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Fiktionsinterne Kritik an den ‚neuen Medien’ und die „Kunst zu lesen“

unter.“ 549 − Buch und ‚neue Medien’

8.2 Fiktionsinterne Kritik an den ‚neuen Medien’ und die „Kunst zu lesen“

Die Skepsis gegenüber ‚neuen Medien’ ist in einigen Milieus, besonders unter Bücherfreunden, so groß, das Thema derart virulent, dass es auch in der fiktionalen Literatur als Ausdruck des Zeit-geistes und der Bedrohung für das Medium Buch im eigenen Medium, und hier vor allem

an, reflektiert wird. Medienkritik wird in die Romane eingeflochten und den Figuren in den Mund gelegt, auch werden in aktuellen Romanen ‚neue Medien’ den Büchern gegenübergestellt und mit dem Motiv ‚Buch im Buch’ kombiniert.

557 Vgl. Helmut Schanze: „Die Wiederkehr des Buchs. Zur Metaphorik der Digitalmedien“. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST) 50 (1995), S. 53−60.

558 Heuser (2004), S. 428.

559 Vgl. u. a. Frank Patalong: „Die rote Liste der aussterbenden Presse“. In: Spiegel Online, 02.11.2010 welt/web/0,1518,726676,00.html], eingesehen am 02.11.2010.

9.

[http://www.spiegel.de/netz 560 Vgl. Heuser (2004), S. 42

Der Autor Huizing lockt bibliophile Leser mit Der Buchtrinker, einem Roman über den be-kannten historischen Büchernarren Tinius und nutzt diese Plattform und das so angeworbene Publikum für eine harsche Kritik an den ‚neuen Medien’. Seine Sorge um den abnehmenden Ein-fluss der Bücher teilt er mit einem für das Thema vermutlich empfänglichen Lesepublikum. Er möchte Lust auf das Lesen machen und vermitteln, wie viel Vergnügen es bereitet, indem er zu-dem Zitate aus der Weltliteratur über Literatur und Lesen mit Reflexionen darüber verbindet.

In diesem Roman ‚verschwindet’ der büchernärrische Student Falk Reinhold am Ende in sei-nem Rechner. Zunächst wird er jedoch selbst zum Computer. Er besitze einen „geistigen Bild-schirm“561, doch seine Festplatte, sein Gehirn, scheint nicht ausreichend für die Flut an Informa-tionen, deshalb kauft er sich einen PC mit großem Speicher. Reinhold scannt die Texte von Ma-gister Tinius aus den alten Ausgaben und speichert die Dateien auf seinem PC. Auf diese Weise möchte er eine große Bibliothek anlegen. Hier wird im Roman auf die heute übliche Digitalisie-run

ber 1991 ging die zivilisierte Welt unter. Offensichtlich hat es nie-man

nenten der World-Wide-Web-Technologie besaß und anderen Programmierern die Entwicklung

g alter Monographien und Zeitschriften für einen breiten, kostenlosen Sofort-Zugang über PC

und Internet hingewiesen. Das ‚neue Medium’ PC wird für den Protagonisten wichtig, da es ihm neue Möglichkeiten bietet, mit dem Text umzugehen: „Erst wenn der Text auf dem Bildschirm erschien, konnte er sich wirklich in ihm spiegeln und mit der Maus in ihm herumfahren. Er würde sich einfach irgendwann in den Text verhuschen.“562 Er plant, mit dem Text eins zu wer-den und verschwindet in dem digitalisierten Text im PC, was bleibt ist nur der Cursor auf dem Bildschirm. Wurde er zum Opfer der neuen Zeit und der ‚neuen Medien’? Hat er Selbstmord begangen aus Unfähigkeit und Unwilligkeit, in einer Welt zu leben, in der Bücher keine allumfas-sende Rolle spielen? So wie Tinius das Opfer seiner Bücher wurde, wird Reinhold zum Opfer der modernen Version des Textmediums im Computer, er probiert aber gleichzeitig die neue Art der Kommunikation zwischen Autor, Text, Leser über seinen PC aus.

„Irgendwann im Septem

d gemerkt. Nur Falk Reinhold. Immerhin.“563 Im Schlusssatz des Romans spielt Huizing offensichtlich auf die Erfindung des World Wide Web und die beginnende Nutzung des Internet auch im Privatraum an, die die heute wichtigsten digitalen Medien darstellen (vgl. Kap. III.1.1.1.1).

Am Freitag, dem 13. September 1991 zeigte Tim Berners-Lee von CERN einem Kollegen sein

WWW. Gemeinsam testeten sie zum ersten Mal, wie es über das Internet funktioniert564. Mit dem Datum könnte auch die Entwicklung der Bibliothek libwww gemeint sein, die alle

563

[http://www.heise.de/ix/timeline/], eingesehen am 02.11.2010.

561 Huizing (1996), S. 148.

562 Huizing (1996), S. 149.

Ebd., S. 186.

