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„Der Mythos vom letzten Exemplar eines Buchs“ 154

2.1 Die Suche nach dem Buch

2.1.1 Der Buchsucher als Detektiv .1 Detektiv- und Kriminalroman .1 Detektiv- und Kriminalroman

2.1.1.5 Erzählsituation im Detektivroman

Die großen Detektive der Literatur werden stets von einem Gefährten begleitet. Die Figur des Sherlock Holmes ist mit seinem deduktiv-analysierenden, streng den Gesetzen der Logik fol-genden Vorgehen stark an C. Auguste Dupin angelehnt und wird von Dr. Watson begleitet. Nero Wolfe und Archie Goodwin arbeiten in Rex Stouts Nero-Wolfe-Reihe zusammen, so wie William von Baskerville den jungen Adson von Melk an seiner Seite hat.

Typisch für den modernen Detektivroman seit Murders in the Rue Morgue ist es, dass die Hand-lung aus dem Blickwinkel eines homo- oder autodiegetischen Erzählers wiedergegeben wird, der rückblickend das Geschehen notiert. Dieser Erzähler ist in den meisten Fällen, und so auch bei Poe, Conan Doyle und Eco, der Begleiter des Detektivs, der als Chronist über dessen große Fälle berichtet, und in der Literatur als „Watson-Figur“181 bezeichnet wird. Die Watson-Figur hat unterschiedliche Funktionen182: Sie dient der Vermittlung zwischen Detektivfigur und Leser, beeinflusst die Sichtweise des Lesers auf den Detektiv, verhält sich selbst inferior und dient so als Kontrastfolie der Überhöhung des Detektiv-Helden.

Der Erzähler berichtet über die Ermittlungen des Detektivs, über sein Wissen und seine Fä-higkeiten, vor allem aber über seine Ermittlungserfolge. So vermittelt er mit seinen Berichten zwi-schen der Detektivfigur und dem Leser: Der Erzähler versucht, gedanklich mit dem Detektiv Schritt zu halten, und zieht oftmals falsche Schlussfolgerungen, die der Detektiv korrigiert. Dieser Austausch zwischen Detektiv und Assistent wird in Form eines Dialogs wiedergegeben, um dem Leser ein leichtes Nachvollziehen zu gestatten. Gegenüber dem mit übergroßem Intellekt und enormem Scharfsinn ausgestatteten Detektiv wirkt die berichtende Nebenfigur durchschnittlich und dem Detektiv treu ergeben. Durch die kontrastive Darstellung von Detektivfigur und homo-diegetischem Erzähler, der seinem genialen Partner gegenüber Respekt und Bewunderung an den Tag legt, wird die Überlegenheit und Brillanz des Detektivs noch betont. Das Verhalten des Erzählers suggeriert die Leserreaktion und dient der Überhöhung des Detektivs.

Obwohl sie über die Erlebnisse des Detektivs berichtet, ist die Watson-Figur nur am Rande als Nebenfigur am Geschehen beteiligt. Stanzel nennt diesen Erzähler-Typus den „peripheren Ich-Erzähler“183, der übrigens die Merkmale trägt, die auch Nusser der Watson-Figur zuweist.

181 Nusser (32003), S. 43.

182 Vgl. ebd., S. 43f.

183 Franz Karl Stanzel: Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1979, S. 262−266.

Vgl. auch Martinez & Scheffel (22000), S. 82.

Der periphere Ich-Erzähler verfügt als Nebenfigur nicht über die volle Einsicht in die wahren Zusammenhänge des Falls und berichtet nicht über die Geschehnisse als solche, wie der Detektiv sie erlebt hat, sondern gefärbt durch den Blickwinkel des nur mittelbar Beteiligten, der bewertet und kommentiert. In dieser Eigenschaft zeigen sich seine mediale Funktion und seine Bewunde-rung für den Detektiv. Außerdem tritt häufig eine AuktorialisieBewunde-rung des peripheren Ich-Erzählers ein, die den Leser vergessen lässt, dass immer noch eine Figur berichtet.

