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Teil II Drei Lehrstücke

1.1 Vorüberlegungen

1.1.4 Wissenschaftlich begründete Impulse

In diesem Kapitel werden zwei Aspekte des Lehrstückes besprochen, die eine besondere Bedeutung für das Lehrstück haben und eine vertiefte Auseinandersetzung mit ihnen nützlich erscheinen lassen: die Geschichte der drehbaren Sternkarte und die im Lehrstück zentrale Person Eratosthenes.

1.1.4.1 Die Geschichte der drehbaren Sternkarte

Drehbare Sternkarten sind zweidimensionale Planetarien, die die Bewegungen der Sterne ei-ner Himmelshalbkugel am Horizont nachbilden. Dazu drehen sich die Sterne um den Him-melspol, der grösste Teil der Sterne liegt hinter einer in der Regel transparenten Maske, die eine Aussparung aufweist, in der der sichtbare Himmelsausschnitt über dem vollständigen Horizont des Beobachters angezeigt wird. Man bezeichnet drehbare Sternkarten auch als Pla-nisphären, also als „flache Kugeln“, was auf das wesentliche Problem bei der Projektion des Himmels auf eine Fläche hinweist.479 Planisphären basieren auf azimutalen Projektionen: Sie sind winkeltreu und bilden die Breitenkreise als Kreise ab, die Flächenverzerrung nimmt aber mit wachsender Entfernung vom Pol immer stärker zu. Die azimutal projizierten Längengrade erscheinen abgesehen von dem nach Norden und Süden weisenden Meridian als mehr oder weniger stark gebogene Richtungslinien.

Wenn auch unklar ist, wann genau die erste Planisphäre entwickelt wurde, weiss man, dass die geometrischen Grundlagen, um die Projektionsprobleme zu bewältigen, schon im zweiten Jahrhundert vor Christus in Griechenland vorhanden waren. Massgeblich war in diesem Zusammenhang Hipparchos von Nicäa, der durch die Berechnung der Entfernung des Mondes und seinen Sternkatalog bekannt wurde, aber auch die Präzession der Erde entdeckte, sich mit der Positionsbestimmung befasste und vermutlich den ersten Himmelsglobus besass. Die ers-ten Beschreibungen von Planisphären weisen jedoch in die römische Zeit zurück, in die Schrift De Architectura : „Der Architekt und Ingenieur Vitruvius beschrieb um das Jahr 27 v. Chr. eine auf einer massiven Platte eingravierte Sternkarte, über der eine drehbare Hori-zontmaske angebracht war, um so die Aufgänge und Untergänge von Himmelskörpern dar-zustellen. Von einer Wasseruhr gesteuert, vollführte die Maske täglich eine vollständige Um-drehung und blieb so mit der scheinbaren Bewegung des Himmels synchron.“480 Erstaunlich ist hier, dass in dem beschriebenen Modell bereits der Horizont dreht, während die Sterne stehen. Es ist zu vermuten, dass diese Bauart in erster Linie dem Problem des nicht sichtbaren Himmelsteils zu verdanken ist, der verdeckt werden sollte. Die Herstellung von Glas, auf das andernfalls die Sterne hätten geritzt oder graviert werden können, war allerdings bereits im alten Ägypten bekannt.

Einen in diesem Sinn bemerkenswerten Wandel in der Darstellung der Sternkarten stellt das planisphärische Astrolab dar, bei dem sich die Sterne wahrnehmungsgemäss über einen festen Horizont drehen. Die ersten Astrolabien481 entstehen vermutlich im 4. Jahrhundert n. Chr. (im

479 Derartige Probleme hat auch Ptolemäus im zweiten Jahrhundert n. Chr. zum Gegenstand seiner Abhandlung Planisphaerium gemacht: „Da es möglich und oft notwendig ist, […] in einer Ebene Kreise darzustellen, die sich auf einer Kugel befinden, als ob sie eben wäre, so findet man Rat in der Wahrheit der Wissenschaft…“ Zitiert nach: J. Drecker 1927, S. 255.

480 Dieses und das nächste Zitat: MacRobert 2004, S. 63.

481 Es besteht eine Verwechslungsmöglichkeit da auch Armillarsphären als Astrolabien bezeichnet worden sind, z. B. bei Ptolemäus.