564 Vgl. Internet-Timeline,

von entsprechenden Anwendungen erheblich erleichtern konnte565. Fiktionsintern habe nur der Protagonist die Vorboten des Weltuntergangs wahrgenommen, im Gegensatz zur allgemeinen Öffentlichkeit, die offensichtlich weniger bestürzt über die geringere Beachtung der Bücher ist, als der Erzähler es sich wünschte.

Das Thema Weltuntergang wird im Roman zweifach behandelt. Während Tinius in Haft eine Exegese der Johannes-Offenbarung schrieb, ist die Apokalypse bei Reinhold eine kulturelle und für ihn persönliche: Unter dem kulturpessimistischen Eindruck eines Weltendes verursacht durch die ‚neuen Medien’ als medialer Konkurr nze für das Buch verschwindet er in seinem Computer, den

im Untergang begrif

K

eut-lich gemacht. Ein Büchernarr der G rd nicht nur einem historischen

gegenüberge-en ganzgegenüberge-en Tag vor geistlosgegenüberge-en Computerspielgegenüberge-en, oder würdest du das etwa vorziehen, Mutter, alle Bücher verramschen und sich dafür einen kleinen Computer kaufen,

n seine Büchersammlung, obwohl beachtlich, ist „[n]icht einmal so groß, daß Falk darin hätte verschwinden können.“566 Außerdem fürchtet der Bücherfreund um den Einfluss der Bücher:

„Und wenn Bücher eines Tages den Leser nicht mehr anschauen? Würde das den Untergang des Abendlandes einläuten? So ist es.“567 Tinius’ Hauptwerk über den jüngsten Tag, Der jüngste Tag, wie und wann er kommen wird. In physischer, politischer und theologischer Hinsicht aus der Bibel erklärt, erschien 1836, dem Jahr, das der Theologe Bengel als Jahr des Weltuntergangs ermittelt hatte.

Die Schlusszeilen der Abhandlung ergeben ein Akrostichon, das Reinhold für das Jahr 1991, seine Gegenwart, den Weltuntergang prophezeit. Die Vorboten des Weltendes meint er in den Nachrichten wahrzunehmen: Tod, Krieg, Verwüstung. Er sieht die Zivilisation als

fen und sich als letzten Zivilisierten568.

ritik an den heutigen Medien wird anhand der Bewertung von Reinholds Büchersucht d egenwart wi

stellt, sondern auch dem Ende des Gutenberg-Zeitalters, das Büchern nach Einschätzung des Er-zählers (und vermutlich auch des Autors) weniger Raum gibt und eine geringe Stellung beimisst.

In der Fiktion gibt der Protagonist seine eigene Büchersucht zu und bewertet sie als Anachro-nismus, auch in Kommentaren anderer Figuren wird Kritik an der Situation der Medien zur Handlungszeit des Romans geübt. Reinhold nimmt sogar sein späteres Handeln, das Speichern der Texte im Computer, vorweg, wodurch wiederum ein Kommentar zum heutigen Umgang mit Digitalisaten, zudem auch zu elektronischen Unterhaltungsmedien gegeben wird:

Wie recht du hast, meine Bücherwut ist für die heutige Zeit nicht sehr gewöhnlich, aber freue dich doch, Mutter, dafür hocke ich nicht d

der eine ganze Bibliothek speichern kann […]569

565 Vgl. o. V.: „Das Phänomen World Wide Web“. Netplanet,

[http://www.netplanet.org/geschichte/worldwideweb.shtml], eingesehen am 02.11.2010.

Nach Reinholds Verschwinden äußert sich sein Buchhändler über ihn: „Mutmaßlich habe ich den letzten Büchernarren getroffen. Die Zukunft wird nur noch, da muß man kein Prophet sein, Computerfreaks kennen. (…) | Er ist zum letzten Buch geworden und liegt jetzt irgendwo in irgendeiner Bibliothek sicher verwahrt.“570 Reinholds einziger Ausweg aus der Buchmisere ist es also, sich in ein Buch zu verwandeln, und zwar in das ‚letzte Buch’, das als Idee mystifiziert wird, da

eute ist die schnelle, dem Fern-seh

des Lesens in neun Fragestellungen nach dem Wesen von Büchern und Lesen, wobei Zitate aus der klassischen und gegenwärtigen Philo-sophie und Literatur als Kommentare eingeflochten werden. Mittels der Bücher ist er „dem

en funktioniert auch beim Lesen von Texten. Das ‚richtige’ Lesen ist bei Huizing eine intensive, schwelgerische „Wollust am Text. Wenn ich einmal richtig deutlich

wer-uns die Vorstellung eines letzten Buchs unfassbar erscheint (vgl. Kap. III.2.2). An dieser Stelle wird davon ausgegangen, dass der unendliche Text mit der Seele gleichgesetzt werden kann, und somit ewig ist, während die Medien, wie der menschliche Körper, irgendwann vergehen und keinen dauerhaften Bestand haben.

