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Teil II Drei Lehrstücke

1.1 Vorüberlegungen

1.1.3 Der Weg zum Lehrstück

1.1.3.2 Lehrkunstdidaktische Vorlagen

Auch bei Diesterweg hat die Himmelskunde eine besondere Stellung.463 Sie hat auch Hans Christoph Berg früh begeistert, was, zusammen mit dem Stellenwert, den Wagenschein und Diesterweg ihr beigemessen haben, dazu geführt hat, dass die Himmelskunde als eins der ersten Lehrstücke in der Marburger Lehrkunstwerkstatt entwickelt worden ist.

Massgebliche Dokumentationen des Lehrstücks haben Daniel Ahrens, Ueli Aeschlimann und Regula Schaufelberger veröffentlicht,464 wobei es jeweils aufgrund der Gegebenheiten vor Ort, der Lerngruppe, dem gegenwärtigen Entwicklungsstand des Lehrstücks oder bestimmter Neigungen der Lehrenden angepasst und variiert wurde. In diesem Unterkapitel werden die veröffentlichten Vorläuferversionen resümiert und in ihrer Gesamtstruktur dargestellt.

Daniel Ahrens 1990: „Die Himmelsuhr“465

An sieben Tagen und zwei Abenden Ende Mai 1990 unterrichtet Daniel Ahrens die Himmelsuhr zum ersten Mal an der Ecole d‟humanité in Goldern, Schweiz. Bis zur zweiten, diesmal zweiwöchigen Inszenierung im Herbst 1991 hat Daniel Ahrens den Grundaufbau geklärt und einige neue Elemente eingebaut. Im Folgenden gehe ich auf Ahrens‟ dokumen-tierte Inszenierungsreflexion ein, die als Entwicklungsgrundlage aller darauf aufbauenden Variationen verstanden werden kann.

Die Lehrstückstruktur weist drei Akte mit je drei Szenen aus, die von einem Vorspiel und einem Nachspiel (Der ‚Lift‟) umrahmt sind. Das Lehrstück beginnt im Vorspiel mit einer metaphorischen Umschreibung des Unterrichtsganges und lädt dazu ein, einen Fokus auf die historisch frühen Bereiche der astronomischen Erkenntnisgewinnung zu setzen. Im ersten Akt betrachtet die Klasse den Tag- und Nachthimmel getrennt (Ein Paar in Zwietracht). Dabei erschliesst sich die Kategorie der Zeitmessung mit Uhr und Sonne. Mithilfe von Schatten-messungen entdecken die Lernenden den Höchststand der Sonne und erschliessen so die Himmelsrichtungen. Einfache Modelle einer 24-Stunden-Uhr erlauben, Himmelsrichtung, Sonnenposition oder Uhrzeit zuverlässig zu bestimmen. Der Unterschied zwischen Ortszeit („Sonnenzeit“) und der Zonenzeit („Armbanduhrenzeit“) wird geklärt. Auf einer Nachtexkur-sion wird der Nachthimmel durch das Erzählen von Sagen „belebt“. Alle merken sich die Position eines Lieblingssterns und stellen nach einer Stunde fest, dass er nicht mehr an seinem Platz ist: So nehmen alle bewusst die Bewegung der Sterne wahr.

Taghimmel und Nachthimmel vermählen sich zum Umhimmel: „Der zweite Akt stellt – dra-maturgisch gesehen – das Kernstück des Lehrstücks dar.“466 In der Reflexion der wahrgenom-menen Bewegung wird klar, dass sich die Sternbilder als Ganzes kreisend oder in Bögen über den Himmel bewegen. Bei einer zweiten Begegnung mit dem Nachthimmel wird das im Unterricht Überlegte überprüft. Mithilfe des Mondes kann dabei entweder die Drehung des Taghimmels über die Dämmerung hinaus bis in die Nacht oder die Drehung des Nachthim-mels über die Dämmerung bis in den Tag hinein verfolgt werden: Die zuvor als getrennt wahrgenommen Tag- und Nachthimmel vereinen sich zu einem die schwebende Erde um-schliessenden „Umhimmel“. Der zweite Akt endet mit einer Himmelsnacht, in der die

463 Vgl. Berg/Schulze 1995, S. 68 f. und F.A.W. Diesterwegs „Lehrbuch der mathematischen Geographie und populären Himmelskunde“ 1840.

