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3 „Jedes einzelne Buch hat eine Seele.“ 221 − Buch und Leben

3.1 Anthropomorphisierung des Buchs: Lebendige Bücher

3.1.2 Interaktion Buch und Leser

Die Interaktion zwischen Buch und Leser kennt zwei Richtungen: Zum einen vom Buch gehend, das vom Leser Besitz ergreift, ihn prägt und beeindruckt, zum anderen vom Leser aus-gehend, der das Buch in sich aufnimmt.

Der erste Fall wird in den untersuchten Romanen thematisiert, die die Verwandlung eines Lesers in ein Buch schildern. Hier kann sogar eine Symbiose entstehen: Es wird in den behandel-ten Romanen suggeriert, dass das Buch ebenso vom Leser Besitz ergreift, wie der Leser sich das Buch aneignet und es beim Lesen ‚verschlingt’. Das Buch sucht sich einen Träger oder Wirt und verschlingt den Leser, der in dem Buch aufgeht. Bei Jacobi wird auch von einer Umkehrung des

243 Domínguez (2006), S. 39.

244 Klaas Huizing: Der Buchtrinker. München: btb, 1996, S. 53.

245 Ebd., S. 52f.

Topos ‚Bücherverschlingen’ berichtet, denn das Buch schaut während des Gelesenwerdens in den Leser. Die Abbildung, die in Jacobis Roman auf den Vorsatzblättern abgedruckt ist, zeigt eine Zeichnung von Nikolai W. Gogol, die das Menschen verschlingende Buch darstellt.

Abb. 2: Zeichnung von Nikolai W. Gogol, wiedergegeben nach Peter Jacobi: Mein Leben als Buch.

Bei Schweiggert saugt das Buch den Menschen auf, der nach wie vor seine eigenen Gedanken hat, aber durch das Buch beeinflusst wird. Besonders tritt dies bei seinen Rachegelüsten hervor, die er zwar im Namen des Buchs, jedoch zunächst aus eigenen Motiven heraus vorantreibt. Dies kann als Warnung verstanden werden, sich zu sehr in Bücher zu vertiefen und zu sehr auf sie ein-zulassen, da so ein selbständiges Denken und Tun nicht mehr möglich scheint − ein Vorwurf an den Realitätsverlust, der angeblich durch zu extensive Lektüre und zu große Liebe zu Büchern entsteht. Andererseits warnt der Erzähler nicht in der Tradition der Lesesucht-Kritik vor der übergroßen Nähe zu Büchern, sondern sieht die Verwandlung gleichzeitig als etwas, das sich jeder Bücherfreund wünsche: „Und welches höhere Glück kann einem Lebewesen widerfahren, als in ein Buch einzugehen und sich dabei, wenigstens für einen kurzen Zeitraum, der fleisch-lichen Hülle zu entäußern.“246 Diese erstrebenswerte Darstellung wird jedoch im Lauf des Ro-mans von Biblis Erlebnissen und schließlich seinem Tod karikiert.

Mit dem Buch verbinden Bibli und die Leserin, die nach ihm im Buch versinkt, eine beson-ders starke wechselseitige Beziehung. Beide sind von der Lektüre im Buch völlig gefesselt und lassen sich rasch in seinen Bann ziehen. Sie empfinden einen Zwang, das Buch in der Nähe zu haben: „Je weiter sie in den Inhalt eindrang, um so mehr eignete sie sich das Buch an, um so mächtiger ergriff es auch von ihr Besitz.“247 Während die Leserin nur den Inhalt des Buchs auf-nimmt, nimmt das Buch als Gegenstand von ihr Besitz.

Auch über das Vorlesen und Zuhören kann der Literaturbegeisterte eins werden mit dem Buch: „Solange [die Wörter] sich nicht veränderten − und das taten sie nicht − , konnten auch die Geschichten das Buch nicht verlassen, es sei denn durch das Vorlesen, wobei er ihnen durch sein Zuhören Einlaß in seinen Kopf gewährte, wo sie sich festsetzten und ihm nicht mehr aus

246 Schweiggert (1989), S. 133.

247 Ebd., S. 126.

dem Sinn gingen.“248 Die Parallele zu Cornelias Funke „Tintenwelt“-Romanen, in denen Figuren durch Vorlesen innerhalb der Fiktion zum Leben erwachen, liegt auf der Hand.

Wie das Buch den Leser prägt, so geht auch etwas vom Leser in das Buch über, und wenn es nur Randnotizen, ein vergessenes Lesezeichen oder Zigarrenasche sind: „Die zwischen den Sei-ten alter Bücher verbliebene Zigarrenasche ist das beste Bild für das, was vom Leben des einsti-gen Lesers darin geblieben ist.“249 Die Überbleibsel oder Anmerkungen des vorigen Lesers gehen auf den nächsten Leser über, so dass das Buch eine veritable Biographie, ein Schicksal erhält mit Merkmalen, die es an spätere Lesergenerationen tradiert. Bücher verändern nicht nur Menschen,

„die Menschen verändern auch das Schicksal der Bücher“250. Schon in dieser Formulierung fällt die Personifizierung der Bücher auf, wenn ihnen ein eigenes Schicksal zugestanden wird. Die Veränderung findet statt, was den Verwendungszweck, oder: die Bestimmung der Bücher angeht.

