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und diese als Konstrukt der eige

4.2 Vom Autor besessen

Das Buch bildet in Die Schule der Egoisten und auch in Der Buchtrinker die Ausgangssituation für die Schilderung eines Autors, dessen Vorführung das Zentrum der Romanhandlung einnehmen oder aber gleichwertig neben der Geschichte des Protagonisten stehen kann. Die bibliophilen Protago-nisten, ein Doktorand und ein Student, stoßen bei ihren Recherchen bzw. bei der Suche nach neuem Lesematerial auf Bücher, deren Autoren ihnen so spannend erscheine

ensumständen nachspüren möchten. In ihrer wissenschaftlichen Position sind sie den Auto-ren ähnlich, da sie sowohl Rezipienten als auch Produzenten von Texten sind.

Der Buchtrinker schildert in parallel verlaufenden Handlungssträngen − die Kapitel berichten ab-wechselnd über den heute lebenden Protagonisten und über den historischen Magister Tinius −, wie sich der Student Falk Reinhold durch die Lektüre der real existenten Autobiographie des histo-rischen Magister Tinius’ dem Autor immer obsessiver annähert. Die fortschreitende Lektüre, aus der im Tinius-Teil Passagen wiedergegeben werden, und weitere Titel des Autors geben immer wei-tere Auskünfte über den Autor, der Reinhold so fesselnd erscheint. Als Büchernarr findet er sich in der Biographie des Bibliomanen wieder: „Falk Reinhold, ein heutiger Büchernarr, fantasiert sich derart in die zwanghafte Welt des Tinius hinein, so daß schließlich auch sein Leben aus den Fuge

t.“309. Allerdings erschrickt Reinhold vor dem eigenen Schicksal, das ihm womöglich droht, wenn er Tinius gänzlich nacheifert, „so weit also konnte die Bücherwut führen, bis zum Mord“310.

Auf seiner Suche nach mehr Kenntnis über den Autor muss Reinhold immer mehr Bücher von und über Tinius besitzen und lesend mehr über den büchermanischen Pfarrer erfahren. Wie sein Vorbild Tinius liest Reinhold, als Büchernarr nicht selbstverständlich, seine Bücher tatsäch-lich und häuft sie nicht bloß an. So versucht sich Reinhold in Tinius hineinzufühlen. Tinius glaubte

309 Ulrich Karger: Rezension zu Der Buchtrinker. Büchernachlese: Rezensionen-Archiv, ohne Datum [http://

home.arcor.de/karger/buechernachlese-archiv/uk_huizing_klaas_buchtrinker.html], eingesehen am 29.11.2010.

310 Huizing (1996), S. 62.

an die Vorsehung, also sieht sich Reinhold von der Vorsehung auserkoren, hinter des Magisters Geheimnis zu kommen. Nachdem er die Biographie ausgelesen, sie in der Metapher des Textes

„leergetrunken“311, hatte, macht sich Reinhold auf die Suche nach weiteren Büchern zu Tinius.

Reinholds Jagd nach diesen Büchern wird Tinius’ Verbrechen, die dieser begeht, um an mehr Bücher zu gelangen, in ‚Bildern’312 gegenübergestellt. Von den Büchern ist Reinhold wie Tinius besessen und muss sie besitzen, „koste es, was es wolle“313. Dabei ist offensichtlich nicht nur der pekuniäre Aspekt gemeint, sondern, dass er wie sein historisches Vorbild in Kauf nimmt, dass ein Mensch Schaden nimmt, wie Tinius wird er zum Dieb und schreckt auch vor Gewaltanwendung nicht zurück: Nach verlorener Auktion schlägt er den Meistbietenden nieder und eignet sich das begehrte Buch an, ebenso wie dessen sonstige Bücher über Tinius. Der Gewinner der Auktion soll G.A. Bolenk geheißen haben. Dieser Name erinnert an G.A. Bogeng (1881−1960), der das bis heute unübertroffene Werk Die großen Bibliophilen (1922) über berühmte Bibliophile und ihre Sam

nur ein Roman über zwei Bibliomane, sondern vor allem eine Anleitung zum ‚richtigen’ Lesen, denn

t zu lesen identifizieren (vgl. Kap. III.8.2).

Amadeo Inácio de Almeida Prado. Auch Prados Lebensgeschichte schlägt sich in den

mlungen, geordnet nach Nationalepochen, verfasst hat. Der fiktive Bolenk soll an einem Pan-dämonium-Projekt gearbeitet haben, was einen ironischen Kommentar zu den Bibliophilen liefert.

Der Einfluss von Tinius auf den Protagonisten gewinnt im Verlauf des Romans immer mehr an Gewicht und führt zu immer stärkeren Veränderungen in Reinhold Leben: Der Buchfund löst seine Besessenheit vom Autor Tinius aus, die zur Trennung von seiner Freundin führt, da Tinius immer mehr Raum in seinem Leben einnimmt. Schließlich setzt er sich mit Tinius gleich, als sich sein Selbst aufzulösen beginnt, verschwindet er in seinem PC. Im Laufe seiner Recherchen stellt Reinhold die Texte über sich und sein Leben: „Wichtiger als er selbst, aber auch wichtiger als der Autor Tinius war längst die Lust an den Texten geworden.“314 So ist der Buchtrinker nicht

auch der reale Leser soll sich mit der intensiven Ar 4.3 Der Autor, der das Leben verändert

Wie in Der Buchtrinker stehen in Nachtzug nach Lissabon die Geschichten des Protagonisten und die des fiktiven Autors gleichwertig nebeneinander. Raimund Gregorius, ein Berner Latein- und Grie-chischlehrer, begibt sich im Nachtzug nach Lissabon und, initiiert durch das Buch mit dessen Aufzeichnungen, auf die Spur des verehrten und gesuchten Autors. Das Buch besteht aus den philosophisch-tiefgründigen und sehr persönlichen Anschauungen des portugiesischen Arztes

311 Huizing (1996), S. 131.

312 Ebd., Kapitel „Der korrekte Mörder“ über Tinius, S. 123−130, und Kapitel „Er spielt Bilder nach und ersteigert beinahe ein Buch“ über Reinhold, S. 131−137.