464 Ahrens in Berg/Schulze 1995, S. 71-90; Aeschlimann 1999; Schaufelberger 2003/04 in: Berg/Wildhirt 2004, S. 143-156 sowie Ahrens 2005.

465 Daniel Ahrens 2005, S. 185-234. Die Inszenierung von 1990 liegt auch vor in: Berg/Schulze 1995, S. 71-90.

466 Dieses und die zwei folgenden Zitate aus: Ahrens 2005, S. 212.

Bewegung der Sterne als zusammenhängend und als eine einzige erfahren und begriffen werden kann. Eine neue Weltanschauung kann sich einstellen, es kommt zu einem

„gewandelten Gefühl für die Erde, auf der wir leben.“

Der dritte Akt (Vom Umhimmel zur Umhimmelsuhr) dient dem Schaffen einer verbesserten und bis ins Detail verstandenen drehbaren Sternkarte. Dabei werden Probleme überwunden, die mit der Darstellung des Horizonts („Wie kriegt man den Himmel platt?“), dem Lauf der Sonne und der Anordnung der Sterne zu tun haben. Wenn die Schülerinnen und Schüler erkennen, dass die Sterne als Scheibe auf einer Folie festgehalten werden können, stellt sich die Frage, wo der Polarstern hingehört und wie seine Bewegungslosigkeit in diesem Modell erreicht werden kann. Von der selbstgebastelten Sternkarte geht es weiter zur kaufbaren Kosmos-Sternkarte. Im Vergleich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der eigenen und der gekauften Sternkarte bahnt sich die kopernikanische Wende an. Nach dem Ansprechen der Bewegungen von Sonne, Mond und Planeten wird die Benutzung der Kos-mos-Sternkarte geübt. Das Ende des dritten Aktes bringt einen Rückblick über den Lehrgang:

Von der Uhr ausgehend wurde im Lauf des Lehrstücks ihr Bezug zum Himmel gefunden und zuletzt wurde ermöglicht, „im Himmel die Uhr erneut zu entdecken: die Himmelsuhr.“467 Das abschliessende Nachspiel führt die Lerngruppe mit grosser Geschwindigkeit über die kopernikanische Wende in die moderne Astronomie bis ins 21. Jahrhundert.468 Wichtig sind an dieser Stelle vor allem auch die unfassbaren Distanzen und der Blick in die Vergangenheit, wenn man an den Himmel schaut.

Ueli Aeschlimann 2000: „Elementare Himmelskunde“469

Das Lehrstück von Ueli Aeschlimann hat sechs thematisch klar abgegrenzte Teile, wobei die Teile 1, 2, 3, und 4 in ihrer Position als beweglich beschrieben sind.470

1. Die imaginierte Studienwoche mit einer 9. Klasse beginnt am ersten Tag damit, dass die Klasse von ihrem Beobachtungsort aus den Horizont auf verschiedene Arten zeichnerisch festhält. Eine kreisrunde Horizontkarte entsteht. Am Abend kommt es zu einer ersten Begeg-nung mit den Sternen, den Sternbildern und den dazu gehörigen Sternsagen. Die Bewegung der Sterne wird erstmals wahrgenommen.

2. Am zweiten Tag halten die Schülerinnen und Schüler die ersten Erlebnisse mit den Sternen schriftlich fest, tragen auf einer grossen Horizontkarte die beobachteten Sterne und Sternbil-der ein und diskutieren ihre Bewegungen. Eine korrekt angebrachte Sternenfolie erlaubt, an der eigenen Horizontkarte Auf- und Untergänge zu simulieren. Nachmittags werden Stern-bilder auf vollständigen Sternkarten gesucht. Diese Sternkarten werden auf Karton befestigt, mit einer Reisszwecke wird eine Folie daran gesteckt, auf die – wie bei der kaufbaren Stern-karte – ein dem Horizont entsprechender, drehbarer Himmelsausschnitt eingetragen ist. Es folgen Übungen mit dieser drehbaren Sternkarte. In der Nacht begegnet die Klasse erneut den Sternen: Die Lernenden sehen um 3.30 Uhr morgens einen deutlich veränderten Sternhimmel.

