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Identifikation des Protagonisten mit dem fiktiven Autor

Daniel entdeckt in Der Schatten des Windes bereits zwischen ihm und dem Autor Carax bestehende Analogien, ohne dass er als Leser etwas dazutut. Der Inhalt des Buchs, das den fiktiven Autor fiktional und autobiographisch porträtiert, ist ihm bald nach Beginn des vorliegenden Romans

327 Ruiz Zafón (2003), S. 198.

328 Ebd., S. 199.

329 Ebd., S. 189.

bekannt, wird aber nicht zitiert. Die Parallelen zwischen Daniel und Carax scheinen determiniert, als ob Daniel durch die Auswahl des Buchs auf dem ‚Friedhof der Vergessenen Bücher’ dazu be-stimmt worden sei, Carax tragische Lebensgeschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

An ihm selbst wiederholt sich die Geschichte der hindernisreichen, in Carax’ Fall tragischen, Liebe zur Schwester des wohlhabenden Freundes.

Bei Schmitt, Huizing und Mercier nähert sich der fiktive Leser dem Autor, über den er forscht, mehr und mehr an, übernimmt seine Gewohnheiten und Ansichten, die Schicksale werden sogar derart verschränkt, dass der Protagonist nicht mehr zwischen den Identitäten unterscheiden kann.

Der Protagonist in Die Schule der Egoisten sieht sich schließlich als Doppelgänger des Autors, dessen Lehre ihn dermaßen aufgewühlt hat. Er hat sich so tief mit Languenhaerts Person und Ideen auseinandergesetzt, dass er seine Nachfolge antreten kann. Wie in der romantischen Selbst-vermittlung bei Novalis oder Schlegel erscheint hier eine unendliche Steigerung und Doppelung, der Leser wird durch die Übernahme von Ideen zum Doppelgänger des Autors. Auch der Rezen-sent Altenburg sieht bei Schmitt ein „Konstrukt aus romantischen Versatzstücken“330. Die Person verschmilzt mit der Idee, so dass der Protagonist im Schlusssatz fragen kann: „War am Ende ich Gaspard Languenhaert?“331 Als Doppelgänger Languenhaerts wird der Protagonist selbst vom Leser zum Autor und kann dessen Text fortführen: „Ich war überzeugt, zum Kern dieser Worte vorgedrungen, ja, ihr eigentlicher Kern zu sein. Ich hätte sie weiterschreiben können…“332 Ange-sichts der immer stärkeren unbewussten Identifikation mit Languenhaerts Ideen wird er zum

„Mitwisser des Geheimnisses“333. Hier klingt eine religiöse Anspielung an, denn die Gläubigen feiern in der Liturgie das ‚Geheimnis des Glaubens’.

Languenhaert scheint sich alle 50 Jahre mit neuen Publikationen über sich selbst zu zeigen. In Intervallen von 50 Jahren werden immer neue Bereiche seines Lebens, seiner Persönlichkeit und Gedankenwelt aufgedeckt und veröffentlicht, über seine Biographie, Liebschaften, Philosophie, die Etablierung seiner „Schule der Egoisten“, seine Gedanken über Religion. Der Abschnitt über sein Sterben, den der Protagonist auf der Grundlage seiner Recherchen verfasst hat, bildet nun den Abschluss der literarischen Biographie Languenhaerts. Ungeklärt bleibt jedoch, ob sich alle 50 Jahre Forscher mit Languenhaert auseinander setzen, oder ob es der unsterbliche Languen-haert selbst ist: „Steht nicht ein und dieselbe Person hinter all diesen Schriften? Wer beweist uns, dass Gaspard Languenhaert tatsächlich tot ist?“334 Die Schilderung von Languenhaerts Sterben

330 Altenburg (2004).

331 Schmitt (2006), S. 168.

332 Ebd., S. 128.

333 Ebd., S. 129.

334 Ebd., S. 168.

scheint allerdings paradox, da gleichzeitig suggeriert wird, dass er als Schöpfer der Welt in der Person des Protagonisten noch existiert. Seiner Lehre zufolge hätten alle Werke jedoch mit ihrem Schöpfer untergehen müssen. Der Philosoph existiert nur geistig und vergeht daher nicht wie der Mensch und die Dinge. Es entspräche sogar seiner Doktrin, dass er als Urheber aller Dinge auch selbst alle Schriften über sich besorgt hat. Der Protagonist hat sich das Werk so intensiv angeeig-net, dass er dazu in der Lage ist, es fortzuführen. Es bleibt offen, ob hier eine ideale Rezeption von Literatur geschildert wird, die als Modell für den (realen) Leser dienen soll.