2.1.1.5.1 Der Club Dumas: Boris Balkan als Watson-Figur

In Der Club Dumas stellt die Figur des Boris Balkan eine reizvolle Variante und mit seiner Erzähl-perspektive eine Überbietung der Watson-Figur dar. Boris Balkan wird in der Eröffnung vom Protagonisten Corso aufgesucht, da er sich von ihm Rat in seiner Recherche nach der Authenti-zität des Dumas-Manuskripts erhofft. Balkan ist für Corso kein Begleiter, und dennoch erzählt er seine Geschichte mit der Stimme einer Nebenfigur. Durch seine Augen kann der Leser einen genauen, kommentierten Blick auf den Protagonisten werfen und so Insider-Wissen erhalten. Bal-kan gibt seinen Eindruck von Corso wieder (Bal-kann Naivität vortäuschen, Meinung über Antiquare etc.) und beschreibt ihn für den Leser, wobei er Corso gegenüber jedoch völlig neutral bleibt, wenn nicht ein klein wenig überheblich. In der Auflösung am Ende des Romans wird eine Ge-sprächssituation wiedergegeben, die wiederum an die Gespräche zwischen Holmes und Watson erinnert. Nur sind hier die Rollen vertauscht: Es ist der Erzähler Balkan, der als Nebenfigur gar nicht am Geschehen beteiligt war und Corso nun über die wahren Hintergründe und Zusammen-hänge der Machenschaften des Clubs aufklärt, wo Corso doch im Verlauf seiner Recherchen so viele falsche Schlussfolgerungen gezogen hat, Balkan aber über die genauen Abläufe der Suche informieren kann.

Balkan bestätigt, dass es sich bei dem vorliegenden Roman um einen Detektivroman handelt, und erläutert die Stimmen, mit denen er sich als Erzähler der Geschichte äußert:

Hier nun, glaube ich, ist es an der Zeit, noch einmal eindeutig meine Funktion als Erzähler darzulegen.

Treu dem Prinzip, daß der Leser in Detektivromanen über dieselben Informationen verfügen muß wie der Held der Geschichte, habe ich mich bemüht, die Ereignisse aus der Sicht Lucas Corsos zu schil-dern. Ausnahmen stellen das erste und fünfte Kapitel dar, wo mir nichts anderes übrigblieb, als per-sönlich in Erscheinung zu treten. Dies soll nun zum dritten Mal geschehen, und dabei möchte ich − konsequenterweise − wie schon in den genannten Kapiteln in der ersten Person Singular erzählen.184

In Kapitel 1 und 5 sowie dem zuletzt zitierten 15. fungiert Balkan als homodiegetischer Erzähler, also als Erzähler, der selbst als Figur in der Handlung in Erscheinung tritt und ebenso viel weiß wie die Hauptfigur. Mit dem Leser tritt dieser Erzähler in direkte (Meta-)Kommunikation, wie auch Anne L. Walsh feststellt: „Revertein novels […] are seen to be a game between author and readers.“185

184 Pérez-Reverte (1997), S. 406.

185 Walsh (2007), Vorwort.

In allen übrigen Romankapiteln wechselt Balkan in den Modus der Nullfokalisierung und weiß damit mehr, als der Protagonist weiß, wenn er über Corsos Erlebnisse berichtet. Stellenweise nimmt der Erzähler auch eine interne Fokalisierung vor und tritt soweit hinter der Handlung zurück, dass er als Erzähler kaum noch sichtbar ist:

An dieser Stelle muß ich als beinahe allwissender Erzähler wieder in den Hintergrund treten und er-neut den Blickwinkel Lucas Corsos einnehmen, denn Sie, lieber Leser, sollen die dramatischen Ereig-nisse, die im folgenden über den Bücherjäger hereinbrachen, genau so nachvollziehen können, wie er sie selbst erlebt und mir später geschildert hat.186

Corso ist für die Leser dabei ein „guide“187 durch die Erzählung. Der Leser verfolgt das Gesche-hen durch Corsos Augen, denn er verfügt über dieselben Informationen wie der Held: „Da ich mir aber vorgenommen habe, die Geschichte aus der Sicht Corsos zu erzählen, bin ich gezwun-gen, […] mich innerhalb der engen Grenzen zu bewegezwun-gen, die Corsos Vorstellungsvermögen gesetzt waren.“188. Dass der Leser zu keinem Zeitpunkt mehr als die Hauptfigur weiß, ist typisch für den Detektivroman. Balkan dagegen weiß über alle Ereignisse und Begebenheiten Bescheid und wirkt dadurch auf fiktionaler Ebene wie die ‚Graue Eminenz’, die im Hintergrund die Fäden zieht. Durch den Wechsel der Erzählstimmen und -modi bietet er dem Leser Informationen an oder enthält sie ihm vor. Allerdings verfügt er über detaillierte Kenntnisse des Geschehens, die eine nur am Rande beteiligte Nebenfigur eigentlich nicht haben kann.

