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Das Buch als Ersatz für Essen & Trinken, Liebe, Zuhause

3 „Jedes einzelne Buch hat eine Seele.“ 221 − Buch und Leben

3.1 Anthropomorphisierung des Buchs: Lebendige Bücher

3.1.3 Das Buch als Ersatz für Essen & Trinken, Liebe, Zuhause

Literatur vermittelt Ideen und abstrakte Vorstellungen durch Motive, Figuren und Handlungen und wirkt alltagsnah und lebendig, wenn sie Metaphern des alltäglichen Lebens verwendet. Aus diesem Grund wird das Buch in den untersuchten Romanen und darüber hinaus in Zusammen-hang gebracht mit alltäglichen Dingen und Bedürfnissen wie Essen & Trinken, Liebe und einem Zuhause. Genau wie diese Bedürfnisse gestillt werden müssen, ist für viele Leser auch das Lesen unverzichtbar. Dieser Eindruck soll durch Assoziationen auch im Leser erweckt werden, der diese Buch-Bücher liest und sich vielleicht darin wieder erkennt.

3.1.3.1 Buch und Essen & Trinken

Bücherlesen wird in der Literatur und auch im allgemeinen Sprachgebrauch häufig mit Essen zu-sammengebracht262. So essentiell das Essen für den menschlichen Organismus auch sein mag, ist es doch gleichzeitig profan, wird aber in Kombination mit dem Buch-Motiv aufgewertet und in die Nähe des Geistigen und Sinnvollen gerückt263.

Ein Buch wird mit den Augen ‚verschlungen’ wie die Nahrung mit dem Mund, als ‚Bücher-fresser’ (Bibliophage) bezeichnet sich umgangssprachlich ein leidenschaftlicher Viel- und Schnell-leser. Diese Motive werden möglicherweise in Verbindung gebracht, weil sich Leser, vor allem kurzsichtige, das Buch so nah zum Gesicht bringen, dass es aussieht, als wollten sie das Buch zum Mund führen. Lesen und Essen bieten Genuss, der als Genuss ästhetischer Art für den Leser durch verschiedene Arten von Buchnahrung und Beschaffenheit der Geschmacksknospen

− literarische Vorbildung und Kenntnis − in unterschiedlichem Umfang erreicht wird.

Bücher sind aber nicht nur Genuss, sondern befriedigen darüber hinaus ein Bedürfnis, man denke hier an Verlagskampagnen wie „Lesen ist wie atmen“264. Alle Dinge des täglichen Lebens scheinen in Büchern kompensiert vorzukommen. Sie bieten nicht nur die Möglichkeit, sich in

261 Vgl. o. V.: „Gigantischer Lesespaß!“, Leserrezension zu Peter Jacobi: Mein Leben als Buch, Amazon.de, 10.04.2000, [http://www.amazon.de/Mein-Leben-Buch-Peter-Jacobi/dp/3894013443/ref=sr_1_1?ie=

UTF8&s=books&qid=1280413901&sr=8-1], eingesehen am 12.07.2010.

262 Vgl. dazu auch Goetsch (1996).

263 Vgl. ebd., S. 381.

264 Titel einer Werbekampagne des Verlags Volk und Welt für den Bestseller des Großlesers Alberto Manguel Eine Geschichte des Lesens (1996).

stimmte Situationen zu träumen und den Alltag zu vergessen, vielmehr enthalten sie alles, was der Leser braucht, sie sind profan „notwendiger Hausrat“ und zugleich das „papierne Gedächtnis der Menschheit“265. Für Schweiggerts Bibli ist Lesen Nahrung für den Geist, jedoch eine Bedürfnis-befriedigung, die erst nach Essen, Trinken und Schlafen rangiert: „[…] für seinen Geist bedeutete Lesen Speise und Trank und verschaffte ihm zudem eine Ruhe, die durchaus mit der im Schlaf zu erreichenden vergleichbar war […]266

