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Teil I Lehrkunstdidaktik und Dramaturgie

2.3 Der Sinn in Dramaturgie und Didaktik: Bildung

2.3.1 Hausmann

Werk ihre bildende Wirkung sichert.“191 Er hat sich aber nach Hausmanns Ansicht „den Zugang zur vollen Einsicht dieses Kriteriums“ verstellt, indem er sich lediglich auf die Produktion eines bündigen Werkes beschränkt.192 Er erkennt an dieser Stelle nicht, dass auch

„vorgegeben Vollendetem, und zwar kraft seiner Vollendetheit“, die Möglichkeit innewohnt,

„bildungswirksam erfahren zu werden: so der bewiesenen Erkenntnis, der geglückten künst-lerischen Leistung, der gelungenen Tat usw.“ Hausmann unterstreicht, dass der darin liegende

„appellative Charakter […], der zu bildender Aneignung anreizt“, didaktisch „abgefragt oder mitgeteilt“ werden könne und auch dann wirke, „wenn er nicht selbsttätig vorangetragen, sondern nur aktiv nach- oder mitvollzogen werden kann.“

Nun begibt sich Hausmann auf die Suche nach Sinn und Absicht des Dramas, indem er Herder, Goethe, Novalis, Otto Ludwig und Dilthey zu Rate zieht. Dabei will er an ihren theo-retischen Überlegungen jene Momente abfragen, „die durch geformte Gehalte oder gehalt-bedingte Formen Bildungsprozesse auszulösen imstande sind.“

Herder, den Hausmann in chronologischer Ordnung als ersten betrachtet, orientierte sich massgeblich an Aristoteles und betonte, „dass alle Dichtung im Besonderen das Allgemeine anschaubar zu machen habe.“ Er behauptete, dass das Drama einen „Aufruf aller geistigen Kräfte“ erziele und im Subjekt „Aufklärung und Bildung“ bewirke. Bestätigung findet Herder in der Lehre von der Katharsis, dem aristotelischen Sinnziel des Dramas. Der Dichter wirke so, dass er zum Zweck der Läuterung und Ordnung „die Geheimnisse des Lebens“ einer

„vollständigen, Grösse habenden Handlung“ auslege und die Gefühle und das Denken „ins Heiligtum des Verstandes und der Vernunft“193 lenke, „die doch auf nichts als den inneren Zusammenhang hinausgehen.“ Erst durch die dramatische Interpretation der grossen Zusam-menhänge von Begebenheiten würden sie „eindringlich und lehrreich.“ Herders Meinung nach wirke das völlig unentbehrliche Drama positiv auf seine Bildungsidee der „Beförderung der Humanität.“

Goethe folgt einer anderen Deutung der Katharsislehre und fordert von allen Dramen und poetischen Werken, dass sie zu einer „aussöhnenden Abrundung“194 und zum Ausgleich erregter Leidenschaften führen sollten. Er ist nicht der Ansicht, dass das Drama erzieherisch auf die Moral der Zuschauer wirke, er spricht ihm aber eine ästhetische und allgemeine Bildungswirkung zu. Dabei gilt für ihn die Devise: „Die Kunst ist lange bildend, eh‟ sie schön ist.“ Hausmann führt im Weitergang Novalis als Gewährsperson aus der Romantik an, einer Epoche, in der die Wirkung des Dramas in erster Linie als steigernde oder mindernde Verwandlung195 aufgefasst wird. In der Nachromantik erkennt dann O. Ludwig den Sinn der Katharsis als „Reintegration aller menschlichen Kräfte“196 und weist auf die Dramen von William Shakespeare hin, der „für kurze Zeit mit der vollen Kraft seines Zaubers die ursprüngliche Ganzheit des Menschen“197 wiederherstelle.