Der Protagonist übt allerdings nicht nur Kritik an den Medien, sondern auch am Umgang mit Büchern und am heutigen Leseverhalten. Als geübter Leser liest Reinhold überaus genau, auch den Subtext zwischen den Zeilen. Querlesen und überfliegen verachtet er, obwohl das kursorische und schnelle Lesen zur reinen Information bereits im 18. Jahrhundert unter gelehrten Lesern, die unter dem Eindruck des wachsenden Buchmarkts und ihres Kompletionsanspruchs standen, gängig war, da sie andernfalls nicht alle Bücher hätten sichten können571. H

konsum ähnliche die am weitesten verbreitete Methode der Lektüre (vgl. Kap. IV.3.3.2.6).

Es hat den Anschein, als lege der Erzähler dem Protagonisten diese Abrechnung mit dem

‚falschen’ Lesen und den ‚falschen’ Medien in den Mund, um einen Kommentar zur richtigen Handhabung von Büchern geben zu können. Das Ziel Reinholds ist es in der Fiktion, eine „Kul-turgeschichte des Lesens“ zu veröffentlichen, die aus „Teppichen“ besteht. Die Bezeichnung folgt Clemens von Alexandrias (150−215 n. Chr.) Hauptwerk Stromateis. In der Fiktion schildern diese Zwischenkapitel Reinholds Gedanken zur Kunst

Rätsel des Lebens auf der Spur“572 − und das ist zweifellos das Thema und die Hauptaussage des gesamten Romans: Eine Anleitung dafür, wie man ‚richtig’ liest.

Um die Kunst zu lesen geht es auch im Roman. Das wird schon deutlich durch das Vorspiel

„Höfliche Einladung, genauer zu lesen“573. Durch das genaue Erforschen und Eindringen in Tinius’ Konterfei offenbart sich der wahre Charakter der Person. Die Erforschung von Zeichen, um ihren Sinn zu erkenn

977), S. 51.

), S. 187.

570 Ebd., S. 182f.

571 Vgl. Fabian (1 572 Huizing (1996 573 Ebd., S. 11f.

den

in Peter Stamms Roman Agnes (1998)575. Auf

im ‚Skript’

vorgesehen, nicht in seiner Imagination entstanden. Agnes aber spielt mit: Sie fühlt sich, genau sei sie „zu einer Person des Buches

ist der Erzähler mit seiner Datei dazu in der Lage, das Leben seiner Freundin

vorhe wie

Huizi er es

ist zw und

das nicht mehr festgehalten im Medium Buch, sondern in einem elektronischen Medium.

darf: Kopf runter und hinein ins Vergnügen der Texte“574. Bei Fforde (vgl. Kap. III.7.2.4.1) wird dieses Eindringen ins Buch wörtlich genommen.

8.2.1 „Das Buch Agnes“

Eine ähnliche Reflexion der ‚neuen Medien’ zeigt sich

der Fiktionsebene wird der Text nicht einmal mehr in einem Buch abgedruckt, sondern in dessen moderne Variante, die Textdatei, eingeschrieben. Dieser Umstand hebt den Roman aus dem Korpus heraus, denn darin sollten nur physisch greifbare Bücher vereint sein. Aus diesem Grund wird Agnes ausschließlich unter dem Aspekt der Thematisierung der ‚neuen Medien’ im Roman herangezogen.

Agnes bittet ihren Partner, den namenlosen Ich-Erzähler, eine Geschichte über beide zu schreiben. Der Ich-Erzähler schreibt nun am Computer „das Buch Agnes“576 über seine eigene Beziehung zu Agnes und ‚erschreibt’ auf diese Weise den weiteren Verlauf der Beziehung und auch der Romanhandlung. Hier liegt eine Doppelung von Schreiben, Erzählen und Lesen vor, denn wir Leser haben doch den Roman Agnes vor uns.

Es wird die Zukunft einer Lebens- und Liebesgeschichte erschrieben, ohne sie zu erleben. Ab dem Zeitpunkt der Schilderung, an dem die gemeinsame Gegenwart überholt wurde, ‚müssen’

Agnes und ihr Freund tun, was dieser als Ich-Erzähler und fiktiver Autor ‚vorgeschrieben’ hat und wie nach einem Drehbuch handeln. Auf Ungeplantes, wie Agnes’ Schwangerschaft, reagiert der Erzähler deshalb überrascht und ungehalten − „nicht gerade, was ich mir vorgestellt habe […] Agnes wird nicht schwanger“577 −, denn ein solches Ereignis ist schließlich nicht

wie ihr Partner und ‚Drehbuchautor’ es auch sieht, als

den“578. Das Wunschdenken, wie die Beziehung fortgesetzt werden soll, wird zur Fiktion, und das Festhalten an der selbst geschaffenen Fiktion zur Manie, die den Erzähler den Bezug zur Realität, zum Leben mit seinen Zufällen verlieren lässt. So wie die ‚neuen Medien’ das alltägliche Leben bestimmen,

rzubestimmen und zu beeinflussen, bis sie schließlich in der Datei verschwindet ngs Protagonist in seinem Computer. Agnes ist vornehmlich ein Beziehungsroman, ab eifellos interessant zu sehen, welche Rolle dem Schaffen von Fiktion beigemessen wird,

574 Ebd., S. 168.