Durch ein Fernrohr können sie Jupiter und Saturn betrachten.

467 Ahrens 2005, S. 213.

468 In der Sprache der Lehrkunst hat sich aufgrund der Kletter-Analogie Wagenscheins für einen solchen enzyklopädischen Schnelldurchgang der Begriff „Lift“ oder „Liften“ eingebürgert.

469 Aeschlimann 1999, S. 121-193. Grundlage dieser Zusammenfassung ist in erster Linie der und idealisierte Bericht einer imaginativen Studienwoche, S. 150-163.

470 1. Die Erde; 2. die Sterne; 3 der Mond; 4. die Sonne; 5. die Erde unter den Sternen; 6. der Ausblick.

3. Am dritten Tag hält die Klasse den Sonnenschatten fest. Parallel dazu wird eine Weltkarte mit literarischem Leben gefüllt. Alle Teilnehmenden stellen Werke aus der Weltliteratur vor und platzieren sie als Erinnerungsanker auf der Weltkarte. Der Äquator erhält besondere Aufmerksamkeit. Nach der Beschäftigung mit dem Text „Die Erde ist rund“ von Peter Bichsel471 über die Kugelgestalt der Erde wird geklärt, woher die Menschen wissen, dass die Erde rund ist. Ueli Aeschlimann stellt Eratosthenes‟ Berechnung der Erdgrösse vor und.

berichtet anschliessend von Magellans dreijähriger Weltumsegelung. Am Nachmittag kom-men die wechselnden Gestalten des Mondes zur Sprache. Modelle helfen, die Mondphasen und die Finsternisse zu verstehen. In Gedanken wird der Perspektivwechsel geübt: Was sieht man vom Mond aus auf der Erde?

4. Der vierte Tag dient dazu, die Schattenlinie zu verstehen und so der Ortszeit und der Zonenzeiten auf die Schliche zu kommen. Die Kategorien der Himmelsrichtungen, der Zeit und der kalendarischen Einteilung des Jahres erschliessen sich. Über die Zeitgleichung kommt Ueli Aeschlimann schliesslich zur Himmelsuhr, deren drei Zeiger auf Sonne, Mond und Sterne fixiert sind und so Tag, Monat und Jahr anzeigen. Nun werden die vorher-gegangenen Teile mithilfe einer Glaskugel, in der sich eine kleine (Erd-)Kugel befindet, zusammengefügt: Sterne und Sternbilder, Äquator und Ekliptik werden darauf gezeichnet und erlauben, Auf- und Untergänge zu simulieren. Am Modell werden die täglichen und jähr-lichen Bewegungen der Himmelskörper verdeutlicht. Gleichzeitig kann daran auch abstrahiert werden, welche Himmelserscheinungen von anderen Positionen auf der Erde oder welche Erdbereiche vom Himmel aus gesehen werden können. Am Abend begegnet die Klasse zum dritten Mal den Sternen. Dieser Abend dient der Repetition sowie der Übung im Umgang mit der Sternkarte.

5. Im abschliessenden Ausblick referiert der Lehrer in einem Diavortrag die Geschichte der Astronomie von den Griechen bis in die Gegenwart. Die emotionale Seite, das veränderte Weltgefühl angesichts der astronomischen Erkenntnisse hat hier ebenfalls seinen Platz.

Regula Schaufelberger 2003: „Der heimatliche Sternenhimmel“

Diese Lehrstückvariation ist in einer dritten und vierten Primarschulklasse inszeniert worden.

Da alle bisherigen Inszenierungen auf der Sekundarstufe stattgefunden hatten, musste das Lehrstück vereinfacht werden.472 In zwei Unterrichtsphasen wird gemäss Plan im ersten Akt im Herbst ein Sternbilderschatz erworben, ein Dreivierteljahr später im Sommer finden dann der zweite und dritte Akt statt: das Zeichnen einer Horizontkarte und das Entstehen einer drehbaren Sternkarte.

