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Teil I Lehrkunstdidaktik und Dramaturgie

2.4 Die sechs Arbeitsfelder der Dramaturgie

2.4.2 Aufbau

2.4.2.1 Hausmann

Das Problem der Einheit in Dramaturgie und Didaktik

Die dramaturgischen Massnahmen tragen dazu bei, dass das dramatische Bildungsgeschehen an jeder Stelle alle seine Bedingungen und alle in der innigsten Durchdringung in sich habe.

(7. Leitsatz)255 Hausmann untersucht in diesem Kapitel jene Gesetze, die für den Gang und Aufbau des Unterrichts massgeblich sind. Zuerst stellt er dabei den Einheitsgedanken ins Zentrum. Schon im Rahmen der ‚Handlung‟ hat er mit dem Hinweis auf Aristoteles‟ zoon festgestellt, dass die Handlung als ‚sich organisch entwickelndes Ganzes‟ (vgl. 2.4.1.1) betrachtet werden soll. Aus diesem Begriff wurde später die Lehre der Einheit abgeleitet: Raum, Zeit und Handlung sollen jeweils als Einheit aufgefasst werden, seit Lessings Shakespearerezeption werde allerdings nur noch die Einheit der Handlung als höchstes Baugesetz verstanden. Obwohl es in der Didaktik kein direktes Gegenstück zu den drei Einheiten gibt, stellt Hausmann fest:

„Die philanthropische Didaktik berief sich ausdrücklich auf den aristotelischen Ganzheits-begriff.“256 Schon Ratke forderte, „nicht mehr denn einerlei auf einmal“257 im Unterricht zu behandeln, und auch Comenius mahnt das Eine an. Ihm ist die „kunstmässige Verteilung der Zeit, des Stoffes und der Methode“258 wichtig, er will dabei aber vor allem in einem Zeitblock nur eine Arbeit nach einer Methode bearbeitet wissen. Die Herbartianer differenzieren später den Aufbau eines Lehrganges als ‚organische Einheit„ vom Ablauf eines Lernprozesses als

‚methodische Einheit„. Bis heute sind die Bezeichnungen ‚Bildungseinheit„ oder ‚Unter-richtseinheit„ üblich und steigern sich unter Umständen sogar zum ‚Sach- und Erlebnis-ganzen„ oder zum ‚ganzheitlichen Unterricht„.259

255 Hausmann 1959, S. 146.

256 Ebd., S. 121.

257 Ratke, zitiert nach: Ebd., S. 121.

258 Ebd., S. 121.

259 Die Begriffe: ebd., S. 121.

Der Gedanke der Einheit wird, wie Hausmann im Weitergang durch die theoretischen Werke zur Dramaturgie aufzeigt, von Lessing als zentral erachtet: „Fehlt der Handlung die Einheit, so fehlt ihr das, was sie eigentlich zur Handlung macht.“260 In Hausmanns zweitem Leitsatz liest man:

Der wesentlich dramatische Bildungsprozess [...] besteht in einer Folge zusammengehöriger Tätigkeiten, die in der Richtung auf ein Ergebnis übereinstimmen. Seine Bildungswirkung wird durch die Einheit der ihn fundierenden Handlung bedingt.

(2. Leitsatz)261

Wie Lessing ist besonders Goethe der Ansicht, die Einheit mache die Handlung „fasslich“262, präzisiert aber, dass die Idee der Einheiten nur dazu diene, das Fassliche zu erreichen oder zu erhalten. Am Beispiel seines Götz‟ weist Goethe auf, was „echt dramatisch und fasslich“263 sei und wie „alles vor die unmittelbare Anschauung“ gebracht werden könne. Die Anschau-ung dürfe aber auf keinen Fall blosses Wahrnehmen bleiben, sondern solle ein Erfassen werden, „das den ganzen Menschen […] in Anspruch nimmt.“264 Um dieses Ziel zu erreichen, ist Knappheit geboten: „Der Drang einer tieferen Anschauung fordert Lakonismus,“265 welcher lediglich Notwendiges und Unerlässliches fasslich darbiete. Auch aus diesem Grund war Goethe auf der Suche nach Urphänomenen und Urgesetzen, da aus ihnen „das Fassliche und ein grosser Gewinn für den Geist hervorgehe.“266 Schiller verlangte ergänzend, dass das Wesentliche in prägnanten Momenten zusammengefasst werden sollte, während Hebbel zum Zweck der Konzentration forderte, dass das „minder Wesentliche dem Wesentlichen zu opfern“267 sei. Schliesslich wünscht Otto Ludwig in erneuter Rückbesinnung auf Aristoteles, dass das dramatische Kunstwerk ein Organismus sein soll, der überall alle Bedingungen und alle in innigster Durchdringung in sich haben soll.268 Dabei soll es einfach und schlank gebaut sein, bzw. äusserst zusammengedrängt, wie es auch in Shakespeares Werken der Fall sei.

