Teil I Lehrkunstdidaktik und Dramaturgie
3.2 II. Die Arbeitsfelder der Dramaturgie
1. Inhalt
Dramaturgisch gestalteter Unterricht, z. B. als Lehrstück, folgt einer im zweifachen Sinn handlungsorientierten Didaktik: Zum einen liegen im konventionellen Verständnis ‚hand-lungsorientierte Anteile„ vor und verlangen im Werkschaffen verdichtete hand‚hand-lungsorientierte Zieltätigkeiten, zum anderen wird aber der jeweilig zu erschliessende Inhalt in ein ihm abgelesenes ‚erschliessendes Gesamtgeschehen„, die Gesamthandlung, übersetzt. Aus der in-haltsabhängigen Gesamthandlung werden die Methoden für den Unterricht abgelesen.
Bei der dramaturgischen Bearbeitung eines bedeutenden Unterrichtsthemas wird dessen Inhalt auf seinen sinnstiftenden und kategorial sich erschliessenden Bildungsgehalt ausgerichtet.
Von einem exemplarischen Gegenstand aus wird der Gehalt in seiner möglichst authentischen Umgebung als Folge zusammenhängender, gemeinsamer und individueller Unterrichtstätig-keiten als lebendige Handlung in der Weite und bis in die Tiefendimensionen durchgestaltet.
Ich leite drei Regeln zur Dramaturgie des Lehrstückunterrichts aus diesen Betrachtungen ab:
II.1.1. Prozesse ablesen: Vertiefe dich in das Werden deines Gegenstandes und lies daran die Prozesse ab, die er durchlaufen hat.
II.1.2.In Handlung verwandeln: Übersetze die kulturellen und kulturgeschichtlichen Pro-zesse und Gegenstände in lebendige Handlung, Teilhandlungen und Tätigkeiten, die in einem Werk abgeschlossen werden.
II.1.3. Erkenntnisse reifen lassen: Berücksichtige auch die Entwicklungen, die der Mensch an dem Gegenstand durchlaufen hat, lass die Erkenntnisse aus der Handlung und den Tiefen-dimensionen reifen.
2. Aufbau
Dramaturgisch gestalteter Unterricht basiert auf Unterrichts-Einheiten, in denen ein Lehr-Gegenstand durch intensive Auseinandersetzung und strenge Reduktion auf die ihm wesentlichen Züge konzentriert und entlang seiner Geschichte in eine Folge von Handlungen rückübersetzt wurde. Die Handlungsteile hängen zusammen und sind organisch gegliedert.
Die Unterrichtseinheiten können unterschiedlich gebaut sein, weisen jedoch immer eine erschliessende Exposition auf und kreisen in der Regel thematisch um zwei sich wechselseitig dynamisierende Zentren. Im Lauf des Unterrichts tauchen Wendepunkte auf, an denen der Lauf der Handlung gefördert oder gehemmt wird. Von Anfang an sind die Zielmotive erkennbar, nach dem Höhepunkt schliesst eine Phase des Werkschaffens und der Präsentation die Handlung ab.
Ich leite drei Regeln zur Dramaturgie des Lehrstückunterrichts aus diesen Betrachtungen ab:
II.2.1. Als Ganzes, nur Wesentliches: Entwirf eine Unterrichtseinheit als Ganzes und lasse alles Unwesentliche weg. Schaffe einen angemessenen zeitlichen Rahmen.
II.2.2. Gehalt sichtbar exponieren: Exponiere die Handlung so, dass der Gegenstand (z. B.
durch eine Person) in Bewegung gesetzt und der zu erschliessende Gehalt von Beginn an sichtbar wird. Die Handlung bedarf eines lösenden und klärenden Abschlusses.
II.2.3. Handlung bewegt halten: Gliedere die Handlung organisch und bedenke die span-nungsabhängigen Wendepunkte an den jeweiligen Grenzen zwischen den einzelnen Teilen.
Die Handlung soll in Bewegung bleiben.
3. Personen
Im dramaturgisch gestalteten Unterricht sind neben Lehrenden und Lernenden weitere Personengruppen beteiligt. Im Hintergrund steht etwa der Autor, der mit dem Lehrer oder der Lehrerin identisch sein kann. Im Unterricht können historische Personen als modellhafte Leit- und Hauptpersonen in Erscheinung treten. Sie bilden mit dem Phänomen / Gebilde / Konzept, dem inhaltlichen Zentrum des Lehrstückes, eine bewegende und bewegte Grundstruktur. Alle Schülerinnen und Schüler haben die Hauptrolle und treten in Phasen der Aktion als Mitspie-lende oder als Zuschauer in Erscheinung und bilden mit dem Phänomen ebenfalls eine bewe-gende und bewegte Struktur. Lehrstücke im Besonderen sind in dem Sinn improvisations-offen, als sie es den Mitspielenden erlauben, eigene Impulse zu setzen, die die Handlung phasenweise verändern können. Lehrstücke sind Mitspielstücke.
Ich leite zwei Regeln zur Dramaturgie des Lehrstückunterrichts aus diesen Betrachtungen ab:
II.3.1. Phänomen in Bewegung setzen: Wähle ein einfaches, handhabbares und komplexes zentrales Phänomen / Gebilde / Konzept, das mit den Schülerinnen und Schülern in einem spannungsgeladenen Verhältnis steht. Eine in gleicher Position befindliche (historisch ver-briefte) Hauptperson kann im Gegenpol als Modell dienen und das Phänomen in Bewegung versetzen.