Das Lehrstück beginnt, bedingt durch Wetterpech und Terminkollisionen, mit einer Reihe von Himmelsabenden erst Ende Februar. Das Auftauchen der Sterne löst am ersten Abend zahl-reiche Fragen aus. Die Kinder sehen und benennen erste Sternbilder und Sterne. Nach einer

471 In: Peter Bichsel (2008): Kindergeschichten.

472 Die in diesem Zusammenhang entstandene Analogie der „Pizza piccola“ (Schaufelberger, S. 144. In:

Berg/Wildhirt 2005) verdeutlicht den Weg der Vereinfachung: Eine kleine Pizza enthält wie eine grosse alle Zutaten, sie ist aber für Jüngere auf der Primarstufe zu bewältigen. In diesem Sinn würde die kleine Pizza

„Heimatlicher Sternhimmel“ beim Sternbilderschatz und den Himmelsrichtungen in einer einteiligen Nacht einsetzen. Die Bewegung der Sterne wird in einem zweiten, zweiteiligen Beobachtungsabend entdeckt. Daran können im Verlauf des Jahres astrographische Aufgaben anschliessen. Die normale Pizza umfasst (incl.

heimatlicher Sternhimmel) das vorliegende Lehrstück. Von hier aus kann der Weg zu Kopernikus, Galilei und Kepler (grosse Pizza) und schliesslich in die moderne Astrophysik zu Hubble und Einstein beschritten werden.

Dreiviertelstunde erzählt die Lehrerin im Klassenzimmer die Sternbildersage von Orion473 samt Hunden, Hase, Fluss Eridanus und Skorpion. An zwei weiteren Himmelsabenden lernen die Kinder jeweils neue Sternbilder kennen, bis das Wintersechseck vollständig ist. Tagsüber arbeitet die Klasse auf verschiedene Arten am Thema: Sie verfasst und kopiert Texte, zeichnet und beklebt Bilder, sticht Sternbilder oder arbeitet am Computer.

Im darauffolgenden Sommer werden im Zeichenunterricht eine gemeinsame und eine individuelle Horizontkarte angefertigt. Ende August findet ein weiterer Sternenabend statt.

Die Kinder merken sich die Positionen der bekannten Sterne, gehen tiefgreifenden Fragen nach und legen sich schliesslich schlafen. Um vier Uhr morgens werden die Kinder geweckt und stellen erschreckt fest, dass die vorhin eingeprägten Sterne verschwunden beziehungs-weise „gewandert“ sind. Mit Armbewegungen zeichnen die Kinder die Bewegungen der Sterne nach. Grosses Erstaunen macht sich breit, als die aus dem Winter bekannten Stern-bilder auftauchen, ein Höhepunkt ist das Erinnern der Geschichte um Orion und Skorpion, die nie gleichzeitig zu sehen sind. Die Bewegung der Sterne wird um Stunden weiter vorausge-dacht und bahnt so das Bewusstsein an, dass wir umkreist werden und dass die Erde Kugel-gestalt besitzt. Im folgenden Unterricht basteln dann alle Kinder ihre eigene drehbare Stern-karte: Die Positionen der gesehenen Sterne werden rekonstruiert und auf Folien übertragen, die Folie schliesslich wird auf den individuellen Horizontkarten fixiert. Der heimatliche Ster-nenhimmel ist erschlossen und gegenständlich greifbar.

Daniel Ahrens 1998-2005: „Elementare Himmelskunde“

Ab 1998 wurde die Himmelskunde von Daniel Ahrens in Umfang und Inhalt stark erweitert.

