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Teil I Lehrkunstdidaktik und Dramaturgie

2.1 Die Arbeitsfelder der Dramaturgie

Die didaktische Methodenlehre kann aus der regulären Dramaturgie Anregungen übernehmen.

Gottfried Hausmann109

Es drängt sich die Frage auf, warum Hausmanns Dramaturgie des Unterrichts nicht längst schon zu einem Standardwerk der Didaktik geworden ist.

Susanne Wildhirt110

Das Wort ‚Dramaturgie‟ leitet sich vom griechischen Verb dramaturgein ab: ‚ein Drama verfassen‟. Die allgemeine Dramaturgie widmet sich dem Komponieren von Bühnendramen durch einen Dramenautor, die Dramaturgie des Unterrichts widmet sich dem Komponieren von Unterrichtsdramen durch Unterrichtsautoren. Im Sprachgebrauch der Lehrkunst werden solche dramaturgisch und insgesamt nach der Methodentrias gestalteten Unterrichtseinheiten

‚Lehrstücke‟ genannt. Die allgemeine Dramaturgie gibt im Rahmen ihres Wirkungsbereichs auf dramaturgische Fragen dramaturgische Antworten. Beim Eröffnen dieses Bereichs für die Didaktik stehen also nicht nur neue Begriffsfelder zur Analogisierung bereit, auch die entspre-chenden Antworten stehen zunächst zur (terminologischen) Disposition. Gottfried Hausmann betont in seiner „Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts“, die Didaktik müsse „die Antwor-ten der Dramaturgie immer erst in ihre Sprache übersetzen“ und sie könne „sie nur mutatis mutandis für ihre Zwecke in Anspruch nehmen.“111

Als Beispiel für dramaturgische Begrifflichkeiten in der Sprache kann das Wort ‚Rolle„

herangezogen werden. Die Bezeichnung findet sowohl in der Alltagssprache Verwendung als auch speziell im schulischen Feld, wenn von Lehrerrolle oder Schülerrolle gesprochen wird.

Der eigentliche Inhalt des Begriffs, der sich auf ein aufgerolltes Papier mit dem geschriebenen Text eines Schauspielenden während der Proben bezieht, ist nicht mehr erkennbar. An seine Stelle tritt in der Metapher ein bestimmtes Funktions- und Verhaltensmuster, das die Beteilig-ten im Alltag bzw. im Unterricht an den Tag legen. Es gibt zahlreiche derartige metaphori-sche Begriffe, die sich in der didaktimetaphori-schen und pädagogimetaphori-schen Sprache finden. ‚Methode‟ und

‚Nachahmung‟, anvisierbare Lern-‚Ziele‟ und gehbare Lern-‚Schritte‟ sollen stellvertretend als weitere Beispiele angeführt werden.112

Dramaturgische Theorie hat im Abendland eine 2300-jährige Geschichte, die bei Aristoteles beginnt. Ausgehend von Hausmanns „Didaktik als Dramaturgie des Unterrichtes“ und darin speziell dem Kapitel V über „Die Elemente des Unterrichts und die Bestandstücke des drama-tischen Kunstwerks“ stelle ich einen tabellarischen Vergleich an; vor zu Schulzes „Lehrstück-Dramaturgie“ und zurück zu Aristoteles‟ „Poetik“. Auf diese Art werde ich feststellen, welche Arbeitsfelder für die Dramaturgie im Rahmen der Lehrkunstdidaktik von Bedeutung sind.

Hausmann weist darauf hin, „dass die Erörterung der dramaturgischen Grundprobleme auch heute noch genötigt ist, die Bestimmungen des Aristoteles zu berücksichtigen.“113 Er geht

109 Hausmann 1959, S. 242.

110 Wildhirt 2008, S. 279.

111 Hausmann 1959, S. 74. Die Wendung mutatis mutandis bedeutet etwa ‚mit den nötigen Änderungen‟.

112 Vgl. auch Berg/Schulze 1995, S. 40. Bei der ‚Methode‟, dem ‚Nach-Gehen auf einem Weg auf ein Ziel hin‟

ist der Weg schon längst selbst zum Ziel geworden, wenn man die umfangreichen unterrichtshandwerklichen Methodenschulungen betrachtet. Dennoch gilt: „Auch ‚Methode„ ist nur ein Gleichnis.“ (Berg 2009, S. 61) Die

