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Teil II Drei Lehrstücke

1.1 Vorüberlegungen

1.1.2 Das Thema und seine Bedeutung im Geographieunterricht

1.1.2.1 Kategoriale Bildung (Sinn)

In Kapitel 2.3.4 des ersten Teils dieser Arbeit sind Bestimmungen vorgenommen worden, durch die die Dimensionen des Sinns, der Bildungswirkung von Unterricht, geklärt werden sollten. Aus der Diskussion über die Gedanken Hausmanns, Schulzes und Klafkis zu diesem Themenkomplex wurden vier Aussagen gemacht, von denen zwei Aussagen Grundlage zur bildungstheoretischen Analyse von Unterrichtsinhalten sein können. Zusätzlich zu diesen zwei Aussagen soll Wolfgang Klafkis Theorie der kategorialen Bildung betrachtet werden. In den dritten Kapiteln dieses zweiten Teils wird der Sinn im Rahmen der erweiterten Drama-turgieinterpretation noch einmal genauer betrachtet. Dort geht es allerdings um die jeweilige Inszenierung des entsprechenden Lehrstücks, hier hingegen um die vorklärende Betrachtung des möglichen Bildungsgehaltes des Themas auf der Basis der Lehridee.

1. Um Bildung zu ermöglichen, muss der Bezug zur erfahrbaren Wirklichkeit der Lernenden offengelegt, exemplarisch entfaltet und bis zur Berührung mit dem Fundamentalen und den

407 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der von 275 Institutionen und Wissenschaftlern (darunter alle neun deutschen Raumfahrer) unterzeichnete offene Brief an Bund und Länder vom 12. November 2009:

„Warum die Astronomie in drei Bundesländern seit 1959 Pflichtfach ist und warum sie es bundesweit werden sollte.“ Darin wird u. a. empfohlen, Astronomie generell an allen allgemeinbildenden Schulen ab der Grund-schule zu stärken, bundesweit zwei Jahreslektionen Astronomieunterricht im letzten Schuljahr der Mittelstufe für alle Lernenden einzuführen und flächendeckend Astronomielehrer auszubilden: „Astronomie und Astronomie-geschichte sind KulturAstronomie-geschichte.“

Grundkräften des geistigen Lebens geführt werden. Dabei werden das Allgemeine im Besonderen und das Besondere im Allgemeinen anschaubar gemacht. Ein Unterricht zur Himmelskunde hat einen offenkundigen Bezug zur Wirklichkeit und ist darin sinnlich erfahrbar. Da die Beobachtung der Veränderungen am Nachthimmel zunächst keine hohen Abstraktionsfähigkeiten erfordert, ist das Thema grundsätzlich für alle Lerngruppen geeignet.

Das Thema soll exemplarisch entfaltet werden, nicht enzyklopädisch: Bei dem Unterrichts-vorhaben soll zwar wohl der gesamte Himmel erfasst, aber nicht jeder Stern benannt und jedes Sternbild erklärt werden. Auf einem höheren kognitiven Niveau erlaubt der bewusst gemachte Standort, die halbe Erde gedanklich zu erschliessen und die ganze Erde zu umrun-den. Dies stiftet grundlegende Orientierung in der Wirklichkeit der Lernenumrun-den. Schliesslich wird das Allgemeingut der Zeitmessung, der in allen Kulturen an den Sternbewegungen abgelesene Kalender und mit seinen untergeordneten Einheiten Tag, Minute oder auch Monat erfahrbar. Und wo bietet der Unterricht die Berührung mit dem Fundamentalen und den Grundkräften des geistigen Lebens? Zum einen können wir im Rahmen der Himmelsbeobach-tung von der scheinbaren Himmelsbewegung auf die runde Form der Erde schliessen, zum anderen drängt sich aufgrund der Bewegung der Gestirne die Vorstellung, ja nahezu die sinnliche Erfahrung einer haltlos schwebenden Erde auf. Das Weltgefühl des Getragenseins auf dem Boden der Erde ist erschüttert, das geistige Wachstum der Menschheit an diesen Entdeckungen kann mitvollzogen und nachempfunden werden. Die Beobachtung der Bewe-gungen der Gestirne über den Himmel begleitet die Hochkulturen Ägyptens, Babylons, der Induskulturen und Chinas und hat im Verlauf der Geschichte zur Entwicklung komplexerer mathematischer Systeme geführt. Die Beobachtung des Himmels ist ein kulturauthentischer Einstieg in das abstrahierende Denken.