In Der Buchtrinker eignet sich Reinhold im Akt des Lesens den Text von Tinius’ Autobiogra-phie an, bis die Essenz seiner Persönlichkeit abzunehmen beginnt und mit den Eindrücken aus dem Text überschrieben wird. Das Verständnis von Tinius’ Leben ist nur möglich, wenn er ihm völlig „eingeschrieben“335 ist und dieses Leben wiederholt, dabei aber sein eigenes Ich aufgibt. Im Romantext heißt es, der Autor werde entblättert, je mehr ein Leser über ihn aufnehme, desto voller werde er mit den Texten.

Gregorius, der Protagonist in Nachtzug nach Lissabon, bemerkt nach seinen Recherchen eine Veränderung in seinem Wesen: Er beginnt, zuerst an sich selbst zu denken, und hat nun einen veränderten Umgang mit Texten, neu für ihn ist es z. B. in der Natur zu lesen. Auch in anderen vermag er Veränderungen zu bewirken, was ihn dem verehrten Autor Prado, dem seine Zeitge-nossen mit Ehrfurcht begegneten, ähnlich macht. Das ‚Buch’, also Prados Gedanken und Über-legungen, haben einen Wandel in Gregorius Wesen und Lebensumständen herbeigeführt, so dass ihm seine Heimatstadt Bern bei seiner Rückkehr fremd geworden ist. Gregorius bezieht Gelese-nes direkt auf sich und sein Leben und beginnt umzudenken. Ebenso bewirkt er eine Verände-rung im Leben von Prados Schwester. Er möchte sich und andere „aus der erstarrten Vergan-genheit befreien und in ein gegenwärtiges, fließendes Leben zurückholen“336. Gregorius hilft ihr, den Tod des geliebten Bruders nach Jahrzehnten zu akzeptieren, die Trauer abzulegen und den Stillstand der Zeit zu überwinden. Als eher schlichtes Symbol dient dabei, dass er die angehaltene Standuhr wieder in Gang bringt. Er wird zu Prado, da er bei seinen Recherchen unterschiedliche Standpunkte zu und Sichtweisen auf ihn aufgenommen und ihn nun in Gänze vor sich hat. Alle Facetten und Gedanken, die fragmentarisch bei den Wegbegleitern aufbewahrt wurden, haben ein vollständiges Puzzle ergeben. Sein Forschen und sein Interesse haben ihn Prado identisch gemacht: „Und [Gregorius] war auch dieser Bruder selbst, der in der Erzählung wieder lebendig geworden war.“337 Für Prados Weggefährten ist Gregorius ein „verstehender Spiegel“338, der

335 Huizing (1996), S. 131.

336 Mercier (2006), S. 294.

337 Ebd., S. 299.

338 Ebd., S. 317.

ihnen beim Erzählenlassen und Zuhören die Vergangenheit mit Prado wieder lebendig macht. Er gibt ihnen Trost und Kraft, weil er sich als Fremder mit dem Leben und den Aufzeichnungen von Prado beschäftigt. Prado hat nicht nur Gregorius, sondern alle seine Wegbegleiter geprägt.

Gregorius reiht sich ein, als habe er Prado ebenso persönlich gekannt.

4.6 Schlussfolgerung

In allen vier hier untersuchten Titeln wird das Buch als elementarer Bestandteil des Romans vom Leser erwartet, da in der Einführung eine Umgebung eröffnet wird, die Bücher etabliert. Die Pro-tagonisten werden als Wissenschaftler, Studienrat oder Buchhändler dargestellt, zu deren Hand-werkszeug Bücher zweifellos gehören. Der namenlose Doktorand wird gleich im ersten Satz, einem establishing shot gleich, bei seinen Recherchen in der Bibliothèque Nationale gezeigt339, Falk Reinhold wird als Student und Büchernarr eingeführt340, Daniel Sempere, der aus einer Buch-händlerfamilie stammt, berichtet im ersten Satz vom Tag auf dem ‚Friedhof der Vergessenen Bücher’341, auch die Überschrift dieses Prologs vermittelt dem Leser die richtige Atmosphäre. So überrascht nicht, dass diese drei Protagonisten besondere Bücher finden, die ihr Leben ver-ändern. Einzig für Gregorius ist das Buch zwar Anstoß zu etwas Neuem und elementar wichtig, doch noch wichtiger ist die Veränderung342.

Die Schule der Egoisten kann zum einen als Roman über das wissenschaftliche Forschen ange-sehen werden, zum anderen als belletristische Darstellung einer philosophischen Richtung, des Solipsismus, der an den Konstruktivismus grenzt. Hier folgt der Roman einer Tradition, für die Jostein Gaarder mit Titeln wie Sofies Welt (1994) Maßstäbe gesetzt hat. Zwar wird das Buch als Motiv, mindestens als Ausstattung, im Roman erwartet, doch hauptsächlich als Mittel zur Auf-deckung des Geheimnisses. Matthias Altenburg stellt sich in seinem Verriss von Schmitts Roman dennoch die Frage: „Wer liest so etwas?“343 Er vermutet, dass die Leser, die zu diesem Titel grei-fen, für tiefsinnig gehalten werden möchten und die Atmosphäre des Geistigen schätzen, dabei aber „Denkfaulheit für Herzensklugheit“344 halten. Deutlich wird mit dieser Einschätzung, dass die professionelle Bewertung die Thematisierung der Philosophie im Zentrum des Romans sieht,

339 „Es war an einem Dezemberabend in der Bibliothèque Nationale.“, Schmitt (2006), S. 7.

