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Teil I Lehrkunstdidaktik und Dramaturgie

2.2 Die Quellen

2.2.3 Lehrstück-Dramaturgie, Schulze 1995

richt.“168 Schulze fährt fort, indem er feststellt, dass die Produktionslinie der Lehrkunst-didaktik nur zwei „Transformationen“ durchläuft: vom (kollektiven) Lernereignis zum Lehrstück zur Inszenierung.169 „Sie vermeidet auf diese Weise die künstliche Trennung von Ziel, Inhalt, Methode und Medien.“ Die Lehrkunstdidaktik ermöglicht so ein Entstehen von

‚Inseln„, ‚Oasen„ oder ‚Brunnen„ eines kulturorientierten Curriculums,170 das das bestehende nicht ersetzen soll, welches aber das Potenzial enthält, dass es sich „wie ein Wurzelgeflecht durch die Systematik der Fächer, durch die Struktur der Disziplinen hindurchzieht.“171 Nicht nur die curriculare Ausrichtung ändert sich auf dieser Produktionslinie, auch die Arbeitsweise wird in diesem Prozess umakzentuiert: „Der Produzent eines Lehrstücks […] wird quasi zum

‚Dichter‟, und der Lehrer wird quasi zum ‚Regisseur‟“, analogisiert Schulze und betont damit die „anspruchsvolle und kreative“ Aufgabe der Beteiligten.172 Im Weitergang untersucht er die Organisation der Inhalte und der Arbeits- und Vorgehensweise im Rahmen der Lehr-kunstdidaktik. Abschliessend befindet Schulze: „Ausgangspunkt und Aufstieg oder Abstieg, Mittelpunkt und Umfeld, Einstieg und Zugang, Tor und Pfeiler, Plateau und Wege in alle Richtungen, Netz und Spirale bilden das Muster, nach dem sich in der Didaktik der Lehrkunst die Inhalte organisieren.“173 Auf den 15 folgenden Seiten umreisst Schulze in seinem Kern-kapitel „Dramaturgie“ (S. 370-384) die Themenfelder der Dramaturgie, auf die in der vorlie-genden Arbeit in den folvorlie-genden Kapiteln 2.3 und 2.4 näher eingegangen wird.

Schulze umreisst in seinem dritten Kapitel in grosszügig lexikalischer Form jene „Grund-begriffe“, die „zur Verständigung und Orientierung“174 benötigt werden. Er schlüsselt den gesamten „Produktionsprozess der Lehrkunst“ (ebd.) dabei in drei Teile auf: „Finden oder Erfinden einer Didaktischen Fabel“ (384ff.), „Gestalten eines Lehrstücks“ 175 (392ff.) und

„Inszenieren eines Lehrstücks“(403ff.). Er ergänzt diese drei Teile in Kapitel 4 seines Aufsatzes um den „Austausch“ (411ff.), welcher der Weiterentwicklung eines Lehrstückes dient und der zum Beispiel durch Berichtlegung von Lehrstückinszenierungen stattfindet.176

168 Dieses und die nächsten zwei Zitate: Ebd., S. 368. „Die Stoffe, die überlieferten und die erfundenen, soll man, wenn man sie selbst bearbeitet, zunächst im allgemeinen skizzieren und dann erst szenisch ausarbeiten und zur vollen Länge entwickeln.“ (Aristoteles 1994, S. 55)

169 Anstelle von vier gewohnten Transformationen: „ins wissenschaftliche Lehrbuch, in den Lehrplan, in das Schulbuch und in die Unterrichtsvorbereitung“ (Schulze 1995, S. 368)

170 Aufgrund der konkreteren Nähe zum ursprünglichen Lernereignis kommt Schulze zu folgender Beobachtung:

„Die Produktionslinie der Lehrstückdidaktik unterläuft auch die Chefetage der Curriculumentwicklung, die bürokratische Ebene der Wissenschafts- und Schulverwaltung, und gibt die Curriculumarbeit in die didaktische Kulturszene zurück. Die Hauptakteure auf dieser Linie sind nicht Universitätsgremien, Lehrplankommissionen, die Herausgeber von Handbüchern und die Hersteller von Kompendien, sondern auf der einen Seite die Produzenten von Lehrstücken und auf der anderen Seite Lehrerinnen und Lehrer, die ein Lehrstück inszenieren.

Beide Seiten kommunizieren direkt miteinander – gleichsam von Person zu Person – und beide erhalten eine Aufwertung.“ Schulze kommt daher zur Auffassung: „Die Produktionslinie der Lehrkunstdidaktik ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen subversiv.“ (Ebd., S. 368f)

171 Dieses und das nächste Zitat: Ebd., S. 369.

172 „Da der Dichter ein Nachahmer ist, wie ein Maler oder ein anderer bildender Künstler, muss er von drei Nachahmungsweisen, die es gibt, stets eine befolgen: Er stellt die Dinge entweder dar, wie sie waren oder sind, oder so, wie man sagt, dass sie seien, und wie sie zu sein scheinen, oder so, wie sie sein sollten.“ Aristoteles 1994, 85.