Im Rahmen eines Kurses am Gymnasium Lippstadt wurde die Himmelskunde über zwei Jahre mit drei Lektionen pro Woche unterrichtet. Im ersten Jahr stand die vorkopernikanische Weltsicht im Zentrum – ein halbes Jahr davon für die Himmelsuhr, im zweiten Jahr ging es von Kopernikus und Galilei bis in die moderne Astronomie. Die Struktur der Golderner Inszenierungen ist also erhalten geblieben. Um die weltanschaulichen Ziele zu betonen, wur-den zwei Ergänzungen vorgenommen: „Das intensive Erfahren des schwebenwur-den Erdballes in Mitten der Umhimmelskugel“474 bildet einen eigenen, dritten Akt und Aratos sowie der erste Teil seiner Phainomena spielen nun eine tragende Rolle im Bereich der Sternensagen.

Im Kurs wurden die Himmelskreise und Sternbilder anhand von Aratos‟ verdeutlicht und zusammenhängend vor Augen geführt, so dass sich der nächtliche Sternenhimmel in einen

„eindrucksvoll bebilderten Himmelsglobus“475 verwandelt. Durch Aratos bleibt die Ganzheit des Himmels erhalten, das Erlangen von Kenntnis und Vertrautheit wird intensiviert. Die grosse Bedeutung von Aratos für die zweijährige Variation in Lippstadt wird auch an den Werken der Schülerinnen und Schüler deutlich, in denen sie sich gestalterisch mit dem Lehrgedicht des Griechen auseinandersetzten: Es entstehen Aratos-Mappen, Präsentationen und Himmelsgloben. Weil bei Aratos nur knapp mehr als ein Dutzend der Sternbilder auch mit dem überlieferten Sagenstoff verknüpft sind, geht Daniel Ahrens über die Vorlage hinaus und lässt die Sitzungen des Kurses mit einer vorgelesenen oder erzählten Sage beginnen.

Die Ausarbeitung des Aktes zum Umhimmel unter besonderer Betonung der emotionalen Seite begründet Daniel Ahrens in grosser Deutlichkeit:

473 Wie bewegend dieser aussergewöhnliche Abend für die Neun- bis Elfjährigen gewesen sein muss, erkennt man daran, dass nach eigenen Aussagen drei von ihnen in der folgenden Nacht vom Orion geträumt haben.

(Schaufelberger, S. 147. In: Berg/Wildhirt 2005)

474 Ahrens 2005, S. 243.

475 Ebd., S. 247.

Ist man nur kurz unter dem Sternenhimmel unterwegs, kann man eine kleine Verschiebung des Himmels beobachten. Erlebt man diese leichte Drehung des Nachthimmels im positivsten Fall wie ein sanftes Streicheln über den Kopf, ändert sich die Qualität dieses Erlebnisses, wenn man min-destens drei Mal pro Nacht den Himmel in den Blick nimmt. Kennt man sich dann noch am bebilderten Nachthimmel aus, weiss man welche Sternbilder als nächstes aufgehen werden und wo unterhalb des Horizonts die fehlenden gerade kreisen, dann schliesst sich nicht nur der Himmel zum Umhimmel, dann fühlt man sich umfangen und erlebt von allen Seiten Geborgenheit. […]

Wir schweben ganz offensichtlich inmitten einer riesigen Sternenkugel – das ist kein hohles Wissen, das ist erlebbar, jedenfalls dann, wenn man sich unter freiem Himmel die Zeit nimmt, dem mächtigen Himmelskreisen nachzuspüren. Und genau dies tun wir im Rahmen des Himmels-kundeunterrichts der vergangenen Jahre. Ein ganz neues Grundgefühl deutet sich an. […] Die Erde wird verletzlich und zerbrechlich, ein schwebendes Kleinod über dem Abgrund. Im gleichen Moment erlebt sie der nächtliche Beobachter als Zentrum des ungeheuerlichen Umschwunges, als wäre die ganze Pracht nur für ihn geschaffen. Unsere Erde wird Heimat: Verletzlich und erhaben zugleich, bedroht und doch so unfassbar überlegen. Wir leben auf einer Schwebeerde, umgeben, umfangen von einer grandiosen, sternbebilderten Himmelskugel, einer Umhimmelskugel, die uns – dank Aratos und den antiken Sternsagen – zur zweiten Heimat geworden ist. So ist das tiefste, das grundlegendste Thema des Lehrstücks ‚Die Schwebeerde im Umhimmel‟ eigentlich Heimat und Zuhause.476

Den Lernenden wird durch die Betonung dieser Umhimmelserfahrung eine erschütternde und tragende Weltanschauung vermittelt, sie erwerben ein stabiles und gleichzeitig dynamisches Fundament einer Welterkenntnis, die Orientierung stiftet und Festigkeit verleiht.

