenburg, Frankfurt/Main: Insel, 1988, S. 11.

53 Vgl. Olaf Simons: Marteaus Europa oder Der Roman, bevor er Literatur wurde. Eine Untersuchung des deutschen und englischen Buchangebots der Jahre 1710 bis 1720. Editions Rodopi: Amsterdam & Atlanta, 2001, S. 194−198 sowie die folgenden Kapitel.

Übung im Lesen von Romanen besser mit Fiktion umgehen kann und nach für ihn reizvoller und elaborierter Lektüre verlangt. Die Autonomisierung von Literatur in der Literatur bietet hier einen guten Weg, der auch heute noch beschritten wird, wenn literaturtheoretische Konzepte in Romanen reflektiert werden. Mit der Entwicklung von Theorien zur Literatur schreitet auch die Entwicklung der Art, Romane zu schreiben und zu lesen, voran.

1.3.2 Der Autor wird sichtbar − Autorenverehrung

Nicht immer wurde Fiktion aber auch als solche verstanden. Gerade eine empathische Art zu lesen führte dazu, dass der Leser kaum dazu in der Lage war, zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden. Um dies zu illustrieren, sei hier die Verehrung für Jean-Jacques Rousseau erwähnt, die gerade seit der Veröffentlichung von Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) einsetzte. Durch zwei Vorworte zur Nouvelle Héloïse steuerte Rousseau die Lektüre seiner Leser, denn sein Ziel war es, in das Leben seiner Leser hineinzuwirken und so die Fiktion plausibel zu machen54. Er erklärt darin erstens, wie er so etwas Gewagtes, da tendenziell Unmoralisches − einen Roman zu schreiben − tun konnte und führt zweitens in den Roman ein, indem er erläutert, wie dieser zu lesen sei:

Nämlich als wahre Geschichte zweier Liebender, die in (tatsächlich geschriebenen) Briefen mit-geteilt werde, welche Rousseau lediglich herausgebe. Die Leser wurden angeleitet, sich in die Figuren hineinzuversetzen und deren Gefühle, aus deren Schilderung ein Großteil des Romans besteht, förmlich nachzuempfinden, heute würden wir sagen: empathisch und identifikatorisch zu lesen. Das erklärt die Tränen, die laut zahlreichen zeitgenössischen Schilderungen während der Lektüre reichlich geflossen sein sollen, und die für die damalige Literatur völlig neue Bindung der Leser an den Autor. Die Leser wollten sich von „Freund Jean-Jacques“55, der so lebensnah über Liebe, Leben und Familie schrieb, sogar Ratschläge für ihr eigenes Leben geben lassen und waren nicht nur an seinem Werk, sondern auch an seiner Person überaus interessiert. Das Unvermögen, zwischen Literatur und Realität zu differenzieren, wurde durch Rousseau provoziert, und die Le-ser haben mitgespielt. Auch in den Romanen um Bücher lesende Helden oder Büchernarren wird dieses Unvermögen thematisiert und karikiert, außerdem seine schädlichen Folgen aufgezeigt.

54 Vgl. Robert Darnton: „Leser reagieren auf Rousseau: Die Verfertigung der romantischen Empfindsamkeit“. In:

Ders.: Das große Katzenmassaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution. München: Hanser, 1989, S. 245−285, hier S. 266.

55 Ebd., S. 252.

2 Das absolute und das einzige Buch