‚Nachahmung‟ leitet sich von einem längst vergessenen Flüssigkeitsmass (Ohm) ab, das genau ausgemessen nachgestaltet werden muss. Der griechische Wortstamm ‚ámē‟ verweist ebenfalls auf das Wort Eimer. (Kluge 1989)

113 Hausmann 1959, S. 103.

darum bei seiner Abhandlung analog zu den von Aristoteles festgelegten Hauptbestandteilen vor, die klassischerweise in vier Problemkreisen oder Arbeitsfeldern zusammengefasst wer-den: Inhalt, Aufbau, Figuren und Sprache. Bei Aristoteles als auch bei Hausmann ist der Sinn eng dem Inhalt beigeordnet, wenngleich Aristoteles ihn zu Beginn seiner Darstellung klar umreisst. Da aber der Inhalt und sein Ziel durchaus als zweierlei angesehen werden können, wird der ‚Sinn‟ in Tabelle 2 in einer eigenen Zeile aufgeführt. Die Bezeichnungen der vier Arbeitsfelder durch die Autoren werden in der Tabelle aufgeführt.

Aristoteles

~335 v. Chr.

Poetik

Hausmann 1959 Didaktik als Dramaturgie des

Unterrichts

Schulze 1995

Lehrstück-Dramaturgie

Inhalt Mythos

S. 25-47114

Inhalt S. 104-115

Inhalt und Handlung S. 375-377

Sinn Katharsis

S. 19 (39-47)

(Telos, Richtungssinn) S. 115-120

Sinn S. 381-383

Aufbau Aufbau

S. 33-47

Handlungsaufbau S. 120-124-135

Aufbau S. 377-378 Figuren Charaktere

S. 47-51

Figuren S. 135-139

Figuren S. 378-380 Sprache Sprache

S. 61-77

Sprachform S. 139-144

Sprache S. 380-381 Opsis Inszenierung

S. 19, 25, 95 - Vgl. S. 392ff

Melopoiia Melodik

S. 19, 21, 25, 97 - Vgl. S. 392ff

Tabelle 2: Arbeitsfelder der Dramaturgie bei Aristoteles, Hausmann, Schulze

Die drei Spalten im Überblick

Aristoteles zieht für die Analyse der Eigenheiten des Dramas einen Korpus von Theater-stücken seiner Zeit heran und präpariert an ihnen die wesentlichen Merkmale guter und schlechter Tragödien heraus. Er diskutiert zunächst die Grundkonzepte der nachahmenden Kunst mittels Vergleichen und Gegenüberstellungen und grenzt so das Drama von anderen literarischen Formen und schliesslich die Tragödie von der Komödie ab. Er diagnostiziert für die Tragödie sechs Teile: „Mythos, Charaktere, Sprache, Erkenntnisfähigkeit, Inszenierung und Melodik“.115 Im Rahmen des Mythos, der „Zusammenfügung der Geschehnisse“, behandelt er Aspekte des Inhalts, des Sinns (‚Katharsis„) und des Aufbaus. ‚Charaktere„ und

‚Sprache„ werden in eigenständigen Abschnitten besprochen. Die Erkenntnisfähigkeit be-zeichnet die intellektuellen und rhetorischen Eigenschaften der gespielten Person, sie wird innerhalb der ‚Sprache„ diskutiert. Die zwei letzten Teile, ‚Inszenierung„ und ‚Melodik„, wer-den nur in wenigen Sätzen angedeutet, eine eigenständige Darstellung innerhalb der Poetik fehlt. ‚Inszenierung„ bezeichnet das äussere Erscheinungsbild, unter ‚Melodik„ versteht

114 Die Seitenangaben beziehen sich auf die zweisprachige reclam-Ausgabe. Sie sind daher immer nur auf die ungeraden Seiten bezogen und vom Umfang her nicht mit Hausmann oder Schulze vergleichbar.