Umfeld des Astronomen, Bibliothekars und Euklid-Herausgebers Theon von Alexandria), die ersten Beschreibungen stammen aber erst vom christli-chen Naturphilosophen Johannes Philoponos aus dem 6. Jahrhundert. Im Mittelalter verbreiten sich kunstvolle, metallene Astrolabien arabischer und persischer Herkunft in Europa, sodass sie schliess-lich „das allgemein bekannte Markenzeichen der Astronomen und Astrologen“ wurden. Der äussere Rand (Limbus) der Hauptscheibe des Astrolabs ist wie die drehbare Sternkarte in 360 Grad eingeteilt, in diese Scheibe (Mater) kann eine dem Breiten-kreis entsprechende Horizontscheibe eingesetzt werden. Die netzförmige Rete zeigt einzelne Sterne an und kann frei rotieren. Der auffälligste Unter-schied zwischen Astrolab und drehbarer Sternkarte ist die bewegliche Alhidade, mit deren Diopter-Löchern Winkel gemessen werden können. Ein zweiter wesentlicher Unterschied ist die Abbil-dung der Sternbilder: Da beim Astrolab von aussen auf den Himmelspol geschaut wird, sind die Posi-tionen der Sterne aus unserer von innen blickenden Sicht her verkehrt angeordnet, der Krebs liegt auf

dem Astrolab im Uhrzeigersinn neben dem Löwen, auf der drehbaren Sternkarte ist es umgekehrt.

Mit Galileis Forderung nach grösserer Präzision bei wissenschaftlichen Untersuchungen und der wachsenden Verbreitung von Uhren verblasste der Ruhm des Astrolabs langsam. Seine Funktion der Zeitbestimmung wurde hinfällig, denn nun gab es jederzeit die Möglichkeit, die Positionen der Sterne bestimmen zu können. Die heutigen kaufbaren Sternkarten – unter an-derem werden sie durch die Verlage Kosmos, Sirius, Polaris, Oculum und etliche andere angeboten und haben jeweils unterschiedliche Bezugspunkte auf der Erdoberfläche – haben die römische Variante der Darstellung wieder aufgenommen und zollen so dem nachkoperni-kanischen Weltbild Rechnung: Die Sterne stehen, die Erde dreht.

Fazit: Die im Lehrstück entstehende Sternkarte weicht in mehrerlei Hinsicht von der käuf-lichen ab. Sie zeigt im Gegensatz zur käufkäuf-lichen Sternkarte einen bewegten und transparenten Himmel über einem stehenden Horizont, bildet aber im Gegensatz zum Astrolab die Sternbilder aus der Innensicht, also von der Erde aus gesehen, ab. Dieser Unterschied ist mit dem sinnlichen Ansatz des Lehrstücks und seinem vorgalileischen Inhalt zu begründen. Die grosse Wende des Weltbildes findet ausserhalb der Sternennacht statt, wenn auch die Be-nutzung der käuflichen Sternkarte geübt wird. Ein zweiter Unterschied ist die Form des Hori-zonts. Während die ovale Formung des Horizonts auf der käuflichen Sternkarte das Ergebnis der azimutalen Projektion korrekt darstellt, wird der heimatliche Horizont auf der selbst-gemachten Sternkarte kreisförmig gestaltet. Hierfür gibt es zwei Gründe: Erstens erschwert die unterschiedliche Horizontlänge zwischen den Himmelsrichtungen die zeichnerischen Bemühungen der Lernenden, zweitens würde die unerwartete Form auf der Exkursion mit der Projektionslehre erklärt werden müssen. Dies brächte einen umfangreichen zusätzlichen Lerninhalt mit sich, der schon gleich zu Beginn der Exkursion auf eine abstrakte, gedankliche Ebene führen würde, anstatt in die erwünschte Richtung zugunsten der sinnlichen Wahrnehmung.

Abbildung 6: Arabisches Astrolabium (de:wikipedia)

1.1.4.2 Eratosthenes

Eratosthenes von Kyrene (276-194 v. Chr.) gilt als „Symbol für die Einheit der Wissenschaft.“482 Die hervorragende Be-deutung des antiken Wissenschaftlers wurde auch schon in der Antike wahrgenommen: „Eine im Corpus des Lukian er-haltene Schrift rühmt Eratosthenes als Grammatiker, Dichter, Philosophen und Geographen. Unter seinen Zeitgenossen spendet der Mathematiker Archimedes den grössten Beifall.