Allerdings betont Goethe auch: „Seinen Gegenstand gehörig zu beherrschen und sich vom Leibe zu halten und sich nur auf das Notwendige zu konzentrieren, erfordert freilich die Kräfte eines poetischen Riesen und ist schwerer als man denkt.“269

Hausmann resümiert hinsichtlich der Didaktik, dass „auch in der Didaktik die ‚Fasslichkeit‟

das Mass der Einheit darstellt und die Einheit daraufhin anzusehen ist, dass sie das Fassliche bewirkt.“270 Zum Zweck der unmittelbaren Anschauung müsse der Unterricht alles auf Urphä-nomene zurückführen und lakonisch gebaut sein, also nur das Notwendige und Unerlässliche darbieten. Faustregeln für die Didaktik entdeckt Hausmann bei der Forderung, dass der Unterricht überall alle Bedingungen in intensiver Durchdringung in sich haben soll, wobei das

260 Lessing, zitiert nach: Hausmann 1959, S. 122.

261 Ebd., S. 144f.

262 Lessing und Goethe, zitiert nach: ebd., S. 122. Auch bei Aristoteles taucht der Begriff als Grössenbegrenzung auf. (Aristoteles 1994, S. 27) Vgl: „Demzufolge müssen, wie bei Gegenständen und Lebewesen eine bestimmte Grösse erforderlich ist und diese übersichtlich sein soll, so auch die Handlungen, eine bestimmte Ausdehnung haben, und zwar eine Ausdehnung, die sich dem Gedächtnis leicht einprägt.“ (Ebd.) Und: „Die richtige Begrenzung der Ausdehnung ist die angegebene: Man muss das Werk von Anfang bis Ende überblicken können.“ Aristoteles 1994, S.81.

263 Dieses und das nächste Zitat: Eckermann 1994, S. 155. [24. Februar 1825].

264 Goethe, zitiert nach: Hausmann 1959, S. 122.

265 Goethe 1973 (Hamburger Ausgabe), Bd. 12, S. 282.

266 Eckermann 1994, S. 244. [1. Februar 1827]

267 Hebbel, zitiert nach: Hausmann 1959, S. 123.

268 Vgl. Sokrates Zwiegespräch über die Redekunst mit Phaidros: Es geht um die „Kunst, wieder nach Begriffen zu zerlegen, nach Gliedern, wie sie gewachsen sind, ohne dass man versucht, nach Art eines schlechten Koches irgendeinen Teil zu zerbrechen […].“ Platon 1979, S. 72.

269 Goethe, zitiert nach: Hausmann 1959, S. 127.

270 Ebd., S. 123.

Unwesentliche dem Wesentlichen zugunsten einer schlanken und einfachen Formel geopfert wird. Alles soll in prägnanten Momenten zusammengedrängt und konzentriert werden. Dass die Forderung nach einer Konzentration auf das Wesentliche zeitgleich zu Ludwig auch in der Didaktik eine zentrale Diskussion auslöste, versteht Hausmann als erneute Bestätigung für die enge Verwandtschaft der beiden Disziplinen. Zum Schluss weist er explizit auf das Exem-plarische von Wagenschein hin und auf die von Flitner „empfohlene ‚Auswahl des Unent-behrlichen‟ und die ‚Verdichtung grösserer Zusammenhänge auf das Wesentliche.‟“271 Haus-mann formuliert:

[…] Die dramaturgischen Massnahmen tragen dazu bei, dass das dramatische Bildungsgeschehen an jeder Stelle alle seine Bedingungen und alle in der innigsten Durchdringung in sich habe. Dazu gehört, dass der Unterricht sich auf das Wesentliche konzentriert, nach dem Fasslichen fahndet, seine prägnanten Momente herausfindet, fortschreitend artikuliert, anschaut und begreift und seinen Gehalt handelnd vergegenwärtigt.