Nicht nur zum Lesen sind sie da, sondern auch als Geheimfach, zum Pressen von Blüten, kön-nen als Treppchen aufgestapelt oder unter eikön-nen wackligen Tisch gelegt werden, denn „[…]

Papier war und blieb […] ein organischer Abfall“251.

Wie bereits erwähnt, wird in neuerer erzähltheoretischer Forschung die Rezeption eines Tex-tes aufgewertet und der Leser als aktiv am Entstehungsprozess beteiligt betrachtet. Die Inter-aktion des Lesers mit dem Buch ist ein wichtiger Punkt, den auch fiktionsintern Produzenten von Texten und Büchern beachten: „Mach etwas Schönes, aber denk daran, es geht nicht nur um den Gegenstand selbst. Erst wenn ein Leser das Buch in der Hand hält, ist das Werk vollendet.“252 Bei der Rezeption hat der Leser je nach Genre oder vorkommenden Motiven unterschiedliche Erwartungen an den Text, dabei gibt es zudem Variationen, was die literarischen Vorkenntnisse eines Lesers angeht. Je nach literarischer Vorbildung und Lesebiographie wird ein Leser dazu in der Lage sein, einen Text auf ganz unterschiedliche Weise zu entziffern und für sich zu erschließen, so dass ganz verschiedene Urteile über ein- und dasselbe Werk möglich sind.

In Anlehnung an wirkungsästhetische Modelle lautet ein gängiger Gemeinplatz, dass Lesen dem unbelebten Buch erst Leben einhaucht und Texte zum Leben erweckt. In den Verwandlungs-geschichten wird dies noch konkreter: Der Mensch wird zum Buch, und das Buch erhält somit eine menschliche Gestalt und wird lebendig. Aber auch das Buch vermag den Leser zu vitalisie-ren: „Als [die Leserin] Herrn Bibli [in Buchgestalt] näher ansah, spannte sich ihr Körper, kam Feuer in ihre Augen, wandelte sich die jugendliche Greisin zu einer weisen Liebhaberin voller

248 Schweiggert (1989), S. 43.

249 Ramón Gómez de la Serna, zitiert nach Schweiggert (1989), S. 54.

250 Domínguez (2006), S. 43.

251 Ebd., S. 81.

252 Wharton (2003), S. 296.

Leidenschaft.“253 Dieser wechselseitige Belebungsprozess betont noch einmal die Personifizie-rung des Buchs.

Eine Wechselbeziehung zwischen Buch und Leser zeigt sich auch, wenn angenommen wird, dass vom Autor ebenso etwas in den Text übergeht wie vom Leser.

Jedes einzelne Buch hat eine Seele. Die Seele dessen, der es geschrieben hat, und die Seele derer, die es gelesen und erlebt und von ihm geträumt haben. Jedesmal, wenn ein Buch in andere Hände gelangt, jedesmal, wenn jemand den Blick über die Seiten gleiten läßt, wächst sein Geist und wird stark.254

Noch mehr als beim Lesen geht der Leser beim Erzählen darüber in den Text ein. Der Leser prä-sentiert seinen Zuhörern den Text als subjektives persönliches Extrakt, so, wie er ihn wahrge-nommen hat, und macht beim Nacherzählen oder Vortragen sicher Auslassungen oder Ergän-zungen. In der Art, wie der Leser zu anderen über das Buch spricht, (kritisch, wohlwollend, ver-nichtend, wie über eine Person…), bleibt etwas vom Leser im Buch zurück.

3.1.2.1 Immersion des realen Lesers

Im Epilog von Schweiggerts Roman wird dem realen Leser suggeriert, dass er das Schicksal des Protagonisten teile und selbst ein Opfer des Buchs werde. Bei seiner Verschmelzung mit dem Buch verschwimmt Bibli die Schrift vor Augen:

[Bibli] sah zwar die Sätze, konnte aber deren Aussagen überhaupt nicht mehr entschlüsseln. Schließ-lich begannen sogar die Buchstaben zu verschwimmen, schienen übereinandergedruckt zu sein, flat-terten horizontal und vertikal aus ihrer Position. Dann schien sich die Schrift zu verkleinern und nach weiterem, zunehmendem Schrumpfen gänzlich zu verblassen. […] Aber je mehr er sich bemüht, seine inzwischen brennenden Augen auf die Zeilen und Lettern zu heften, um so weniger gelang es ihm.255

Der lesenden Studentin, dem nächsten Opfer des Buchs, widerfährt Ähnliches:

Sie kniff die Augen zusammen, denn sie erkannte die Wörter nur noch wie durch einen Nebelschleier.