313 Ebd., S. 132.

314 Ebd., S. 167.

nungen nieder und schildert neben seinem schwierigen Verhältnis zum Vater auch den Wider-stand im Portugal unter Salazar. Im weiteren Verlauf des Romans ist nicht mehr die Rede vom

„Bu

316, wo er bisher weitgehend bestimmt und ge-prä

an, das Thema des Rom

ch“, sondern von den „Aufzeichnungen“315 und dem Autor, der damit zu Wort kommt.

Das Buch tritt in Gregorius’ Leben und stellt es gründlich auf den Kopf. Er entschließt sich dazu, die routinierten Abläufe aufzugeben, die gewohnten Orte zu verlassen und Neues zu wa-gen, das Leben „in die eigenen Hände zu nehmen“

gt durch die Erwartungen anderer an ihn war.

Der Augenblick, der alles verändert, ist geprägt durch das Unbekannte und die Erkenntnis des verlorenen Lebens: „Eine namenlose, gefühlsverwirrte Portugiesin. Vergilbte Aufzeichnun-gen eines AdliAufzeichnun-gen Portugiesen. Ein Sprachkurs für Anfänger. Der Gedanke an die verrinnende Zeit.“317 Das Buch, dessen Maximen Gregorius klar machen, dass er mit seinen Lebensumstän-den in Wahrheit unzufrieLebensumstän-den ist, ist also ein Punkt unter mehreren − neben Exotik und Schön-heit, einer fremden, wohlklingenden Sprache und dem Gedanken an das womöglich verlorene Leben −, die den Ausschlag für den willentlichen Bruch mit seinem früheren Leben geben. Bevor er die Aufzeichnungen zur Kenntnis nahm, hatte er allerdings kein Gefühl des Mangels. Die Kraft der Worte und ihre Wirkung auf den Leser sind also nicht zu unterschätzen, hängen aber maßgeblich von dessen Verfassung und Lebensumständen ab. Als Motiv zieht sich das Buch in Form von Prados Aufzeichnungen als roter Faden durch den gesamten Rom

ans ist aber das Ausbrechen aus der alltäglichen, eingefahrenen Routine.

Die Aufzeichnungen geben den endgültigen Anstoß dafür, das alltägliche, eingefahrene Wir-kungsfeld zu verlassen und auf den Spuren des verehrten Autors nach Lissabon zu reisen, denn

„er war dabei, aus seinem bisherigen Leben wegzulaufen.“318 Prados Worte scheinen Gregorius direkt anzusprechen und für ihn in seiner Situation geschrieben zu sein: „Und dann hörte er Sätze, die in ihm eine betäubende Wirkung entfalteten, denn sie klangen, als seien sie allein für ihn geschrieben worden, und nicht nur für ihn, sondern für ihn an diesem Vormittag, der alles verändert hatte.“319 Immer wieder wird aus Passagen des (fiktiven) Buchs zitiert, der Protagonist erfährt so immer mehr über den (fiktiven) Autor. Gregorius muss sich allerdings erst mühsam seinen Weg durch Prados Aufzeichnungen bahnen, denn die portugiesische Sprache muss er sich mithilfe von Wörterbüchern und Grammatiken erst erschließen. An die z. T. recht umfänglichen, zweifach fiktiven Zitatpassagen schließen sich in der Romanhandlung Treffen mit Weggefährten

315 Mercier (2006), u. a. S. 38, 96, 115.

316 Ebd., S. 24.

317 Ebd., S. 41.

318 Ebd., S. 24.

319 Ebd., S. 28.

des Autors an, mit Geschwistern, Bekannten, Untergrundkämpfern. Von ihnen erhält Gregorius ergänzende Hinweise und auch weitere Texte, z. B. Briefe, die das Wesen des Autors enthüllen.

Unglaubwürdig erscheint allerdings, dass diesen Weggefährten Gregorius’ Interesse nicht lästig oder suspekt vorkommt und sie ihn sämtlich mit offenen Armen empfangen, intimste Fragen zulassen und ihrerseits detaillierte Auskünfte über ihre Zeit mit Prado geben. Die Erzähler berich-ten dabei alle auf demselben sprachlichen Niveau, was Ausdrucksfähigkeit, Wortwahl und Emo-tion

s alte Leben, die Aufzeichnungen haben seine Sicht geschärft, er „sah besser als jemals zuvor“320.

gen

alität des Erzählten angeht, was nicht ganz wahrscheinlich wirkt.

Nicht nur Gregorius’ äußeres Leben wird durch das Buch verändert, er verspürt während seiner Spurensuche in Lissabon auch eine allmähliche Veränderung in sich, die durch die Meta-pher des veränderten Sehens angedeutet wird. In Lissabon benötigt er eine neue Brille, wobei die Augenärztin eine andere Sehschärfe feststellt als sein Berner Augenarzt. Er hat sich ein neues Sehen, eine neue Sichtweise auf die Dinge angeeignet. Kurzsichtigkeit steht für da