Die komplexe Erzählstruktur in Der Club Dumas wird im Detail bei Waldkirch189 und Walsh190 analysiert. Letztere untersucht auch, wie Balkan als Erzähler Corsos Gefühle und Überlegungen teilen und Einsicht in sein ‚Vorstellungsvermögen’ haben konnte. Genau wie Watson verfügt Bal-kan nur über ein eingeschränktes zuverlässiges Wissen über die Ereignisse der Hauptfigur und muss durch den Protagonisten, den Detektiv, über die Details des Falls in Kenntnis gesetzt wer-den („wie er mir später gestand“191). Auch Watson berichtet in der abschließenden Auflösung mehrerer Falldarstellungen darüber, wie Sherlock Holmes ihn nach der Entlarvung des Täters über die wahren Zusammenhänge aufgeklärt habe192. Balkans Legitimation für sein Wissen lautet ebenfalls, dass Corso ihn im Anschluss an seine Abenteuer über diese in Kenntnis gesetzt habe:

Einige Zeit später, als alles vorbei war, erklärte sich Corso bereit, mir den Rest der Geschichte zu er-zählen. So kann ich jetzt ziemlich genau gewisse Einzelheiten rekonstruieren, obwohl ich sie nicht per-sönlich erlebt habe: die Verkettung von Umständen, die zu dem bitteren Ende führten, und die

186 Pérez-Reverte (1997), S. 133.

187 Walsh (2007), S. 23.

188 Pérez-Reverte (1997), S. 127.

189 Vgl. Waldkirch (2007), S. 76f.

190 Vgl. Walsh (2007), S. 96−99.

191 Pérez-Reverte (1997), S. 118.

192 „Das wenige, was ich über diesen Fall noch nicht wußte, erzählte mir Sherlock Holmes am nächsten Tag während unserer Rückreise.“, vgl. Arthur Conan Doyle: „Das gesprenkelte Band“. In: Werkausgabe in neun Einzelbänden. Nach den Erstausgaben neu und getreu übersetzt von Gisbert Haefs. Bd. 1: Erzählungen. Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Zürich: Haffmans, 1984, S. 203−235, hier S. 233.

lösung des Rätsels um den Club Dumas. Dank der Hinweise des Bücherjägers kann ich in dieser Ge-schichte den Doktor Watson spielen und Ihnen erzählen, daß die folgende Szene eine Stunde nach unserer Begegnung stattfand, und zwar in Makarovas Bar.193

Balkan bringt sich selbst nicht nur mit dem Erzähler der Holmes-Geschichten in Verbindung, sondern auch mit Dr. Sheppard, dem Assistenten von Hercule Poirot in Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd (1926): „Ich finde es ganz einfach amüsant, die Geschichte in der Art eines Doktor Sheppard darzustellen, wie eine Unterhaltung mit Poirot.“194 Christie verwandte in ihrem Meisterstück eine bis dahin noch nie gewählte Erzählperspektive: Der homodiegetische Erzähler Dr. Sheppard berichtet von Poirots Vorgehen, den Mord an Roger Ackroyd aufzuklären, bis schließlich feststeht, dass Sheppard selbst der Täter war. Nach dieser Enthüllung bietet das zweite Lesen noch mehr ästhetisches Vergnügen als das erste, obwohl die Auflösung bekannt ist.

Auch eine wiederholte Lektüre von Der Club Dumas bietet dem Leser Neues. Während der ers-ten Lektüre ist der Leser so damit beschäftigt, mit Corsos Ereignissen und Schlussfolgerungen Schritt zu halten, dass er wichtige Details übersieht. Das erneute Lesen, bei dem mehr auf Zwi-schentöne geachtet werden kann, bringt die Erkenntnis, dass aus dem Text kein anderer Schluss gezogen werden kann und feststeht, dass es zwischen den beiden Büchern im Zentrum keinerlei Verbindung gibt.