191 Diese und alle weiteren Zitate Hausmann 1959, S. 116.

192 Vgl. Reichwein 1993, S. 41f: „Dies ist ja von allem Beginn der Kindeserziehung an sein Ziel, dem Kind in den Stand tätigen Selbstseins zu verhelfen und ein Bewusstsein seines Könnens in ihm zu wecken.“ Später schreibt er, dass „ein räumlich ferner, aber doch wichtiger Gegenstand durch werkliche Gestaltung dem Kind seelisch nahegebracht werden kann.“ (S. 52)

193 Dieses und die nächsten drei Zitate: Herder zitiert nach Hausmann 1959, S. 116f.

194 Dieses und das nächste Zitat: Goethe zitiert nach ebd., S. 118.

195 Hausmann zitiert Novalis (1959, S. 118): „Der Inhalt des Dramas ist ein Werden und Vergehen. Es enthält die Darstellung der Entstehung einer organischen Gestalt aus dem Flüssigen – einer wohlgegliederten Begebenheit aus Zufall. – Es enthält die Darstellung einer Auflösung – der Vergehung einer organischen Gestalt in Zufall. Es kann beides zugleich enthalten und dann ist es ein vollständiges Drama.“

196 Hausmann 1959, S. 118.

197 Otto Ludwig, zitiert nach Hausmann 1959, S. 119.

Im 19. Jahrhundert setzt schliesslich Dilthey neu an und bezeichnet Katharsis als ‚Befreiung des Gemüts‟. Dilthey integriert dabei sogar Spannung und Befreiung des Gemütes als gleich-wertige, wesentliche und wechselwirkende Teile des im Weiteren einheitlichen Wesens des Dramas, stellt aber auch fest, dass beide, Spannung und Befreiung, „nur Abstraktionen seiner wahren Wirkung sind.“198 Er erläutert die bereichernde Wirkung des Dramas analog zu Goethe: „Indem ich einer dramatischen Handlung ... folge, ... muss ich mich zu einem analo-gen Verhalten erhöhen und steigern,“ und er beschreibt, dass ein klassisches Werk der drama-tischen Kunst bewirke, dass sich „alle Partien unseres Seelenlebens gleichmässig und voll-ständig mit Befriedigung erfüllen und der Seele das Bewusstsein eines unergründlichen, weil aus vielen Quellen fliessenden Reichtums mitteilen.“199 Hausmann folgert daraus mit beson-derem Blick auf Dilthey, „die wahre Wirkung und der tiefere Sinn des Dramas dürfe darin erblickt werden, dass es den Reichtum des Wesens, das Wachstum des geistigen Gehaltes, kurz: die Bildung des Menschen erhöht.“ In seinem sechsten Leitsatz formuliert er:

Im dramatischen Bildungsgeschehen wird der Gestaltenreichtum der Welt sichtbar, ihre Wider-sprüchlichkeit wird sinnbildlich offenbar und an Hand eines einzelnen Falles zu einer Lösung gebracht. Dieses Ereignis spricht den inneren Sinn an und drängt ihn von einem bestimmten inneren Blickpunkt aus perspektivisch zu einem tieferen Erfassen der Welt. Es macht ihm die Urphänomene fasslich und lässt ihn durch den Wechsel und die Reziprozität der Perspektiven auch noch der Hintergründe des Fasslichen infinitesimal inne werden.

(6. Leitsatz)200

Hausmann fasst zusammen, dass es hinsichtlich des Wesens und der Wirkung zwischen Drama und Bildung klare Gemeinsamkeiten gebe, die es also erlaubten, „die Bildung als Drama zu verstehen“201 (vgl. 1. Leitsatz). Er schliesst mit einem Rückblick auf das Wesen des Dramas, das zur „Lösung eines dramatischen Problems in der ‚Integration‟“ führe, auf dem wiederum die „Lösung eines dramatischen Konflikts in der ‚Katastrophe‟“ beruhe. Diesen auch aus der Analyse des Inhalts (vgl. 2.4.1) erwachsenen Gedanken hat er in seinem fünften Leitsatz festgehalten.

[…] Die äussere Handlung schliesst mit dem Vollzug einer Tat oder dem Abschluss eines Werkes, der innere Vorgang mit einer das Problem aufhebenden Integration seiner Momente. Die Reifung der Situation und der Substanz bewirkt eine Steigerung der Person, d. h. Bildung.

(5. Leitsatz)202

198 Dilthey, zitiert nach: Hausmann 1959, S. 119.

199 Dilthey, zitiert nach: ebd., S. 120, Hausmann-Zitat ebd.

200 Ebd., S. 145f. Hausmann spricht 1963 von einem „Perspektivismus“, der einen „Augenpunkt“ und einen

„natürlichen Gesichtskreis“ verlangt. S. 157.

201 Hausmann 1959, S. 120.

202 Ebd., S. 145. Hausmann schreibt später, die Abläufe im Inneren aller Beteiligten seien der „eigentlich bil-dende Vorgang“. (1963, 158)