Er bezeichnet Eratosthenes als ‚vortrefflichen Gelehrten, der in der Philosophie eine bemerkenswerte Spitzenstellung ein-nimmt.‟“483 In diesem Fach hat er sich durch seine Inter-pretation Platons den Beinamen „Neuer Platon“ oder „Zwei-ter Platon“484 erworben. Eratosthenes entfaltet dort auch mathematische Begriffe, besondere Bekanntheit hat jedoch seine Methode zur Bestimmung von Primzahlen erlangt, das ‚Sieb des Eratosthenes„. „Bei Eratosthenes stand die Anwendung der Mathematik im Vordergrund. Ohne seine im Platonikos entwickelte und am ‚Mesolabon‟485 angewandte Proportionenlehre wären seine musiktheoretischen, astronomischen und geographischen Forschungen undenkbar gewesen.

Seine berühmte Erdmessung lässt sich damit direkt in Verbindung setzen und selbst seine Gedichte beschäftigen sich mit wissenschaftlichen, im engeren Sinn mathematisch-astro-nomischen Themen.“486

Von ihm liegen mehrere Dutzend dichterische Fragmente vor, wobei die beiden Gedichte Erigone und Hermes für die Astronomie die grösste Bedeutung haben, da sie erklären, wie bestimmte Sternbilder und Himmelserscheinungen zu ihrem Namen kommen (Kataste-rismos): Erigone wird von Zeus an den Himmel versetzt (als Sternbild Jungfrau), Hermes verursacht indirekt die Milchstrasse, als er Herkules an Heras Brust legt, ordnet die Himmelskörper und erfindet die Lyra. Eratosthenes‟ systematisches Handbuch Katasterismen (auf deutsch: „Sternsagen“) kann als Fortsetzung seiner dichterischen Werke betrachtet werden. Er steht damit in einer Tradition, die ihre leisen Anfänge in Homers und Hesiods Erwähnung einzelner Himmelserscheinungen oder Konstellationen nimmt. Mit seinen Katasterismen muss Pherekydes von Athen (5. Jh.

v. Chr.) als direkter Vorläufer von Eratosthenes‟ Samm-lung gesehen werden. Das gilt auch für Kallimachos von Kyrene, der „angeblich auch ein Lehrer des Eratosthe-nes“487 war. Hingegen waren Aratos von Solois Beschrei-bungen des Sternhimmels offenbar kein Vorbild und keine wesentliche Quelle für Eratosthenes. Der Bezug zum Mythos spielt in Aratos‟ Phainomena eine untergeordnete Rolle und wird lediglich bei der Krone, der Jungfrau und dem Pferd (Pegasus) näher ausgeführt.

482 Strasburger, zitiert nach: Eratosthenes, S. 12.

483 Ebd. Auf Eratosthenes Bedeutung im Bereich der Grammatik und Geschichtsschreibung wird hier nicht näher eingegangen, da beide keinen Bezug zu seinen astronomischen oder geographischen Erkenntnissen haben.

484 Ebd., S. 13.

485 „Ein mechanisches Instrument zur Auffindung zweier mittlerer Proportionalen“. Ebd., S. 15.

486 Ebd. Hervorhebung im Original, MJ.

487 Ebd., S. 28.

Abbildung 7: Eratosthenes (en:wikipedia)

Abbildung 8: Skaphe (Kohl 2003)

„Eratosthenes berühmteste Leistung war die Berechnung des Erdumfangs. In einem astro-nomisch-mathematisch korrekten Verfahren – durch Vergleich der Schattenlängen zweier Orte, die auf demselben Meridian liegen – bestimmte er ihn mit 250.000 Stadien. Das von ihm benutzte Stadionmass ist unbekannt; eine Umrechnung in Kilometer ist daher proble-matisch, doch ist die exakte Fehlerquote letztlich von untergeordneter Bedeutung. Die eratos-thenische Leistung liegt weniger in der Präzision des Ergebnisses als in der fast schon genial zu nennenden Anwendung einfacher geometrischer Sätze.488 In seiner Schrift Über die Mes-sung der Erde […] versuchte er neben der Berechnung des Erdumfangs noch weitere virulente Probleme der Astronomie seiner Zeit – die Schiefe der Ekliptik, die Abstände der Polar- und Wendekreise, die Abstände von Mond und Sonne von der Erde, die totalen und partiellen Mond- und Sonnenfinsternisse, der Wechsel der Tageslängen nach geographischer Breite, die astronomische Verortung der Windrose – zu lösen.“489 Im Sinne eines Sternbilder-katalogs können auch die Katasterismen als astronomische Leistung verbucht werden, aller-dings nicht als astronomisch-mathematische, sondern als astronomisch-literarische.