II.3.2. Identifikations ermöglichen: Schaffe Identifikationsmöglichkeiten mit dem Phäno-men oder mit der mit dem PhänoPhäno-men massgeblich verbundenen Hauptperson.
4. Sprache
Im dramaturgisch gestalteten Unterricht hat der über verschiedene Medien stattfindende sprachliche Austausch zwischen den Lernenden untereinander, aber auch zwischen den Lernenden und den Lehrenden eine zentrale Bedeutung. Da an einem gegenständlichen Phänomen und oft mit einem historischen Begleiter gelernt wird, spielt auch der Austausch mit diesen beiden dramaturgisch-funktionalen Elementen eine wichtige Rolle. Er kann in verschiedenen Sprachformen realisiert werden und veräusserlicht die zuvor verinnerlichten, erfahrenen und erschlossenen Gehalte. Die Schülerinnen und Schüler können zu Äusserungen angereizt werden, indem sie in die dramatische Handlung verwickelt werden. Dramaturgisch gestalteter Unterricht ist Gespräch in Handlungen.
Ich leite eine Regel zur Dramaturgie des Lehrstückunterrichts aus diesen Betrachtungen ab:
II.4.1. Alle in Handlung verwickeln: Verwickle die Schülerinnen und Schüler in eine Hand-lung, um ihre Sprache hervorzulocken.
5. Inszenierung
Für die Dramaturgie des Lehrstückunterrichts sollen in direktem Rückgriff auf Aristoteles‟ ur-sprünglichen Begriff opsis unter der Bezeichnung ‚Inszenierung‟ jene Aspekte der Lernum-gebung verstanden werden, die authentisch und ästhetisch und somit anregend gewählt bzw.
gestaltet sind und der Anschaulichkeit sowie der Sinnlichkeit dienen. Dies beginnt bei der Vergegenwärtigung der lokalen Bedingungen oder der Wahl des Lernortes bzw. des Bühnenbildes und endet bei den Entscheidungen über die während des Unterrichts einge-setzten Hilfsmittel, Requisiten und Darstellungen. Wo immer möglich, ist Authentizität zu wahren. Ästhetisch gestaltete, anregend gewählte Lernumgebungen, Materialen oder Zwi-schen- und Endprodukte zeigen Schaffenskraft und die Zuneigung zum sowie das Interesse am Gegenstand. Bildhafte Verdeutlichungen, theatralische Gesten, Zuspitzungen, erzeugte Spannung oder witzige Einfälle zeigen Ernsthaftigkeit im Detail.
Ich leite zwei Regeln zur Dramaturgie des Lehrstückunterrichts aus diesen Betrachtungen ab:
II.5.1. Gegebenheiten bedenken: Bedenke die Bedingungen der lokalen Realisierung gründ-lich und wahre bei Entscheidungen über Hilfsmittel und Lernorte grösstmöggründ-liche Authenti-zität.
II.5.2. Ästhetisch handeln: Zeige ästhetisch motivierte Schaffenskraft aufgrund deiner Zu-neigung zum Gegenstand und deinem Interesse an ihm. Sei ernsthaft im Detail: Verdeutliche bildhaft, gestikuliere theatralisch, spitze dramatisch zu, erzeuge Spannung, folge witzigen Einfällen.
6. Melodik / Melodieren
In Bezug auf die Dramaturgie des Lehrstückunterrichts sollen in dieser Arbeit unter ‚Melodik„
all jene Handlungen und Unterrichtsteile verstanden werden, deren Funktion es ist, zu eröffnen, zu rhythmisieren, zu begleiten, hervorzuheben, zu segmentieren oder abzuschlies-sen. Insbesondere die vorblickende Eröffnung und der rückbesinnende, als Höhepunkt gestal-tete Schluss sind zu bedenken. Die Melodik kann Handlungsteile fordern. Sie ist nicht zwin-gend an musikalische Impulse gebunden, kann aber durch Medien aller Art (z. B. Sprache, Musik, Bilder, nonverbale Rituale) verdeutlicht werden.
‚Melodieren„ bezeichnet im Rahmen dieser Arbeit das von allen Beteiligten abhängige und teilweise spontane Variieren des Verlaufs der Unterrichtseinheit. Die meisten Handlungen und Handlungsteile bieten Raum für Einfälle und Improvisationen. Generell ist ein hohes Mass an Sachkundigkeit vonnöten, um angemessen auf Unerwartetes reagieren zu können.
Bei Lehrstücken findet das Variieren innerhalb der Grenzen der Vorlage statt. Es gibt spezi-fische Elemente, die für den Erhalt der Komposition als Ganzes unverzichtbar sind, daher ist es notwendig, die am Gegenstand ausgerichtete Handlungslinie als Ganze zu erkennen und ihr einfühlsam und streng zu folgen.
Ich leite drei Regeln zur Dramaturgie des Lehrstückunterrichts aus diesen Betrachtungen ab:
II.6.1. Strukturierend gestalten: Sorge für eine wahrnehmbare Struktur des Unterrichts.
Gestalte insbesondere den ein- und ausleitenden Rahmen: die Eröffnung und den Schluss.
II.6.2. Sachkundig und offen sein: Sei sachkundig, damit du improvisationsoffen sein kannst und angemessen auf Unerwartetes reagierst.
II.6.3. Einfühlsam variieren: Folge der Vorlage bzw. der in der Komposition aufgezeigten Handlungslinie streng und verleihe dann dem Unterricht einfühlsam und einfallsreich deinen individuellen Ausdruck.
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