Soweit sie sie noch entziffern konnte, gelang es ihr jedoch nicht mehr, ihren Sinn zu begreifen.

Schließlich verkleinerte sich die Typographie, und nun schien es ihr sogar, als sei überhaupt nichts mehr wahrzunehmen, als nur noch das Weiß des Papiers.256

Die Erlebnisse der lesenden Studentin werden von ihrer Person gelöst wiedergegeben − „[…]

man […] sieht die Schrift unendlich verkleinern und zuletzt ganz verblassen“257 − so dass sich der reale Leser nicht nur einbezogen, sondern auch unmittelbar betroffen fühlt. Das verallgemei-nernde „man“ in den Ausführungen verstärkt diesen Eindruck. Es soll also suggeriert werden, dass sich das Schicksal des fiktionsinternen lesenden Bibliomanen ebenfalls am realen Leser voll-zieht. Das Buch schreibt sich selbst fort, und der reale Leser wird, wie der Text suggeriert, soeben zu einem neuen Opfer des Buchs, denn der reale Roman trägt denselben Titel. Immer wieder

253 Schweiggert (1989), S. 121.

254 Ruiz Zafón (2003), S. 10.

255 Schweiggert (1989), S. 14.

256 Ebd., S. 127f.

257 Ebd., S. 134f.

werde das Buch „einen Buchliebhaber faszinieren, in seinen Bann ziehen, weil es ihn besitzen und verwandeln will, um sich dadurch selbst zu verwirklichen und zu erlösen.“258

Tatsächlich sind die letzten Zeilen des Buchs im Buch − ein Zitat aus den Merseburger Zauber-sprüchen − in verblassender Type abgedruckt, so dass der reale Leser den Text vor sich sieht, den die fiktionsinternen Leser kurz vor ihrer Verwandlung gelesen haben.

Abb. 3: Alfons Schweiggert: Das Buch, S. 135.

In Mein Leben als Buch von Jacobi wird der Leser im Text durchgehend direkt angesprochen. Da er aus der Fiktion weiß, dass das Buch mit dem Leser kommuniziert, wird so suggeriert, dass sich dies gerade − als narrative Metalepse259 − zwischen Buch und realem Leser wiederhole. Eine weitere Form der Kommunikation zwischen Buch und realem Leser findet über den Klappentext statt. Dieser verweist auf die heutige reale Situation des Buchs in der Medienkonkurrenz:

Peter Jacobi hat hier alles andere als einen Nachruf auf ein traditionelles Medium verfasst. Seine litera-rische Groteske plädiert begeistert für das Lesen und feiert die Unsterblichkeit des Buches.260

Dieser Paratext zeigt, dass offenbar ein gemeinsames kulturelles Wissen zwischen Verlag, Autor und Leser herrscht, da alle Instanzen anscheinend davon ausgehen, dass das Buch als traditionel-les Medium beinahe ausgedient habe und seine Verdrängung durch die elektronischen Medien fürchten müsse (vgl. Kap. III.8.2). Weiterhin herrsche ein vom Verfasser des Klappentexts ver-muteter Konsens, dass dies zu verhindern und Bücher zu retten seien, womit eine Aussage über den Leser getroffen und angenommen wird, dass sie dieser Meinung seien, sonst würden sie nicht zum Buch greifen. Wer gern liest und Bücher kauft, wird auch daran interessiert sein, sich für den Erhalt von Büchern einzusetzen. Allerdings sind sich die Instanzen des Literaturbetriebs sicher, dass das Buch immer existieren werde (Unsterblichkeit) und die Möglichkeit bestehe, durch Bücher über Bücher für das Lesen zu begeistern (Roman als Plädoyer für das Lesen).

Eine Online-Leserrezension zum Roman unterstützt die These, dass tatsächlich Konsens über die Mediensituation und eine befürchtete Verdrängung des Buchs durch elektronische

258 Schweiggert (1989), S. 133.

259 Vgl. Beate Müller: Art. „Metalepse“. In: Nünning (32004), S. 449.

260 Jacobi (1999), Klappentext.

Medien unter allen Akteuren des Literaturbetriebes, auch unter den Lesern, herrsche: „Die Inkar-nation des Mannes passt in eine Zeit, in der Texte sich vermehrt in bits&bytes auflösen.“261 Der Leser sieht also eine Bedrohung von Büchern durch die digitale Darstellung und Verbreitung von Texten. Der gewählte Begriff „Inkarnation“ erscheint hier jedoch problematisch − es geht ja gerade nicht um die Menschwerdung, sondern um die ‚Buchwerdung’.