Teil I Lehrkunstdidaktik und Dramaturgie

2.4 Die sechs Arbeitsfelder der Dramaturgie

2.4.3 Personen

2.4.3.3 Diskurs

Ausgehend von Aristoteles‟ Begriff ethe352 ist die Diskussion in der Dramaturgie auf eine Vielzahl von scheinbaren Synonymen gekommen. Hausmann und Schulze verwenden eben-falls diese Reihe von austauschbar wirkenden Bezeichnungen: Hausmann benutzt willkürlich

‚Charakter„, ‚Figur„, ‚Person„ und ‚Rolle„. Schulze spricht, da er von der Welt des Theaters ausgeht und nicht von der Dramaturgie, von verschiedenen gut unterscheidbaren Personen-arten, wobei er mit ‚Figuren„ die „Figuren des Stückes, und das sind zugleich die Rollen“353 meint. Zu den Figuren lässt sich mit Hausmann dreierlei Allgemeines feststellen:

1. Sie sind Kraftzentren und Potenzen des Geschehens.

2. Sie sind handlungsbezogen und handlungsabhängig.

3. An ihnen und durch sie wird die Handlung deutlich.

(1) In der Welt des Unterrichts gibt es im Wesentlichen zwei Parteien (Lehrende und Lernende), in der Lehrkunst kommen die Lehrstückautoren als dritte hinzu. Auf die zwei erstgenannten Parteien müssten bei einer konsequenten Analogisierung alle Personenarten des Theaters übertragen werden. Dabei benennt Schulze ein erstes Problem: „Zuschauer im Sinne des Theaters gibt es nicht und auch keine personae dramatis. Schüler sind sowohl Schauspie-ler wie Zuschauer, aber auch weder das eine noch das andere.“354 Er schlägt vor, das Problem damit zu lösen, das Lehrstück als ‚improvisiertes Mitspielstück„ zu bezeichnen, weil im Lehr-stückunterricht die Grenze zwischen rezipierenden Zuschauern und aktiv Spielenden aufge-hoben ist. Mit der Feststellung „Aktion und Reflektion, Darstellen und Zurücktreten von der Darstellung wechseln miteinander ab“ knüpft er an seine beim ‚Aufbau„ bestimmten Wesens-züge und methodischen Wechsel im Rahmen der Gesamthandlung an (vgl. 2.4.2.2).355 Tat-sächlich weisen Lehrstücke in der Regel eine Vielzahl aktiver ‚Spiel‟-Tätigkeiten auf, die sich mit besinnlicheren Phasen abwechseln. Daher lässt sich sagen, dass die Schülerinnen und Schüler über die ganze Unterrichtseinheit betrachtet beide Positionen einnehmen. In Wildhirts Faradays Kerze folgt, grob umrissen, dem gemeinsamen aktiven Rätselraten um die Herkunft der Kerze im Zeichnen der Erinnerungskerze ein besinnlicheres Nach-innen-Blicken, bevor die lange Reihe des Experimentierens, des Vorführens und des reflektierenden Dokumentie-rens beginnt. Punktuell lässt sich das Verschmelzen beider Haltungen, jener des Spielenden und des Zuschauenden, sogar direkt aufzeigen, wenn z. B. in Linnés Wiesenblumen die Linné-spielende Lehrerin die Blumen in ihre Familien-Väschen sortiert und die Schülerinnen und Schüler einlädt, im szenischen Vollzug bei der Sortierarbeit mitzuspielen. Hier verschwimmt die Grenze zwischen Spiel und Schauen in einer einzigen Szene eines Lehrstückes deutlich, wenngleich ein einzelner Schüler oder eine einzelne Schülerin nur entweder spielen oder das Spiel schauend mitvollziehen kann.

Bei der Prüfung der drei oben genannten Bestimmungen wird sichtbar, dass die Schülerinnen und Schüler im Linné-Spiel alle drei Kriterien erfüllen: Sie fungieren als Kraftzentren des Geschehens, sie sind als tragende Personen handlungsabhängig und handlungsbezogen und die Handlung wird an ihnen und durch sie deutlich. Gleiches gilt für den durch die Lehrerin

352 Aristoteles 1994, S.47 ff: ethe, ‚Charakter‟, ist aber nicht gleichbedeutend mit ‚Person‟ oder ‚Figuren‟, son-dern bezieht sich vor allem auf die Forderung, dass die Figuren ausgeprägte Wesensarten haben sollen.

353 Schulze 1995, S. 378.

354 Dies und das nächste Zitat: Ebd., S. 379. Vgl. Bergs Aussage: „Es gibt gar kein Publikum, die Schauspieler sind die Mitspieler. Ein Lehrstück ist ein Mitspielstück und zwar ein improvisationsoffenes, ohne Publikum.“ In:

Haars 2006, S. 19.