Für den Buchtrinker Tinius sind Bücher ebenso notwendig wie die Flüssigkeitsaufnahme: Ein Buch auszulesen bedeutet, „leertrinken“, was aus einem Autor „herausgeflossen“ ist, und sich mit dem Text zu „sättigen“267, „Tinius trank das Papier wie ein Süchtiger.“268 Bücher sind für ihn le-benserhaltend, aber auch berauschend, worauf der Begriff ‚Süchtiger’ deutet. Bemerkenswert ist, dass er mitnichten den Text zu sich nimmt − bleibt man bei dieser Metapher, nimmt der Leser also das Materielle auf (Papier, Nahrung) und verarbeitet das Immaterielle (Text, Nährstoffe). In-teressant ist außerdem, dass die Aufnahme von Büchern an dieser Stelle statt mit dem Essen mit dem Trinken in Verbindung gebracht wird. Das Stillen des Durstes ist dringlicher als das Stillen des Hungers, verdeutlicht aber auch das Rauschhafte, dem ein passionierter Bücherfreund verfällt.

Beim Lesen wie beim Essen & Trinken ist das richtige Maß entscheidend. Tinius fängt eines Tages an, „nur noch Bücher zu trinken und seine Existenz zu versaufen“269, er erkrankt an „Papier-bulimie“270 aufgrund seines straffen Lern- und Leseplans am Collegium. Dem Büchernarren Brauer in Das Papierhaus wird „kannibalische[r] Stolz und Gefräßigkeit“271 seine Bücher betreffend vor-geworfen. Der Begriff ‚Kannibalismus’ verweist hier auf den lebendigen Charakter der Bücher.

Als „heißhungriger Leser“272 sei Brauer darauf aus gewesen „ein Buch nach dem anderen zu ver-schlingen“273. Mit dem Vokabular von Essen & Trinken kann der verfeinerte Bibliophile als Gourmet, der unmäßige Bibliomane als Gourmand bezeichnet werden. Beim Lesen ist es nicht anders als beim Essen & Trinken: Der Genuss zur Bedürfnisbefriedigung wird gesellschaftlich to-leriert, da er lebensnotwendig oder zu Lernzwecken nötig ist, ein übermäßiger Genuss, das Sich-Betrinken, Heißhunger, Maßlosigkeit, ist verpönt.

265 Schweiggert (1989), S. 52.

266 Ebd., S. 51.

267 Huizing (1996), S. 133.

268 Ebd., S. 87.

269 Ebd., S. 69.

270 Ebd., S. 88.

271 Domínguez (2006), S. 43.

272 Ebd., S. 41.

273 Ebd., S. 49.

3.1.3.2 Buch und Liebe und Partnerschaft

Das Motiv Buch wird auch in Zusammenhang mit Liebe und Erotik verwendet. Der Bibliomane wird sogar als „Textlüstling“274 dargestellt. Für Bücherfreunde und besonders für Büchernarren nehmen Bücher eine Stellung ein, die man sonst nur von menschlichen Beziehungen her kennt. Wo das Buch personifiziert wird, ist aber auch eine metaphorische Liebesbeziehung zum Buch möglich, die die Beziehung zu einem geliebten Menschen ersetzt. Jens Schreiber sieht Schreiben als Schöp-fungs- und Zeugungsakt von schreibender Hand, Feder und Papier und die Entwicklung von Handschrift zu Typoskript als Entwicklung hin zu neuen Möglichkeiten des Genusses275. Daraus folgt, dass Autor und Leser zu gleichen Teilen am Entstehen eines Buchs beteiligt sind: Der Autor erschafft das Buch, der Leser erweckt es in Anlehnung an Iser im Akt des Lesens zum Leben.

Die, sämtlich männlichen, Bücherfreunde, die in den untersuchten Romanen vorgeführt wer-den (vgl. Kap. III.11), sind alleinstehend oder in keiner funktionierenwer-den Paarbeziehung. Ein Grund, der fiktionsintern immer wieder für die Unfähigkeit der Leser zu Liebesbeziehungen und anderen sozialen Bindungen genannt wird, ist, dass eine Beziehung zu viel Zeit und Hingabe abverlangen würde, die der Bücherfreund lieber in seine Bücher investiert. Ob dies auch für den realen Leser zutrifft, sei dahingestellt.