2. Das Schaffen von (individuellen und gemeinschaftlichen) Werken, aber auch die Beschäftigung mit grossem Geschaffenem (weltbewegende Erfindungen, Entdeckungen und Erkenntnisse) teilt den kulturellen Reichtum mit. Im Unterricht sollen alle Lernenden eine eigene drehbare Sternkarte herstellen. Sie hat für die entsprechende Polsternhöhe, also die geographische Breite, eine näherungsweise vergleichbare Gültigkeit zu den kaufbaren Versio-nen (z. B. Kosmos oder Sirius), weist aber eiVersio-nen umgekehrten Aufbau auf: Während bei der kaufbaren Version der Himmel steht und der Horizont samt eigenem Standort gedreht wird ist es bei der selbstgemachten Sternkarte umgekehrt: Die Erde steht, der Himmel dreht. Im eigenen Schaffen erklärt sich die Funktionsweise der Sternkarte mit den in ihr verborgenen kulturellen Schätzen. Kalender und Uhr und Umhimmelssphäre sind hineingebaut und jederzeit wieder aus ihr heraus zu holen. Im abschliessenden Vergleich mit der kaufbaren offenbaren sich viele Gemeinsamkeiten, besonders aber auch wesentliche weltanschauliche Unterschiede.

3. Klafki formuliert: „Bildung ist [...] ‚Kategoriale Bildung‟ in der Doppelbedeutung, dass sich der Lernende durch letztlich selbsttätige Aneignung Wirklichkeit erschlossen hat und dass er sich in eben diesem Prozess selbst für das Verstehen und die Gestaltung von Wirklichkeit, befähigt hat.“408 In der geplanten Unterrichtseinheit zur Himmelskunde soll das selbsttätige Erschliessen eines Stückes Wirklichkeit im Zentrum stehen. Manche Inhalte werden dennoch von der Lehrkraft vorgestellt oder angeleitet; aber das Herstellen und Bedienen der eigenen Sternkarte obliegt vollständig den Lernenden. In diesem Aneignungs- und Herstellungsprozess wird das vorher Geschaute und Erfahrene durch Übersetzung auf ein modellhaftes materielles Produkt greifbar gemacht. In diesem Prozess kann Wirklichkeit verstanden werden. Die Fähigkeit, Wirklichkeit auch zu gestalten, steht hier gegenüber der Fähigkeit Wirklichkeit zu verstehen im Hintergrund. Dies liegt in erster Linie sicher daran,

408 Klafki 2003, S.13 f. Hervorhebung im Original, MJ

dass der Gegenstand im Gegensatz zu den Schlüsselproblemen der modernen Welt entscheidungsentlastet409 ist und die erschliessbaren Kategorien Uhr, Kalender und Erdform ein hohes Mass kultureller Reife erlangt haben.

4. Das Lehrstück vermittelt ein vorgalileisches, geo- bzw. egozentrisches Weltbild, Koperni-kus spielt noch keine Rolle. Dass eine solche Schwerpunktsetzung im Rahmen schulischer Bildung geschehen darf, lässt sich einfach begründen: Die zu erschliessenden Kategorien sind mehrere tausend Jahre lang gewachsen und entsprechen einer erfahrbaren Wirklichkeit aus der bedeutende kulturelle Leistungen erwachsen sind, ohne dass es dabei von inhaltlicher Relevanz gewesen wäre, ob die Sonne um die Erde kreist oder jene um diese.410 Das hier geschilderte Vorhaben bietet im Gegenteil eine Gelegenheit, mit unbewaffnetem Auge und ohne technische Hilfsmittel ein bodenständiges Weltbild zu vermitteln, das im Rahmen eines nachfolgenden Unterrichtes ganz im Sinne Galileis, Kopernikus‟ und Keplers (und im wahrsten Sinne des Wortes) gewendet werden kann.

5. „So ‚gibt es‟ also eine zur Physik komplementäre Natur-Zuwendung, damit auch eine Himmels-Zuwendung, die keine Instrumente dazwischenkommen lässt und keiner Einschrän-kung unseres Wesens bedarf, die im Freien mit freiem Auge aufblickt, unmittelbar; nicht scharf, nicht zerstückelnd; bereit, eine Erkenntnis zu empfangen, ‚welche die ungetheilten Kräfte des Menschen fordert‟ [W. v.Humboldt, MJ], nicht eine ‚Wissenschaft‟ von der Natur, sondern eine Verständigung mit ihr.“411 Die Lernenden erkennen, dass sie mit unbewaffnetem Auge zu Erkenntnis gelangen können. Die direkte, freie Begegnung stiftet mehr Nähe als die optische Fernrohr-Nähe. Es öffnet die Augen für das Lichtermeer des Nachthimmels ausser-halb der lichtverschmutzten und verbauten Städte. Das Lehrstück zur Himmelskunde leistet einen wesentlichen Beitrag zur Wohnlichkeit unter dem heimatlichen Nachthimmel. Es lenkt mit seiner gleich berechtigenden Haltung zur Literatur den Blick auf den „Himmel der Dichter“. Der Himmel wird zunehmend vertrauter und durch die ihn füllenden Geschichten lebendiger: „Es ist die Wirklichkeit, die uns sagen lässt: ‚Hier‟, auf dem ‚Erdreich unter dem Himmelszelt‟ ‚wohnen‟ wir. […] ‚Erde‟ und ‚Himmel‟ werden hier […] in ihrer ganzen Fülle mit allen seelischen Organen wahrgenommen. Dabei distanzieren wir uns nicht, wir identifizieren uns. Eine Art der Zuwendung, ja der Vereinigung ist das […].“412 Das von zahllosen Satelliten umschwirrte „Raumschiff Erde“ in der grenzenlosen, kelvinkalten Weite des Universums wird zum lebensfreundlichen Zentrum des Daseins, überspannt von einem kulturell gesättigten, funkelnden und inspirierenden Himmelszelt.