173 Schulze 1995, S. 370.

174 Dies und das nächste Zitat: Ebd., S. 384.

175 Im heutigen Sprachgebrauch der Marburger Lehrkunstdidaktik wird statt von „Gestalten“ von

„Komponieren“ gesprochen.

176 Auffällig in diesen Titeln ist, dass sich das dramaturgische Element der Lehrkunst in Schulzes Augen offenbar nicht nur auf die Umsetzung einer lehrkunstdidaktischen Unterrichtseinheit in den konkreten Unterricht oder auf einzelne dramaturgisch gestaltete Sequenzen oder Momente einer Lektion bezieht. Sein Dramaturgieverständnis der Lehrkunst ist deutlich komplexer und umfasst den gesamten Prozess der Entstehung und Entwicklung eines Lehrstückes: vom Aufkeimen einer Lehridee oder dem Betrachten eines bedeutsamen Themas über die anschliessende Werkstattarbeit, die praktische Ausführung und die genannte Berichtlegung. Es

Dramaturgie

„Die Didaktik der Lehrkunst […] orientiert sich […] an der Arbeitsweise von Dramatikern, Regisseuren, Theaterkritikern und Literaturwissenschaftlern. Lehrkunstdidaktik ist eine dramaturgische Didaktik,“177 eröffnet Schulze seinen theoretischen Beitrag zur Lehrstück-Dramaturgie. Im anschliessenden Text referiert er zunächst Hausmanns „Didaktik als Drama-turgie des Unterrichts“, thematisiert dann die ‚Künstlichkeit„, den ‚Kunstanspruch„, den ‚In-halt und die Handlung„, den ‚Aufbau„, die ‚Figuren„, die ‚Sprache„, den ‚Sinn„ und schliess-lich die ‚dramaturgische Arbeitsweise„. Hervorzuheben ist sicher, dass im Vergleich mit Hausmanns Aufbau der „Sinn“ an letzter Stelle der vier klassischen Arbeitsfelder der Drama-turgie angesetzt ist. Die vier Unterkapitel der Umrahmung des Kernteils von „Inhalt und Handlung“ bis „Sinn“ werden hier in gebotener Kürze referiert.

Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts: Hausmann macht in seiner Arbeit über die Be-ziehungen von Theater und Unterricht auf „eine Fülle von Querverbindungen und Entsprech-ungen“ aufmerksam und demonstriert: „Unterricht erzeugt ebenso wie das Theater eine künstliche, eine imaginäre Wirklichkeit. […] Unterrichten bedeutet In-Szene-Setzen“ eines Themas, dessen „inhaltlich bestimmte Einheit“ als „massgebender Zusammenhang“ in Er-scheinung tritt.178 Für ihn öffnet sich ein neuer konzeptioneller Ansatz in der didaktischen Theorie: „Wenn man aber Unterricht so [als Aufgabe, Inhalte in Handlungen zu verwandeln, damit sie lehrbar werden, MJ] sieht, dann erscheint es sinnvoll, auch die Theorie des Unter-richts anders anzusetzen: nicht als ausgehend von der allgemeinen Struktur des UnterUnter-richts, sondern von der produktiven Arbeit an einzelnen Unterrichtseinheiten.“179 Diese Theorie müsste an „aufgeführten Stücken“, also an erfolgtem Unterricht, abgelesen werden, soll reflektierend nachfolgen und die Produktivität anregen. Schulze vertritt wie Klafki die An-sicht, dass Hausmann zu einseitig die Gemeinsamkeiten von Theater und Unterricht betont, ohne die Differenzen ausreichend zu beleuchten, was dazu geführt hat, dass seine Arbeit „in der Unverbindlichkeit einer Anspielung“ bleibt und nie in die Unterrichtsvorbereitung Ein-gang gefunden hat. Als zweites kritisiert Schulze, dass Hausmann nur auf der theoretischen Ebene ansetzt (anstatt „Stücke“ zu analysieren). Entscheidend für den Misserfolg Hausmanns hält Schulze aber, dass Hausmann den Didaktikern auf der Basis einer anderen, hier kunst-wissenschaftlichen, Sichtweise „etwas wie einen Paradigmenwechsel“ zumutet, worin ihm niemand gefolgt sei. Schulze schliesst mit einer programmatischen Ankündigung, in der er sich vornimmt, die am Vorgänger kritisierten Punkte zu bedenken. Er will in seinem Text ausdrücklich auch auf die Differenzen hinweisen und zwar „auf Differenzen zwischen dem Theater und dem Unterricht einerseits und auf Differenzen zwischen einer dramaturgisch denkenden Didaktik und der gewohnten Didaktik andererseits […].“ Und dann warnt er: „Es geht mir im Folgenden um Umgewöhnung, um die Entfaltung einer anderen Sichtweise, einer dramaturgischen Sichtweise.“180

Die Künstlichkeit: Das Künstliche an der Welt des Theaters liegt vor allem an der Eigenbe-züglichkeit der von ihr produzierten Scheinwirklichkeit, die ein vom Zuschauer abhängiges Zerrbild der Wirklichkeit spiegelt. Hingegen sind im Unterricht immer die Wirklichkeit des Klassenzimmers und der aussen liegenden Welt im Bewusstsein. Die künstliche Wirklichkeit, die der Unterricht erzeugt, bleibt „weitgehend unsinnlich“ und daher ist sie „in einem viel

handelt sich also in seinen Augen offenbar nicht nur um die Darstellung einer „Dramaturgie des Unterrichts“

(Hausmann), sondern um eine Offenlegung umfassender dramaturgischer Produktionslinien der Didaktik.

