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Teil I Lehrkunstdidaktik und Dramaturgie

2.4 Die sechs Arbeitsfelder der Dramaturgie

2.4.2 Aufbau

2.4.2.3 Diskurs

Im Arbeitsfeld ‚Aufbau„ steht die Frage nach den Bestandteilen der Handlung und ihrer Struk-tur zur Debatte. Die ungleich intensive Bearbeitung des Aufbaus bei Schulze und Hausmann in diesem Kapitel verdeutlicht, wie sehr sich die Herangehensweisen der beiden Autoren unterscheiden. Schulzes Ansatz – das Betrachten der Theaterkunst im Vergleich zur Lehr-kunst – bleibt mit dem thematisch bestimmten Lehrstück auf der Ebene des konkreten und greifbaren Einzelwerkes, während Hausmann auf dem Weg von der theoretischen Drama-turgie zur Didaktik sehr viel weiter in die geschichtliche Tiefe gehen muss. Beide themati-sieren die zwei Unterthemen innerhalb dieses Arbeitsfeldes. Hausmann entfaltet detailliert die konzeptionelle Entwicklung des Einheitsgedankens von Aristoteles bis Otto Ludwig, Schulze hingegen betrachtet die sich im Unterricht oder auf der Bühne vor allen theoretischen Überlegungen manifestierende Einheit, die darin bestehenden Unterschiede und die daraus für den Unterricht folgenden Handlungsmöglichkeiten. Analog zu Hausmann kommt bei ihm die Diskussion über den Aspekt der Entfaltung der Handlung nach derjenigen über die Einheit.

(1) Auf die Frage nach den Bestandteilen der Handlung begibt man sich in einen thematischen Grenzbereich zur Handlung, denn auch dort stellt sich die Frage, was eine „gute“ Handlung ausmacht und wie genau sie beschaffen sein muss.315 Aus Hausmanns Darstellung lässt sich ableiten, dass das aristotelische Konzept der Einheiten über die Jahrtausende weitgehend Gültigkeit behalten hat, insbesondere in Bezug auf die Einheit der Handlung. Der gleiche Gedanke hat sich in der Didaktik mit dem Begriff des „Einen“ oder der „Ganzheit“ einge-stellt. Alle von Hausmann angeführten Gewährspersonen aus der Geschichte der Dramaturgie betonen, dass zum Gewinnen oder Erhalten der Einheit besonders die Frage nach der Notwendigkeit, der organischen Integrität und der Verzichtbarkeit gestellt werden muss.316 Unwesentliches, das die Handlungseinheit gefährdet, muss im Vorhinein ausgeschieden

315 Hier sei noch einmal auf den 7. Leitsatz verwiesen, wo der Nexus-Gedanken entfaltet wird. Der bei der Hand-lung thematisierte ‚didaktische Nexus‟ hat die Aufgabe, „die dramatische Entfaltung der didaktischen Situation zu sichern, die Motive des Unterrichtsganges zu entbinden, die äusseren und die inneren Abläufe aus- und durchzugestalten und so aufeinander abzustimmen, dass die sich vorgängig erschliessenden Gehalte zentral wirk-sam werden.“ Der ‚didaktische Nexus‟ hat also Auswirkungen auf die Entfaltung der Handlung (vgl. 2.4.1.3).

316 “Was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar nicht ein Teil des Ganzen.“ Aristoteles 1994, S.29.

den, damit in der Konzentration auf das Wesentliche die Prägnanz, die Fasslichkeit erhöht wird.317 Wagenscheins „Exemplarisches“ oder Flitners „Auswahl des Unentbehrlichen“ unter

„Verdichtung grösserer Zusammenhänge auf das Wesentliche“ zielen in die gleiche Rich-tung.318 Goethe wies darauf hin, dass Konzentration mit einem grossen Mass an Arbeit einhergeht: Sie erfordere „die Kräfte eines poetischen Riesen und ist schwerer als man denkt.“319