Im Lehrstück werden mehrere Kategorien erschlossen, mehrere fundamentale Erkenntnisse werden berührt. In einer Übersicht können die Bildungsaspekte wie folgt dargestellt werden (Tabelle 4):

Die zentral bildende Kategorie im Lehrstück ist die drehbare Sternkarte, die von den Schülerinnen und Schülern im Prozess doppelseitiger Erschliessung von Mensch und Welt entstehen soll. Die drehbare Sternkarte enthält als Kategorien zweiter Ordnung den Kalender und die Einheiten der Zeitmessung, das Gradnetz und die Erfahrung der Kugelgestalt der Erde. Das Lehrstück führt ein in die elementare Astronomie und Astrographie. Alle Kate-gorien werden im Verlauf der einen Sternnacht erschlossen und sind im Produkt jederzeit wieder abrufbar.

409 Klafki 2003, S.25.

410 Wagenschein begründet in „Die beiden Monde“ mit Heisenberg sogar, dass die Erde aus physikalischer Sicht als ruhend aufgefasst werden kann. Vgl.: Wagenschein 2003, S. 161.

411 Ebd., S. 162.

412 Ebd., S. 163 f.

Fundamentale Erkenntnisse

Grundfragen und Grundlagen von Mensch und Welt

Die Erde schwebt…

Beobachtung ermöglicht naturwissenschaftliche Erkenntnis Der Himmel der Dichter steht neben dem Himmel der Physiker Erd-Heimat

Kategorial-bildung

Bildung ist doppelseitige Erschliessung von Mensch und Welt

Die drehbare Sternkarte

Der Kalender und Einheiten der Zeitmessung

Das Gradnetz mit Längen- und Breitengraden als Orientierungshilfe auf der Erde Die Erd-Kugel

Den vier historischen Bildungs-theorien zugeordnete Teilaspekte

Objektive Bildung

Sternbilder Grösse der Erde Himmelsrichtungen Zeitmasse

Winkelverhältnisse

Klassische Bildung

Eratosthenes, der Universalgelehrte

Funktionale Bildung

Geschichten als Merkhilfen Perspektiven-wechsel

Methodische Bildung

beobachten projizierend zeichnen messen erzählen orientieren Himmelsrichtungen bestimmen

Materiale Bildung Formale Bildung

Tabelle 4: Bildungsaspekte in Himmelsuhr und Erdglobus nach Klafki/Berg

Auf der inhaltsbezogenen, materialen Seite lernen die Schülerinnen und Schüler einen Korpus an Sternbildern und Sternsagen kennen, sie kennen die Himmelsrichtungen und Zeitmasse sowie die am Himmel ablesbaren und auf die Erde übertragbaren Winkelverhältnisse und die zu ihnen gehörigen Orientierungspunkte und -linien (Zenit, Pol, Äquator, lokale geogra-phische Breite). Das Lehrstück hat seine grösste klassische Prägnanz und exemplarische Strahlkraft in der Person des griechisch-ägyptischen Astronomen, Geographen, Mathemati-kers und Literaten Eratosthenes von Kyrene, in dem alle Aspekte verbunden sind.

Aufseiten der formalen, subjektbezogenen Bildungsaspekte lernen die Schülerinnen und Schüler mit den Sternsagen und Sternsagenkomplexen, Geschichten als Merk- und Orientie-rungshilfen zu gebrauchen. Durch das Denken um den Globus werden sie in die Lage ver-setzt, andere räumliche Perpektiven einzunehmen, ihre eigene Perspektive zu wechseln. Sie erlernen auf der Seite des Methodischen das genaue Beobachten, können projizierend zeich-nen, messen, üben das Erzählen von Geschichten, lernen sich auf der Erde und am Himmel zu orientieren und die Himmelsrichtungen zu bestimmen.

Im Bereich der fundamental und elementar bildenden Kategorien gelangen die Schülerinnen und Schüler zur Erkenntnis, dass die Erde schwebt und schweben muss. Gleichzeitig vertieft sich ihr Heimatgefühl, wenn der Himmel mit Sagen gefüllt und egozentrisch wahrgenommen wird. Der Himmel der Naturwissenschaft und jener der Poeten und Dichter bestehen integriert nebeneinander. Im Lehrstück wird am Beispiel der Astronomie deutlich, wie in der Natur-wissenschaft grundlegende Erkenntnisse auf der Basis von einfachen Beobachtungen ohne Hilfsmittel gewonnen werden können. Die Welt kann sinnlich erfahren und gedanklich durch-drungen werden.