Daniel Ahrens 2003: „Lippstadt und Kapstadt blicken gemeinsam an den Himmel“

Daniel Ahrens‟ Himmelskundekurs hat 2003 einen Beitrag zum Schulwettbewerb des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zum Thema „alle für EINE WELT – EINE WELT für alle“ eingereicht. Der Kurs hat mit einer Schulklasse in Kapstadt Kontakt aufgebaut und durch zeitgleiche Messungen der Sonnen- und Mondpositionen die Grösse der Erde (analog zu Eratosthenes) und die Entfernung des Mondes (analog zu Wagenschein 1955, S. 24 bzw. 53f) bestimmt. Unter den vielen hundert Einsendungen (insgesamt nahmen 21000 Schülerinnen und Schüler teil) erhielt der Beitrag aus Lippstadt den zweiten Preis, überreicht von Alt-Bundespräsident Johannes Rau.

1.1.3.3 Kritische Betrachtung der Lehrstückvorlagen und Eigenentwurf

Im Verlauf der Lehrstückentwicklung hat sich der Ansatz der Lehrkunst zunächst im Bildungsweg immer weiter nach „vorne“ verlagert: aus der Sekundarstufe II in die Sekundarstufe I und in die Primarstufe, bevor sie – in der vorliegenden Arbeit – von dort aus wieder auf die Sekundarstufe übertragen wurde. Die Vorlagen von Daniel Ahrens, Ueli Aeschlimann und Regula Schaufelberger zeigen, dass das Lehrstück in der jeweilig dokumen-tierten Form grundsätzlich auf der Primar- und in der Sekundarstufe inszeniert werden kann.

Im Lehrstück geht es aber – im Gegensatz zu einem von Wagenschein zentralen Anliegen – nur noch indirekt um das Schärfen des Verständnisses von Wissenschaft. Stattdessen rückt das Erfahren der Gestalt der Erde ins Zentrum, was mit einer fundamentalen Erschütterung einhergeht. In diesem Moment wird der Konflikt zwischen der alltäglich-irdischen und der abstrakt-naturwissenschaftlichen Weltauffassung offenkundig. Die jeweils fehlenden, ver-deckten oder unterdrückten Anteile können – im Sinn Wagenscheins – gewonnen oder freige-legt werden, eine vollere und intensive Beziehung wird angefreige-legt.

In den bisherigen Inszenierungen gibt es deckungsgleiche und abweichende Inhalte. Die Va-riationen von Aeschlimann und Ahrens umspannen Sonne, Mond und Sterne und enden mit

476 Ahrens 2005, S. 253f. (Hervorhebungen im Original, MJ)

dem „Lift“. Daniel Ahrens ergänzt sein Lehrstück im Verlauf eines Jahrzehnts Unterrichts-praxis um Aratos‟ Sternensagen und stellt die Umhimmelserfahrung ins Zentrum. In seinem zweijährigen Himmelskundekurs berechnet er ausserdem nach einer Vorlage Wagenscheins die Mondentfernung. Bei Ueli Aeschlimann spielt das Modelldenken eine grössere Rolle, so dass er im Rahmen einer Studienwoche viel Zeit in das Entstehen und Erschliessen der Horizontkarte und der drehbaren Sternkarte investiert. Die literarische Weltkarte und Magellans Weltumseglung sind Inhalte des Aktes zur Erde, der in seinen Inszenierungen eine Rolle spielt.