Auf dem Feld der Geographie hat Eratosthenes mit seiner Geografika ebenfalls Grund-legendes geleistet. Er referiert darin die bisherige geographische Forschung, berichtigt die Erdbeschreibungen aufgrund seiner Beobachtungen und Folgerungen und beschreibt einzelne Länder auf der Basis von antiken Berichten. Schliesslich erstellt er eine Weltkarte, für die er

„ein grobmaschiges Gradnetz aus wenigen Meridianen und Breitenkreisen entwarf“.490

488 Diese geometrischen Sätze hätte Eratosthenes grundsätzlich auch auf den damaligen Polarstern anwenden können (s. u.).

489 Eratosthenes, S. 19. Hervorhebung im Original, MJ.

490 Ebd., S. 20. Interessant ist, dass Eratosthenes mehrere auch heute noch bekannte, vergleichende Beschrei-bungen festgehalten hat: Der Peloponnes erinnert an ein Platanenblatt, Sardinien an eine Fusssohle, Iberien an eine Rindshaut. (Ebd.)

Abbildung 9: Oikumenekarte nach Eratosthenes

(http://www.heritage-history.com/maps/ancient/class003.jpg, Zugriff am 16.5.2010)

Fazit: Im Lehrstück soll Eratosthenes seine umfassende Strahlkraft voll entfalten – er personifiziert die „Sternstunde der Menschheit“ und hat hier die Funktion eines „Urhebers“.

Von besonderer Bedeutung sind daher zwei Aspekte seiner Leistungen, die „die beiden Himmel“491 berühren: Er versinnbildlicht die Einheit des Himmelsbetrachters als Wissenschaftler und als Poet. Auf der Wissenschaftsseite steht seine Erdmessung im Zentrum, die im Lehrstück zur gedanklichen Rundung der Erde führt. Dieser Aspekt entspricht nicht der historischen Realität, da Eratosthenes schon vor seiner Berechnung wusste, dass die Erde eine Kugel ist. Die Umkehrung ist Resultat einer didaktisch-dichterischen Freiheit und Notwendigkeit. Da im Lehrstück zunächst nur der Nachthimmel als Anschauungsobjekt zur Verfügung steht, vermittelt er seinen geometrischen Ansatz überdies nicht an der Messung des Schattenwurfs, sondern an der Veränderung der Höhe des Polarsterns über dem Horizont.492 Im Verlauf des Abends sollte allerdings die allgemein bekannte Messung des Schattenwurfes thematisiert werden.493 Der zweite Aspekt liegt auf der poetischen Seite.

Eratosthenes Katasterismen stellen die erste, alle Sternbilder umfassende Sammlung der mythisch begründeten Verstirnungen dar. Leider sind sie trotz gewisser dichterischer Qualitäten nicht als Lesetexte für die Schülerhand brauchbar, so dass beispielsweise Perreys Sternbildersagen für die eigenständige Erarbeitung von Sternsagen notwendig bleiben.

491 Analog zu Wagenscheins Text „Die beiden Monde“ von 1979.

492 Aristoteles schildert das gleichmässige Steigen und Sinken des Polarsterns bereits über 100 Jahre vorher, daher ist davon auszugehen, dass Eratosthenes dieses Phänomen ebenfalls kannte: „Wenn man den Polarstern anschaut, der ja als einziger die ganze Nacht unverrückbar an derselben Stelle bleibt, sagen wir: von Alexandria aus, und fährt nun immer auf ihn zu, über Zypern, und wandert dann in unseren ‚mitternächtlichen‟ Gegenden weiter, dann steigt er merklich und langsam höher. Und wenn man über Skandinavien auf das arktische Packeis vordränge, was die Griechen noch nicht konnten, dann würde man eines Tages ihn ‚ob den Köpffen‟ sehen, im Zenit. […] Entscheidend ist nicht das Aufsteigen überhaupt, sondern das gleichmässige Steigen im Masse unseres Schreitens. […] Der Polarstern […] steigt bei jeder Tagesreise um dasselbe Stück. […] Eratosthenes benutzt dasselbe an der Sonne statt dem Stern […].“ (Wagenschein 1995, S. 313. Hervorhebung im Original. Die eingebetteten Zitate stammen aus einer Übersetzung von Aristoteles durch Kepler. Im letzten Satz sind zwei eckige Klammern entfernt worden. Vgl. ebd.)

493 Eine ausführliche und humorvolle Diskussion der Messmethode des Eratosthenes stammt von Klaus Kohl:

http://www.martin-wagenschein.de/K-Kohl/Eratosth.htm (27.4.2009)