355 Ein Zurücktreten von der Darstellung ist allerdings nicht gleichbedeutend mit Reflexion.

gespielten Linné oder Faraday. In einer Phase der Reflexion kann allerdings nicht ohne Wei-teres davon gesprochen werden, dass die Lernenden Zuschauer sind. Sie haben in dieser Posi-tion eher die FunkPosi-tion von Regieassistenten, die das Geschehen und seine Eigenarten doku-mentierend festhalten und kommentieren. Die Analogisierung des sprachlichen Inventars der Theaterwelt mit der Schule stösst hier an ihre Grenzen und sollte nicht übertrieben, sondern in Grenzen gehalten werden! Auf Fragen, ob die Schülerinnen und Schüler denn Schauspieler sind, wenn sie experimentieren, oder wo genau ihre Bühne ist, lassen sich nur im Verlauf kleinerer Handlungsteile klare Antworten geben. Der Nutzen einer Analogisierung ist nur dann gegeben, wenn aus anderen Bereichen entlehnte Begriffe in der Didaktik allgemein und in der Lehrkunstdidaktik speziell klärende Wirkung entfalten können.

(2) Die im Drama agierende Haupt- oder Grundfigur, der Held oder Protagonist, soll nach Schulze einfach, handhabbar und innerlich komplex sein sowie durch andere Rollen in Bewe-gung gebracht werden. Jenseits dieser Definitionen ist ihm wichtig, dass alle die Chance erhalten sollen, sich mit diesem Helden aktiv zu identifizieren. Soweit ist diese Bestimmung unproblematisch und deckt sich weitgehend mit den gängigen Auffassungen der Dramaturgie.

Schulze geht weiter. Um erklären zu können, wie „der Schwerpunkt der gesamten Tätigkeit“

auf Seiten der Lernenden in Phasen der Aktion und des Darstellens „in die Arbeit an der Rolle“356 verlagert wird, macht er einen zweiten Vorschlag. Dessen Inhalt ist, dass Phäno-mene oder Konzepte wie Primzahlen, die Fabel oder eine Kerze den oben aufgeführten Kri-terien entsprechen und also Helden oder Hauptfiguren sein können. Einfach, handhabbar und innerlich komplex sind diese Gegenstände tatsächlich und sie werden auch durch andere Rollen (Faraday, Aesop, Euklid, die Lehrenden, die Lernenden) in eine gewisse Bewegung versetzt, entwickeln sich, geraten in „Krisen“ und gehen am Ende in einer neuen, weil gedanklich und emotional durchdrungenen Gestalt aus den Handlungen und Verwicklungen hervor.

Können sich aber Schülerinnen und Schüler mit einer Kerze oder mit den Primzahlen identifizieren? Ja und nein: Die Identifikation mit der Kerze ist beispielsweise ein Bildungs-resultat der fundamentalen Erkenntnis zum Ende des Lehrstückes, wenn die ‚ökologische Kerze„ voll vor Augen steht. Faraday selbst regt diese gut begründete Identifikation an.357 Ei-ne derartige Identifikation ist bei der Primzahlenreihe oder der Fabel in dieser Form jedoch nicht gegeben. Zwar eröffnet sich auch hier eine bewegende, fachspezifische und allgemeine philosophische Tiefe, wenn sich die kategoriale und die fundamentale Erkenntnis eingestellt hat, es kommt aber nicht im strengen Sinn zu einer aktiven Identifikation. Zum zweiten Teil der Aussage Schulzes liesse sich kritisch fragen: Agieren die Fabel oder die Kerze denn im je-weiligen Lehrstück? Alle Bemühungen, den zentralen Lehr-Gegenständen Handlungsfä-higkeit zuzusprechen, wirken bemüht und animistisch. Zwar „fordert“ die Kerze in weitestem Sinne zu Tätigkeiten auf, zwar „will“ die Fabel in eine bestimmte Gestalt gebracht werden, aber immer sind es die Menschen, Aesop, Faraday, die Lehrenden und die Lernenden, die agieren, während die von ihnen fokussierten zentralen Gegenstände höchstens „reagieren“.

356 Die „Arbeit an der Rolle“ erhielte in diesem Zusammenhang eine andere Bedeutung, wenn den Lernenden von Anfang an klar wäre, dass sie am Ende des Lehrstückes eine dramatisierte Präsentation durchzuführen haben. Da diese Möglichkeit aber erst viel später von Schulze angesprochen wird, ist anzunehmen, dass er sich nicht auf diese öffentliche Rolle, sondern auf die halbprivate Rolle in der vertrauten Gemeinschaft der Unterrichtssituation bezieht.