Otto Ludwigs Forderung zum Thema der Einheit, das dramatische Kunstwerk solle „alle Bedingungen und alle in innigster Durchdringung“ in sich haben, weist in erster Linie auf die enge (organische) Verflechtung der Teile der Einheit hin und führt letztlich zu Hausmanns Forderung, dass sich die Gehalte bereits vorgängig erschliessen sollen. Das ist nur natürlich nur dann möglich, wenn sie von Anfang an vorhanden und offengelegt sind. Die inhaltliche Einheit eines thematischen Ganzen kann und soll derart gegliedert sein, dass sich eine zielge-richtete und auseinander hervorgehende Folge zusammengehöriger Tätigkeiten ergibt, die in einem Endzweck münden. Alle inhalts- oder gegenstandsfremden Einwirkungen sollen ent-fernt werden. Schulze thematisiert den Aspekt der Einheit nur indirekt, wenn er darauf hin-weist, dass die (ebenfalls zusammenhängende und also thematisch bündige) Unterrichtsein-heit als Ganze anstelle der Unterrichtsstunde als konzeptionelle Grundlage aufgefasst werden muss.320 Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, verlagert er den Blickwinkel in seinem Text auf die räumliche und zeitliche Einheit, allerdings nicht wie bei Aristoteles auf die Handlung bezogen, sondern auf die Theatersituation: Sie bedingt, dass man als Zuschauer eine gesetzte Zeit lang an einem Ort einem vollständigen Stück Bühnenkunst folgt, was im (Lehrstück-) Unterricht in der Regel nicht der Fall ist, sodass auf die Rahmenbedingungen entsprechend Rücksicht genommen werden muss.

(2) Unter dem Aspekt der Entfaltung thematisiert Hausmann auch die für die Dynamisierung und Motivation der Handlung zentralen dramaturgisch bedeutsamen Momente. Das erste und vielleicht wichtigste Moment in der Entfaltung des dramatischen Geschehens ist die Exposi-tion. Ihre Aufgabe ist, neben dem oben erwähnten ‚vorgängigen Erschliessen der Gehalte„, eine spannungsgeladene Einleitungssituation herzustellen, aus der Impulse hervorgebracht werden, die die Handlung in Schwung bringen und halten. Eine Möglichkeit, dies zu errei-chen, besteht darin, einen Kontrast oder Konflikt darzustellen. Hilfreich für die Ausarbeitung eines solchen Konfliktes kann die Vorstellung einer ellipsoiden Grundstruktur mit zwei Zentren sein (Faraday und die Kerze in Faradays Kerze, Linné und Fuchs in Wildhirts Linnés Wiesenblumen), in der die beiden Zentren dynamisierend interagieren. An den Beispielen kann man erkennen, dass es nicht zwangsläufig ein ‚Konflikt„ sein muss, sondern auch, neu-traler, ein ‚Kontrast„ sein kann. Hausmann formuliert in seinem 3. Leitsatz ergänzend, dass der Unterricht „von Unklarheiten oder Gegensätzen aus in Gang“321 kommen kann und bestätigt so die Möglichkeit einer verwirrenden oder vielleicht auch wundersamen Eröffnung,

317 Vgl. ebenfalls den 7. Leitsatz von Hausmann (Hausmann 1959, S. 146), in dem er fordert, dass sich der Un-terricht z. B. „auf das Wesentliche konzentriert, nach dem Fasslichen fahndet, seine prägnanten Momente he-rausfindet“.

318 Ebd., S. 124.

319 Ebd., S. 127.

320 Seine Aussage, es sei „keineswegs sinnvoll und notwendig, jede einzelne Stunde wie ein kleines Drama aufzubauen“ (Schulze 1995, S. 378), betont, dass eine Dramaturgie des Unterrichts oder eine Lehrstückdrama-turgie nicht als Fahrplan für den Aufbau einer Lektion missverstanden werden soll. Hausmann hingegen betont,

„die didaktische Situation […] bestimmt das Gesetz der ‚Stunde‟“ (Hausmann 1959, S. 137f). Er scheint an das dramaturgische Konzipieren von Einzellektionen, Einzelstunden zu denken.

321 Hausmann 1959, S. 145.

welche eine gewisse Spannung und Motivation hervorrufen.322 Mit Goethes Analogie gespro-chen, bedeutet dies, man muss zuerst „vom Ufer stossen und auf einer gewissen Höhe sein, bevor man mit vollen Segeln gehen kann,“323 allerdings besteht die Warnung vor zu vielem Motivieren.324 Zum Komplex der Spannung und der Dynamisierung gehört auch, dass Unvor-hergesehenes, Überraschungen, Widerstände, Stauungen und Umschläge im Lauf der Hand-lung stattfinden, sie verlangsamen, unterbrechen oder vorantreiben. Aufgrund von Umschlä-gen kann es auch zu Tempowechseln kommen.