Bücher scheinen den ganzen Kosmos an zwischenmenschlichen Beziehungen ersetzen zu können: Sie werden betrachtet als Kinder, Geliebte, Partner, Freunde, sogar als Eltern und Erzie-her. Es wird angenommen, dass Lektoren mit Büchern ‚verheiratet’ sind. Für Bibli sind Bücher seine „heimlichen Erzeuger“276, und er meint damit den Einfluss von Büchern auf den Leser, der einer Sozialisation gleichkommt. Bibli ist verheiratet, gibt als Familienstand aber ledig an, denn er möchte ganz für seine Bücher da sein. Er verleugnet nicht nur seine Frau, sondern muss in letzter Konsequenz vor seiner Verwandlung auch seine Bibliothek veräußern, um seine Hingabe ganz auf das Buch zu konzentrieren und in eine quasi monogame Beziehung zu ihm einzutreten:

[Des Buchs wegen] ließ er alle anderen Bücher aus dem Haus schaffen, zog sich zusehends von seinen Freunden zurück und begann, wenn zunächst auch widerstrebend, nur dem einen Buch sich hinzuge-ben. Er öffnete es nicht wie die anderen Bücher, um es sich einzuverleihinzuge-ben. Das Buch öffnete sich ihm, um eins mit ihm zu werden.277

Diese unverhohlen an eine Liebesbeziehung erinnernde Beschreibung ist in Zusammenhang mit einem unbelebten Gegenstand wie dem Buch ungewöhnlich. Der Kontakt mit dem Buch geht also über die reine Lesezeit hinaus, da das Gelesene nachschwingt und den Leser nachhaltig zu

274 Huizing (1996), S. 119.

275 Vgl. Schreiber (1983), S. 7.

276 Schweiggert (1989), S. 51.

277 Ebd., S. 55.

beeinflussen vermag. Bücher werden immer wieder als „Freunde“ beschrieben, so dass im Um-feld der Bücher eine Kompensation gegenüber fehlenden Sozialkontakten stattfindet.

Der Bibliomane Carlos Brauer in Das Papierhaus legt die Bücher so auf seinem Bett aus, dass sie die Konturen eines Menschen annehmen. So macht er die besondere Beziehung zu Büchern auch äußerlich sichtbar und lebt quasi mit einer Gestalt aus Papier und Tinte zusammen.

Falk Reinhold, der Student auf den Spuren des Büchernarren Tinius in Der Buchtrinker, hat zwar eine Partnerin, die seine Buchleidenschaft teilt, diese Beziehung beendet Reinhold aller-dings, als seine Begeisterung für Tinius einen gewissen Grad der Hingabe erreicht hat. Die Buch-händlerin interessiert sich hauptsächlich für Äußerlichkeiten und unterwirft sich nicht nur Klei-der-, sondern auch Büchermoden, was Reinhold ablehnt. Als vergeistigter Gelehrter beschreibt er Erotik mit Vokabeln aus dem Bereich des Lesens: in seiner Freundin „herumblättern“, er konnte sich „oft nicht sattlesen“278. Wirkt Lesen erotisch? In der öffentlichen Wahrnehmung wird ein ganz entgegengesetztes Bild von Bücherlesern entworfen (vgl. Kap. IV.3.1.1). Doch auch in Bernhard Schlinks Der Vorleser (1995) findet eine Erotisierung von Büchern in der Verbindung von Vorlesen und Erotik statt. Die des Lesens nicht mächtige Protagonistin lässt sich von ihrem Liebhaber vor-lesen, was für sie bald das Essentielle ihrer Treffen wird.

Reinhold hat seine Sprache an der Literatur modelliert und macht Komplimente in einer lite-rarisch-gehobenen Sprache, außerdem nennt er seine Freundin im Anklang an Werthers Auser-wählte ‚Lotte’ statt bei ihrem richtigen Namen. Sein Abschiedsbrief an die Buchhändlerin fällt als philologische Edition mit Urtext, Varianten und Anmerkungen aus. Darin schreibt er, er finde den wirklichen Text seiner Freundin nicht mehr: Der Sinn, die Seele, ihre modischen Posen seien nur schöne Worte ohne Sinn dahinter. Damit wird auf den Zusammenhang von formal-äußerli-chen Merkmalen eines Textes und dem Sinn, der Bedeutung dahinter angespielt. Die Freundin habe sich zu einem „Fortsetzungsroman“279 entwickelt. In diesem Kontext ist eine niedere Gat-tung gemeint, die wohl die Oberflächlichkeit der Freundin andeutet. Die endgültige Trennung wird als ‚Kündigung des Abonnements’ vollzogen.