Einen ersten radikalen Neuansatz liefert Regula Schaufelberger. Da ihre Variation in der Primarschule inszeniert werden soll, müssen die Inhalte stark reduziert werden. Dabei wird deutlich, dass es unverzichtbar ist, einen Sternbilderschatz über Sternensagen aufzubauen und auf diesen bei der direkten Begegnung am heimatlichen Sternenhimmel zurückgreifen zu können. Im Anschluss an ihre Beobachtungen gestalten die Kinder eine Horizontkarte und entwickeln zum Schluss des Lehrstücks eine drehbare Sternkarte. Obwohl mehrere Akte der bisherigen Vorlagen gestrichen worden sind, steht damit den Schülerinnen und Schülern dennoch das Ganze in einer „schlichten Dichte“477 vor Augen und kann in späteren Jahren mühelos erweitert werden.

Die vorliegende Variation des Lehrstücks knüpft an Regula Schaufelbergers Lehrstück an.

Hauptanlass zur Neugestaltung war der aus meiner Perspektive stets überbordende Zeitrah-men der bisherigen Inszenierungen, der dieses (auch für die Lehrkunst) zentrale Lehrstück stets zum Sonder- oder Ausnahmefall macht: Ueli Aeschlimann kann jeweils nur eine Klasse im Rahmen einer Studienwoche bedenken, Daniel Ahrens führt sogar erst einen entspre-chenden zweijährigen Kurs an seiner Schule ein. Auch Regula Schaufelberger spannt ihre Variation über ein ganzes Unterrichtsjahr. Gesucht ist also eine kompakte und handhabbare Form, in der das Lehrstück vollständig bleibt und auch für mehrere Klassen pro Schuljahr zugänglich wird. Am besten wäre es, wenn alles in einer warmen Spätsommernacht stattfinden könnte!

Gleichzeitig zeigt sich in der Thurgauer Neufassung von Regula Schaufelberger, dass Mond und Erde im Sinn Aeschlimanns als Inhalte verzichtbar sind, wenn es darum geht, die Kreis-bewegung des Himmels zum Umhimmel zu runden. Die Sonne spielt bei ihr ebenfalls keine ausgewiesene Rolle. Daniel Ahrens erörtert ausführlich, dass die Erfahrung des Umhimmels ein fundamentaler und zentraler Bestandteil des Lehrstücks sein muss. Seine „Vermählung“

der gegensätzlichen Tag- und Nachthimmel zum Umhimmel setzt aber vorher explizit getren-nte Beobachtungen voraus, da nur so die Verbindung deutlich genug wird. Der Weg zum Umhimmel kann jedoch auch anders begangen werden: Liegen zwischen der ersten und der zweiten Beobachtung vier Stunden Zeit, sind fünf Sechstel des Umhimmelskreises von den sichtbaren Sternen in der zweiten Beobachtungsphase ableitbar.478 Im fehlenden Sechstel steht die Sonne, die ja schon vor den ersten Sternen im Westen untergegangen ist. Der Himmel kann auch an einem einzigen Abend als Umhimmel wahrgenommen bzw. abstrahiert werden!

Ein weiteres Anliegen in Bezug auf die Neukomposition war mir, dass die Schülerinnen und Schüler am Ende des Abends die selbstgemachte drehbare Sternkarte in den Händen halten.

Auf diese Weise können sie den Eltern, die sich für die Geschehnisse und Erkenntnisse während der Nachtexkursion interessieren, sofort zeigen und erklären, was sie erfahren und erlebt haben. Den Abend allein mit Worten und mit leeren Händen beschreiben zu müssen,

477 Markus Koller, zitiert nach Berg/Wildhirt 2005, S. 122.

478 Es sind allerdings nur vier Sechstel der Sterne sichtbar. Das fünfte Sechstel ergibt sich aus dem Zurückdenken des Ost-Sechstels an die Position jenseits des Horizonts bei der ersten Begegnung mit den Sternen.

wäre zu später Stunde je nach Verfassung eine schwierige Aufgabe. Das Produkt ‚Sternkarte„

erlaubt auch, am nächsten Tag oder später noch einmal alles Gesehene und Erfahrene Revue passieren zu lassen. So wird verhindert, dass sofort das Internet oder das Lexikon zur Wieder-holung bemüht werden. Alle Einzelschritte lassen sich am Produkt ins Gedächtnis zurück-rufen.