115 Dies und das nächste Zitat: Aristoteles 1994, S. 21.

toteles „das, was seine Wirkung ganz und gar im Sinnlichen entfaltet“ und „am meisten zur anziehenden Formung“ beiträgt.116

Hausmann vergleicht in seinem zentralen fünften Kapitel die Dramaturgie mit der Didaktik.

Bei der Dramaturgie geht er von der aristotelischen Lehre aus und schreitet voran bis zu den jüngsten Entwicklungen bei Brecht. Er belegt die zahlreichen Gemeinsamkeiten der beiden Bereiche in erster Linie mit Zitaten der Hauptdenker aus der Geschichte der Theater- bzw. der Unterrichtstheorie. In seinem ersten Unterkapitel, „Der Inhalt des Unterrichts und die Fabel des Dramas“, behandelt er sowohl Inhalt und Handlung als auch die Wirkung d. h. den Sinn des Dramas resp. des Unterrichts.117 Sein zweites Unterkapitel, „Der Handlungsaufbau in Drama und Unterricht“, befasst sich, an Goethe angelehnt, in zwei Teilen mit dem „Problem der Einheit“ und dem „Problem der Entfaltung“. Die letzten zwei Unterkapitel thematisieren die „Figuren des Dramas und des Unterrichts“ und die „dramatische und die didaktische Sprachform“. Dass die Inszenierung und die Melodik nicht von Hausmann berücksichtigt worden sind, liegt wohl daran, dass sie aufgrund der im Vergleich zu den anderen Teilen der aristotelischen Poetik mageren Textgrundlage in der allgemeinen Dramentheorie kaum diskutiert wurden.

Schulze hat für seine Ausarbeitung der direkt auf die Lehrkunstdidaktik bezogenen Lehrstück-Dramaturgie nur ein schmales inhaltliches Fundament gehabt. 1995 lagen erst wenige Lehrstücke vor, die meisten von ihnen befanden sich noch im frühen Entwick-lungsstadium der ersten unterrichtlichen Gehversuche. Dennoch hat er es vermocht – ähnlich wie Aristoteles beim Drama, jedoch ohne diesen explizit zu erwähnen – aus seiner Übersicht über den vorhandenen Korpus die grundlegenden Merkmale und Wesenszüge eines Lehr-stücks und seiner Dramaturgie zu erfassen.118 Im Hauptkapitel „Dramaturgie“ geht er zu-nächst auf Hausmanns Vorlage ein und bewegt sich dann im beständigen Vergleich der Unterrichts- und Lehrkunst mit der Bühnenkunst durch die einzelnen Aspekte ‚Inhalt und Handlung‟, ‚Aufbau‟, ‚Figuren‟, ‚Sprache‟ und (eigenständig!) ‚Sinn‟. Noch vor diesen vier klassischen Hauptteilen bespricht er die ‚Künstlichkeit‟119 und den ‚Kunstanspruch‟, am Ende stellt er seine Gedanken zur ‚dramaturgischen Arbeitsweise‟ dar. In Schulzes Text zur Lehrstückdramaturgie finden sich ausserhalb seines hier intensiv beleuchteten Hauptkapitels 2 auf den Seiten 392ff mehrere verstreute Anknüpfungspunkte zur ‚Inszenierung„ und zur

‚Melodik„, auf die in den entsprechenden Kapiteln Bezug genommen wird.

Die Inhalte der einzelnen Kapitel und Unterkapitel der drei Autoren entsprechen sich keinesfalls so, wie es aufgrund der Zuordnung der Überschriften in dieser groben Auflösung zunächst scheinen könnte. Es ist daher nötig, in das Innere der Themenkomplexe vorzu-dringen und ihre jeweiligen Grundzüge herauszuarbeiten. Dazu werden in Kapitel 2.4 die Arbeitsfelder der Dramaturgie einzeln und jeweils mit zwei Schwerpunkten (Hausmann und Schulze) betrachtet. Aristoteles wird dort, wo es sinnvoll und notwendig erscheint, ergänzend herbeigezogen, insbesondere aber bei der ‚Inszenierung„ und der ‚Melodik„, welche die ande-ren Arbeitsfelder in dieser Arbeit gleichrangig ergänzen.