Petschs Definition des Dramas könnte analog zu Hausmanns Vorgehen auch wörtlich auf die Lehrkunst übertragen werden: Ein Lehrstück (als Textvorlage) ist „die Darstellung eines be-wegten, unter dauernden Umschlägen zu einem bedeutenden Ziel aufsteigenden Vorgan-ges,“325 wobei die Handlungsumschläge eher im Sinne Schulzes in den wechselnden Unter-richts- oder Lehrstückphasen bestehen: „Phasen der Aktion“326 und „Phasen der Reflektion“

oder „Phasen der Ausarbeitung“. Zu den Themen Spannung und Exposition finden sich bei Schulze leider keine Ausführungen.

Als Ergänzung zu diesem Komplex kann eine weitere Folgerung aus dem 7. Leitsatz von Hausmann aufgenommen werden. Dort mahnt er an, dass alle dramaturgischen Vorarbeiten in erster Linie die Qualität von Planung haben, dort aber nicht stehen bleiben dürfen. Auch und vor allem im praktischen Unterricht muss sich das Dramaturgische wirksam zeigen.

(3) Die Frage nach der Entfaltung, also den Gesetzen der Abfolge der Handlungsteile, wird bei Hausmann weitgehend an Freytag und Petsch diskutiert und fliesst ebenfalls in seine Leitsätze ein. In der Didaktik, wie auch in der Dramaturgie, hat es stets Versuche gegeben, für Unterrichtssequenzen oder Inhalte griffige Regelwerke zu erstellen.327 In grosser Ausführlich-keit stellt Hausmann dar, wie Freytag eine überzeugende und ästhetische Grundstruktur erschlossen hat, die für weite Teile der Dramaturgie Gültigkeit hatte, wenngleich sie später aufgrund bedeutender Ausnahmen (z. B. Shakespeare) erweitert und differenziert werden musste. Die aristotelische Dramenbauweise von Einleitung, Höhepunkt und Lösung mit den dazwischen liegenden Phasen der Steigerung und des Falles wird laut Freytag dynamisiert, wenn eine Handlung und eine Gegenhandlung vorhanden sind. Eine Abweichung vom frey-tagschen Schema zeigt sich allerdings bei der Betrachtung des Höhepunktes bzw. der Lösung.

Sie können im Unterricht näher beieinanderliegen oder sogar zusammenfallen (z. B. im Erkennen des Kerzenkreislaufs in Susanne Wildhirts Faradays Kerze). Ein an den Höhepunkt anschliessendes verarbeitendes Werkschaffen könnte jedoch auch als Phase des Falls, eine Präsentation oder Vorführung auch als Lösung verstanden werden.

Hausmann überträgt nahezu alle Gedanken Freytags auf die Didaktik und gewinnt aus ihnen den grössten Teil seines 8. Leitsatzes. Damit läuft er aber Gefahr, „das dramatische Bildungs-geschehen“328 einem Schematismus zu unterwerfen, der zwar im Gegensatz zu seinen

322 Die Lehrkunstdidaktik kennt viele solcher Eröffnungen, z. B. das Auftreten des Zauberers in Beate Nölles Dreiecksquadrate oder in Susanne Wildhirts Faradays Kerze: „Kerze: Woher – Wohin?“

323 Hausmann 1959, S. 126.

324 Die drei Richtungen, in welche die Motive die Handlung bewegen können (1. fördernd, 2. den Gang aufhaltend und die Handlung verlängernd oder 3. die Handlung zur Vollständigkeit führend) eröffnen eine tiefer gehende Dimension der Analyse der bedeutsamen Momente. Auf dem gegenwärtigen Entwicklungsstand der Dramaturgie in der Didaktik im Allgemeinen und der Lehrstückdramaturgie im Speziellen wäre es m. E.

verfrüht, bis auf diese Ebene vorzudringen.

325 Ebd., S.131.

326 Dies und die folgenden zwei Zitate: Schulze 1995, S. 378.

327 Z. B. bei Herbart, Ziller, Aebli, Klafki.

328 Hausmann 1959, S. 146.

ängern direkt aus der Dramaturgie gewonnen wurde, aber dennoch normativen Charakter hat und daher einengt. Schulzes stark verkürzte Besprechung des Themas kann man als klare Absage an den schematisierenden Formalismus der „Auffassungen und Konstruktions-muster“329 verstehen.