177 Schulze 1995, S. 370.

178 Ebd., S. 370f.

179 Dies und das nächste Zitat: Ebd., S. 371.

180 Ebd., S. 372. Dass Schulze beim Entwickeln seiner Dramaturgie vom Korpus vorhandener Lehrstücke auszugehen plant, scheint mir evident. So gesehen, hat Schulze sich also implizit vorgenommen, alle drei Kritikpunkte zu beherzigen.

stärkeren Masse durchsetzt mit nicht-künstlicher Wirklichkeit.“181 Sie fordert zum Unter-suchen und Erproben heraus, ihr Abbild in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler wird geprüft und korrigiert. Beide jedoch, Theater und Schule „tun als ob.“182

Der Kunstanspruch: Das Theater stellt an sich den Anspruch guten Theaters. Gutes Theater befriedigt, ruft nach Wiederholung, spiegelt sich in der Nachfrage von aussen, ermöglicht neue Inszenierungen und schafft so die Möglichkeit zu Reflexion. Gelungenes wird zum Mass und prägt sich ein. Die Dramentheorie versucht Konzepte zum Gelingen anzubieten, verweist meist aber „immer nur wieder auf die Vorbilder selber.“183 Guter Unterricht kann laut Schulze entweder den Verlauf oder die Wirkung des Unterrichts betreffen. Der jeweilige Massstab ist geprägt durch Ordnungsvorstellungen und Beurteilungen mittels Noten, „kaum aber durch Erinnerungen an gelungenen Unterricht,“ auch weil Unterricht nicht ohne weiteres mit Unter-richt verglichen werden kann. In der Regel wird gelungener UnterUnter-richt als individuelle Leistung betrachtet. Als zweites Gegenstück zur konventionellen Auffassung von Unterricht beleuchtet Schulze den Ansatz der Lehrkunstdidaktik: Die Fokussierung auf ein Repertoire einer begrenzten Anzahl von dokumentierten Lehrstücken schaffe eine Grundlage für „eine vergleichende, konstruktive Kritik.“184 Er stellt sich vor, dass ein neues Mass zur Beurteilung von Unterricht entstände, wenn jedes Fach ein Dutzend Lehrstücke kennen würde. Einem derart differenzierten Kunstanspruch wären dann das Lehrstück und die Inszenierung unter-worfen. Vor diesem Hintergrund leuchtet ein, dass das Nachspielen der Vorschläge und Bei-spiele Wagenscheins lehrreich sein kann. Während das Theater seinen Erfolg z. B. am Erlös messen kann, denkt die Schule oft an Leistungsprüfungen: Schulze schlägt vor, dass man einen Test zielgerichtet und ökonomisch vorbereiten kann und ansonsten auch einfach einmal sagen dürfen sollte: „Dies war ein interessantes Lehrstück! Und: Diese Inszenierung hat uns gefallen.“

Die dramaturgische Arbeitsweise: In diesem bei Schulze als Resümee angelegten Schluss-beitrag seines Hauptkapitels hebt er im Gesamtrückblick hervor, „wie anregend und auf-schlussreich“185 eine Untersuchung von Theaterkunst und Lehrkunst sein kann. Die Klärung von Begrifflichkeiten hat für ihn dabei einen geringeren Stellenwert als die „Übernahme der dramaturgischen Arbeitsweise“, wie Lessing sie in der Hamburgischen Dramaturgie vor-gestellt hat. Dessen kontinuierliche Diskussion der Gestaltung der jüngst gesehenen Insze-nierungen dokumentiere Lessings Lernen an der Sache. „Dabei orientiert er sich nicht an irgendwelchen ausgedachten Forderungen und abstrakten Werten, sondern an dem Beispiel überzeugender Stücke und Aufführungen.“ Diese Vorgehensweise nimmt Schulze auch in der Lehrkunst wahr, denn „alles was wir an Allgemeinheiten über die Lehrkunst sagen oder sagen können, ist an der Arbeit mit einzelnen Lehrstücken abgelesen.“186

181 Schulze 1995, S. 373.

182 Ebd., S. 372f.

183 Dieses und das nächste Zitat: Ebd., S. 374.

184 Dieses und das nächste Zitat: Ebd., S. 375.

185 Dies und die folgenden drei Zitate: Ebd., S. 383.

186 Dies trifft dann auch mit grosser Sicherheit auf Schulzes theoretischen Beitrag zur „Dramaturgie“ zu, der folglich im Sinne von Aristoteles und Lessing am Korpus existenter Lehrstücke abgelesen ist.