116 Aristoteles 1994, S. 19 bzw. 25. In den Kapiteln 2.4.5 und 2.4.6 wird untersucht werden, wie die aristote-lischen melopoiia (Melodik) und opsis (Inszenierung) im Rahmen einer Dramaturgie der Lehrkunst berück-sichtigt werden können.

117 Hausmann selbst verwendet in seinem ersten Leitsatz diesen Begriff: „Das Bildungsgeschehen ist weitgehend dramatisch bestimmt und hat insofern auch einen kathartischen Sinn.“ (1959, S. 144)

118 Schulze erläutert dazu: Geht man von der „produktiven Arbeit an einzelnen Unterrichtseinheiten“ aus, zeigt sich Didaktik „als eine Theorie, die ähnlich wie die Dramentheorie ihre allgemeinen Gesichtspunkte und Prin-zipien an ausgeführten und aufgeführten Stücken abliest“ und ihr „reflektierend nachfolgt“. (1995, S. 371)

119 Die ‚Künstlichkeit‟ findet im zweiten und dritten Kapitel der Poetik bei Aristoteles ein Pendant im ausführlich dargestellten Begriff der ‚Nachahmung der Wirklichkeit„ (mimesis).

Im Anschluss an das jeweilige Referat der Arbeitsfelder sollen im Diskurs Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Auffassungen Hausmanns und Schulzes herausgestellt werden. Daraus entspringt in 2.4.3.4 die Folgerung, die Bezeichnung ‚Figuren„ im Folgenden durch ‚Perso-nen„ zu ersetzen; in 2.4.6 wird dargelegt, warum ‚Melodik„ um ‚Melodieren„ ergänzt wurde.

Die theoretischen Abwägungen führen in ein inhaltliches Fazit. Aus dieser verdichteten Zusammenfassung werde ich Dramaturgieregeln zum Lehrstückunterricht entwerfen, die auf der Basis des Diskurses, aber auch aufgrund meiner langjährigen Erfahrung mit der lehrkunst-didaktischen Werkstattarbeit, mit der Lehrstückkomposition und mit dem Lehrstückunterricht von mir abgeleitet werden.

Der ‚Sinn„ hat gegenüber den weiteren vier plus zwei gleichrangigen Arbeitsfeldern eine an-dere Bedeutung, da er nicht das Wie, sondern das Wozu, nicht die Art und Weise, sondern den Zweck beleuchtet. Um dieser besonderen zielsetzenden Stellung Rechnung zu tragen, wird der ‚Sinn„ in der vorliegenden Arbeit als eigenständiges Element hervorgehoben und, so wie es auch bei Aristoteles angelegt ist, im Kapitel 2.3 der Besprechung der Arbeitsfelder vorangestellt.120

Aristoteles

~335 v. Chr.

Poetik

Hausmann 1959 Didaktik als Dramaturgie des

Unterrichts

Schulze 1995 Lehrstück-Dramaturgie

Jänichen 2010

Sinn (Katharsis) S. 19 (39-47)

(Telos, Richtungssinn)

S. 115-120

Sinn S. 381-383

Sinn S. 48-54 Inhalt Mythos

S. 25-47

Inhalt S. 104-115

Inhalt und Handlung S. 375-377

Inhalt S. 55-63 Aufbau Aufbau

S. 33-47

Handlungsaufbau S. 120-124-135

Aufbau S. 377-378

Aufbau S. 64-76 Personen Charaktere

S. 47-51

Figuren S. 135-139

Figuren S. 378-380

Personen S. 76-83 Sprache Sprache

S. 61-77

Sprachform S. 139-144

Sprache S. 380-381

Sprache S. 83-87 Inszenierung Inszenierung

S. 19, 25, 95 - Vgl. S. 392ff Inszenierung

S. 87-90 Melodik /

Melodieren

Melodik

S. 19, 21, 25, 97 - Vgl. S. 392ff

Melodik / Melodieren

S. 90-94

Tabelle 3: Arbeitsfelder der Dramaturgie bei Aristoteles, Hausmann, Schulze, Jänichen

120 Analogisierend liesse sich die Überlegung im Denkbild eines Baumes fassen: Der Sinn stellt den tragenden und stützenden Stamm dar, während die sechs Handlungsfelder die Äste sind. Wären alle sieben Teile gleich-wertig, geriete der Baum zum Busch.