Damit es gelingen kann, zum Abschluss der Sternennacht eine drehbare Sternkarte mitnehmen zu können, muss die Sternkarte in ihren Einzelteilen und Entstehungsphasen im Verlauf des Abends platziert werden. Als erstes muss die Horizontkarte entstehen. Dies kann nur vor Sonnenuntergang geschehen, wenn die Beleuchtung der Sonne die Konturen der Umgebung und die Details in der Landschaft scharf hervortreten lässt. Die Sterne können nach der ersten Begegnung mit ihnen auf der Folie bearbeitet werden. Das Zusammenfügen der beiden Teile geschieht nach der zweiten Himmelsbegegnung, wenn sich der Himmel gerundet hat.

Weiterhin soll den geographisch relevanten Themen Erdkugel und Gradnetz mehr Platz einge-räumt werden. Im Lehrstück soll neben der grundlegenden Orientierung durch die Himmels-richtungen auch der gedankliche Weg um die Erdkugel beschritten werden können. Kongo liegt beispielsweise etwa unter jenem Sternbild, das wir auf dem Himmelsäquator im Süden sehen. Welche Orte liegen östlich und westlich von uns und was sieht man von dort aus? Was sieht man von unserem Himmelsausschnitt, wenn man sich östlich oder westlich des Kongo befindet? Auf diese Weise werden auch die Zeitzonen und die Jahreszeiten angelegt. Der erste Teil dieser Denkaufgabe, das Kippen nach Norden und Süden, kann vor der Rundung der Erde und des Himmels bewältigt werden, der gedankliche Weg nach Westen und Osten ist erst im Verlauf des zweiten Aktes eröffnet. Das Gradnetz soll ebenfalls stärker betont werden:

Der Polarstern offenbart die geographische Breite auf der Nordhalbkugel, die 360 Längen-grade entsprechen fast der täglichen Verschiebung der Sternaufgangszeiten. Die Breite kann nach der Einführung des Polarsterns eingebaut werden, die Länge erst, wenn klar ist, dass die Sterne kreisen. Im Rahmen einer Sternennacht kann die tägliche Verschiebung um vier Minuten nicht beobachtet werden, deshalb muss dieser Inhalt vom Lehrer dargeboten werden.

Ein Bindeglied zwischen Erdkugel und Gradnetz stellt Eratosthenes dar. Mit seiner Berechnung des Umfangs der Erde führt der ägyptisch-griechische Astronom direkt und ohne Umwege in beide Themenkomplexe. Im gebührt im Lehrstück also eine herausragende Stellung. Will ich ihn auf der Exkursion auch verkörpern, damit sich die Möglichkeit zum Dialog zwischen ihm und den Schülerinnen und Schülern ergibt und er Bestandteil einer lebendigen Erinnerung an die Sternennacht wird, kommt es zu einem Konflikt mit Aratos, welcher als Exponent der poetischen Aspekte des Sternhimmels eigentlich ebenfalls

„persönlich“ auftreten sollte. Ein Hinweis von Daniel Ahrens förderte einen Glücksgriff zutage: Eratosthenes‟ Sternsagen. Mit diesem Werk kann Eratosthenes zum alleinigen Vertre-ter beider Himmel werden. Er zeigt uns gleichermassen dessen poetisch-liVertre-terarische wie naturwissenschaftliche Seite. Aratos muss trotz einiger Vorzüge, die seine Phainomena haben, in die zweite Reihe rücken. Der Universalgelehrte Eratosthenes wird zum alleinigen Protagonisten des Abends.

Im folgenden Kapitel werden zwei Aspekte des Lehrstücks im Sinne einer wissenschaftlichen Vergewisserung genauer untersucht. 1. Ein erster Fokus soll auf das Werk, die drehbare Sternkarte, gerichtet werden. Welche historischen Instrumente sind Vorlagen, welche Geräte sollten in meinem Besitz sein, wenn ich die Geschichte und Entwicklung der Planisphäre im Rahmen dieser Nacht authentisch darstellen möchte? 2. Aus der Absicht heraus, ihm eine zentrale Rolle im Lehrstück zuzuteilen, erhebt sich die Notwendigkeit, über die Person und die Leistungen des Eratosthenes zu recherchieren.