Während der elegante Bücherfreund Delgado in Das Papierhaus unter keinen Umständen auch nur eine Randnotiz in seinen Büchern vermerken würde, macht der Bibliomane Brauer extensive Anmerkungen in seinen Büchern, die für ihn erst den Sinn der Lektüre ausmachen, die Markie-rungen bezeichnet er als Liebesakt, in dem er sich das Buch ganz aneignet: „Ich vögele mit jedem Buch, keine Markierung bedeutet für mich kein Orgasmus.“280 Delgado gönnt es sich, an

278 Huizing (1996), S. 113.

279 Ebd., S. 116.

280 Domínguez (2006), S. 43.

Geburtstagen „ein unberührtes Buch aufzuschneiden“281. Aufgetrennte Papierseiten bedeuten bei antiquarischen Büchern eine Wertminderung, die er nur selten in Kauf nimmt, die aber das Lesen erst ermöglichen. Ihm geht es offensichtlich vorrangig um den äußeren Wert der Bücher.

Als Tinius sich seiner Frau nähert, gibt sie „ihm verächtlich ein Buch mit der drohenden Auf-forderung, er möge sich doch dort hinein verkriechen, was Tinius künftig auch tat.“282 − Bücher ersetzen ihm einfach alles, sogar die Partnerin. Auch sein Chronist und Forscher Falk Reinhold entwickelt eine Art von Zärtlichkeit gegenüber Büchern. Traditionelle mit elektronischen Medien verbindend, beginnt Reinhold, die alten Texte von Tinius zu scannen. „Falk Reinhold […] zeugte Texte um Texte. […] Der neue Text, das war Falk Reinhold, und das war er nicht. […] Aus sich selbst heraus unerklärbar, hatte Falk in der Wollust der Lektüre Kinder gezeugt.“283 Nach der Trennung von seiner Freundin nimmt er ein Buch ‚mit ins Bett’ − hier entsteht eine explizite Anspielung auf Walter Benjamins Assoziationen von Büchern und Dirnen284.

3.1.3.3 Buch und Zuhause

Der Büchernarr Brauer baut sich aus seinen Büchern am Strand vor Montevideo ein Häuschen, ein Papierhaus, das dem Roman den Titel gibt. Während Brauers Lebensumstände die rudimen-tärste Stufe erreichen − statt seiner Stadtvilla das Häuschen aus Büchern am Strand, kein fließen-des Wasser, Strom oder Heizung −, haben die Bücher ihre erhabenste Dimension erreicht: Sie bieten ihm Schutz, ein Obdach, ein Zuhause. Die Bücher besiedeln nicht nur ideell die Innenwelt des Büchernarren, sondern auch physisch Brauers Dasein und Zuhause.

Wie bei allen Büchernarren, die eine umfangreiche Bibliothek ihr Eigen nennen, oder viel-mehr in einer Bibliothek zu Hause sind, fungieren die Bücher als Refugium. Auch schon in seiner Wohnung hatte er sich „allmählich mit Büchern eingemauert, seine Wände bestanden gleichsam aus Bücherziegeln“285. Der Bibliophile bedeckt die ganze freie Fläche seiner Wohnung und seines Lebens mit Büchern, wo er sich „mit dichtgefüllten Regalen gegen Lärm und andere Unzuläng-lichkeiten der Außenwelt abgeschirmt“ und einen „Schutzwall aus Büchern“286 errichtet hat. Die Bücher bieten eine wirksame Abschottung vor den Anfeindungen des Lebens.

Das Haus, erbaut aus Büchern, treibt das Leben in den Büchern auf die Spitze: Mehr braucht ein Bücherfreund nicht zum Leben als seine Bücher, sie ersetzen ihm Liebe, Partnerschaft und

281 Domínguez (2006), S. 42.

282 Huizing (1996), S. 109.

283 Ebd., S. 167.

284 Ebd., S. 119f. nach Walter Benjamin: „Einbahnstraße, Nr. 13“. In: Gesammelte Schriften. Hg. v. R. Tiedemann &

H. Schweppenhäuser. Bd. 4, Teil 1. Hg. v. T. Rexroth. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1972, S. 83−148, hier: S. 109f.

285 Domínguez (2006), S. 19.

286 Ebd., S. 46.

ein Zuhause. In der Bibliothek ist der Büchernarr geborgen und abgeschottet gegen den Unbill der Welt, aber auch gefangen.