340 „Falk Reinhold packte seine Bibliothek aus.“, Huizing (1996), S. 21.

341 „Ich erinnere mich noch genau an den Morgen, an dem mich mein Vater zum ersten Mal zum Friedhof der Vergessenen Bücher mitnahm.“, Ruiz Zafón (2003), S. 7.

342 „Der Tag, nach dem im Leben von Raimund Gregorius nichts mehr sein sollte wie zuvor, begann wie zahllose andere Tage.“, Mercier (2006), S. 13.

343 Altenburg (2004).

344 Ebd.

nicht die Beschäftigung mit Büchern. Die Leserschaft ist laut Leserrezensionen bei Amazon.de345 gespalten: Eine Gruppe lobt den Roman für seine philosophischen Tiefgründigkeit, die andere lehnt den Roman als langweilig ab. Die Leser sind größtenteils enttäuscht, da sie den Roman mit weiteren Titeln des Autors vergleichen, aber auf eine unterschiedliche Herangehensweise stoßen.

Über das Buch-Motiv reflektiert keiner der Laienrezensenten.

Ausgelöst durch die Schilderung der Büchernarren-Figur Tinius ist das Buch in Der Buchtrinker unabdingbar. Wer die Geschichte des Magisters Tinius kennt, weiß bereits, dass Bücher eine große Rolle spielen werden. Der Roman ist gleichzeitig eine mit ironischen (Unter-)Brechungen und Kommentaren versehene Version der bekannten Geschichte von Tinius und zeigt in der Parallel-handlung außerdem, dass es heute genauso wie zu Tinius’ Zeit Büchernarren gibt. Diese Titel sind an gebildete Leser gerichtet, die Freude an Bücher-‚Krimis’346 haben, in denen das Buch myste-riöse Umstände aufklärt und auf die Spur geheimnisvoller Autoren führt. Neben der Beschäfti-gung mit dem Buch stehen hier rätselhafte Ereignisse im Vordergrund, wie z. B. die Identifi-kation des Protagonisten mit dem Autoren, allerdings werden auch die Rolle des Buchs und der richtige Umgang mit Büchern reflektiert.

Der Schatten des Windes ist eher als „Schmöker“347 für ein breiteres Publikum anzusehen. Der Buchbezug wurde von Ruiz Zafón vermutlich gewählt, um den fiktiven Autor einzuführen und ihn dem Protagonisten als Doppelgänger gegenüber zu stellen, wodurch wiederum eine geheim-nisvolle und rätselhafte Atmosphäre geschaffen wird. Die verschiedenen Erzählwelten und -mög-lichkeiten durch den zweifach fiktiven Text von Carax’ Roman und dem vorliegenden Roman, der Daniels Geschichte folgt, bieten hier Raum für ein Spiel mit Identitäten, allerdings wird keine nähere Auseinandersetzung mit erzähltheoretischen Fragen angestellt. Mit der Schilderung be-geisterter Leser und der Einführung des ‚Friedhofs der Vergessenen Bücher’, wo Bücher neue Besitzer erwarten, macht Ruiz Zafón eindrucksvoll Werbung für Lesen und Bücher. Allerdings verpufft die Werbewirkung größtenteils, da vermutlich eher Leser zu diesem Roman greifen, die Bücher ohnehin wertschätzen und durch den Namen des Autors angelockt werden, und somit weniger neue Leserkreise erschlossen werden.

345 Vgl. Leserrezensionen zu Nachtzug nach Lissabon bei Amazon.de [http://www.amazon.de/product-reviews/

325060061X/ref=cm_cr_pr_link_prev_1?ie=UTF8&showViewpoints=0&sortBy=bySubmissionDate Descending], eingesehen am 14.07.2010.

346 Die Schule der Egoisten ist dem Klappentext der Tb-Ausgabe zufolge ein „philosophischer Krimi“, Schmitt (2006);

Die Zeit bezeichnet Nachtzug nach Lissabon als „Bewußtseinskrimi“, Umschlaginformation der Tb-Ausgabe, Mercier (2006), und Reinhold Falk begibt sich laut Klappentext der Tb-Ausgabe auf die Spuren eines

„geheimnisvollen Falles“, Huizing (1996).

347 Elke Heidenreich über den Roman, Umschlaginformation der gebundenen Ausgabe, Ruiz Zafón (2006).

5 „Es gibt nichts Gefährlicheres als ein Buch“

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