357 „Und so wünsche ich euch denn zum Schluss unserer Vorlesung, dass Ihr Euer Leben lang den Vergleich mit einer Kerze bestehen möget, dass Ihr wie sie eine Leuchte sein möget für Eure Umgebung, dass Ihr in allen Euren Handlungen die Schönheit einer Kerzenflamme widerspiegeln möget, dass Ihr in treuer Pflichterfüllung Schönes, Gutes und Edles wirket für die Menschheit.“ (zitiert nach Wildhirt 2007, S. 264) Vgl. auch die teil-weise verschriftlichten Gedanken der Schülerinnen und Schüler in Wildhirt 2007, S. 259-261.

Auch Hausmanns Forderung, die Hauptfigur müsse vollständig vom Geschehen (also der Handlung) erfüllt sein, trifft nicht zu.

Schulzes Aussage, Phänomene, Gebilde oder Konzepte seien Hauptfiguren oder Helden, kann trotz teilweiser Übereinstimmung mit den von ihm selbst aufgestellten Kriterien nicht auf-rechterhalten werden. Sie gerät obendrein auch in Konflikt mit Schulzes Aussage „Jeder spielt hier die Hauptrolle“, welche auf die Lernenden bezogen ist. Diese Bestimmungen wirken aber erhellend und ergeben Sinn, wenn Otto Ludwigs bipolares Modell der Ellipse aus dem Kapitel

‚Aufbau„ (vgl. 2.4.2) erweitert wird. Das Modell diente eigentlich dazu aufzuzeigen, wie sich Spannung aufbaut, wenn ein Kontrast oder Konflikt zwischen zwei vorhandenen Kraftzentren (Hauptperson und Gegenspieler) besteht. Wird dort zu der einen Hauptperson (der Gruppe der Lernenden) und der zweiten Hauptperson (einem modellhaften Helden, z. B. Faraday) ein im Zentrum befindlicher Hauptgegenstand (z. B. die Kerze) gesetzt, um den die beiden Hand-lungen kreisen, ergibt sich eine einleuchtende und spannungsvolle personale Gesamtstruktur, die man als analog zu Otto Ludwig als „tripolare Ellipse“ bezeichnen könnte.

Abbildung 3: Modell der tripolaren Ellipse

In der Gesamthandlung des Lehrstücks (äusserer Rahmen) bestehen zwei Ellipsen als Span-nungsfelder mit einem beiden SpanSpan-nungsfeldern gemeinsamen Zentrum, dem Phänomen, dem Gebilde, dem Konzept. Die beiden personalen Kraftzentren stehen allerdings damit und untereinander nicht in einem destruktiven Konflikt, was – im Fall der Lehrkunst – durch den entscheidungsentlasteten Gesamtcharakter der Gegenstände begründet werden kann. Die Schülerinnen und Schüler und die Hauptfigur stehen über das Phänomen verbunden in einer Art spiegelnden Beziehung zueinander. Ein direkter Austausch mit dem modellhaften Gegen-über ist im Rahmen einer Inszenierung möglich, wenn in einem szenischen Spiel Gesprächs-möglichkeiten zwischen den Hauptpersonen eingeräumt werden. Ein indirekter Austausch ist auf schriftlichem Weg möglich. In diesen beiden Fällen übernehmen in der Regel der Lehrer oder die Lehrerin die Rolle bzw. die Funktion des Helden.

(3) Da aus dem vorher Gesagten hervorgeht, dass die wesentlich am Lehrstück Beteiligten (lernende) Menschen sind (Autor, Lehrende, Lernende, modellhafte historische Gestalt) und das zentrale Phänomen / Gebilde / Konzept nicht die Kriterien einer ‚Rolle„ oder ‚Person„ er-füllt, wird anstelle des schematischen Begriffs ‚Figuren„ die Bezeichnung ‚Personen„ als Oberbezeichnung für die Handlungsträger im Lehrstück verwendet. Dieser Begriff beinhaltet auch, dass eine rein passiv-rezipierende oder reflektierende Funktion des Zuschauers nur punktuell und in der Regel methodisch geplant gegeben, nicht aber kontinuierlich gleich-berechtigt vorhanden ist. Lehrstücke fordern aktives Personal.

In document Dramaturgie im Lehrstückunterricht. Himmelsuhr und Erdglobus – Howards Wolken – Erd-Erkundung mit Sven Hedin. Ein Beitrag zur Theorie, Praxis und Poiesis der Lehrkunstdidaktik (Page 80-83)