(7. Leitsatz)272

Er weist in seinem 7. Leitsatz aber auch noch auf die Grenzen der dramaturgischen Methode hin, wenn er an der gleichen Stelle hervorhebt: „Die dramaturgisch-didaktischen Vorleis-tungen der Konzentration auf das Wesentliche, der Artikulation des Unterrichtsganges, der Veranschaulichung und Aktivierung haben indes lediglich den Charakter potentieller Vorweg-nahmen und können nur im Bildungsgeschehen selbst wirksam werden.“ Aus Gründen der Vollständigkeit muss auch noch der zusammenfassende erste Satz von Hausmanns nächstem Unterkapitel zum Problem der Entfaltung an dieser Stelle Erwähnung finden: „Wie sich der Unterricht unter den vorausgesetzten Bedingungen der Einheit im Einzelnen zu gestalten habe, ist das Grundproblem der didaktischen Methodenlehre.“273

Das Problem der Entfaltung in Dramaturgie und Didaktik

Das dramatische Bildungsgeschehen entspringt einer spannungsgeladenen didaktischen Situation.

Es verläuft bewegt und bewegend.

(3. Leitsatz)274

Im Anschluss an die Diskussion über die Einheit stellt Hausmann bei der Eröffnung seiner Überlegungen zur Entfaltung fest, dass die ältere Didaktik die Frage nach der thematischen Entfaltung nicht verfolgt und stattdessen das Gewicht auf „eine Formulierung des Themas, eine Kennzeichnung des Gegenstandes, eine Aufgabenstellung oder eine Frage mit oder ohne Zielangabe“275 gelegt habe. In einer ersten grossen Übersicht der Bestimmungen zum The-menkomplex der Entfaltung legt er dar, welche zentralen Impulse von den geistigen Grössen der Dramaturgie in diesem Themenkomplex beigesteuert worden sind.

Die Dramaturgie stelle eine dramatische Situation an den Anfang. Herder sagt dazu, die Fabel des Dramas brauche Situationen, die dem Dramatiker einfallen müssten, laut Goethe setzt das Drama „Situationen, Charaktere, Ausgang des Ganzen“ voraus. Der Schriftsteller und Dra-matiker W. v. Scholz verdichtet diese Auffassung schliesslich in neuerer Zeit zu: „Im Anfang ist die Situation.“276 Entscheidend für diese Situation, die dramatische Situation, ist der

271 Hausmann 1959, S. 124.

272 Ebd., S. 146.

273 Ebd., S. 124. Die Lehrkunstdidaktik kann als Zubringer zu Antworten auf diese indirekte Forderung ange-sehen werden.

274 Frei zitiert nach: Ebd., S. 145.

275 Ebd., S. 124. Das nächste Zitat: Goethe, zitiert nach: Ebd.

276 W. v. Scholz, zitiert nach: Ebd.

spannungsgeladene Konflikt und so formuliert Otto Ludwig: „Alles Dramatischwirkende beruht auf dem Kontraste“277 und stellt dem monozentrischen Modell des Epos das bipolare Modell des Dramas als Ellipse mit zwei Brennpunkten entgegen. Der Poetologe Günther Müller befindet, das Drama bedürfe essentiell eines Konfliktes, der Impulse hervorbringe, und beschreibt die Dramaturgie als die Kunst, von dort aus eine Handlung so aufzubauen, dass sie

„mit immer neuen Spannungen erfasst.“278 Diese Gedanken sind Hausmanns zufolge in der Didaktik etwa seit der Zeit des Jenaer Reformpädagogen Peter Petersen aufgegriffen worden, der damalige Ansatz sollte ihm zufolge aber auf den gesamten Bildungsprozess ausgeweitet und ausdifferenziert werden, um jene „Gesetze zu bestimmen, die für deren Entfaltung, Gliederung und Aufbau massgebend sind.“279 In seinem 3. Leitsatz formuliert Hausmann:

Das dramatische Bildungsgeschehen entspringt einer spannungsgeladenen didaktischen Situation.

Es kommt von Unklarheiten oder Gegensätzen aus in Gang und schliesst sich an Werdendes, Un-fertiges, noch Unabgeschlossenes und Offenes an. Es verläuft bewegt und bewegend. […]

(3. Leitsatz)280

In einem weiter ausholenden Rückgriff stellt Hausmann fest, dass die Didaktik seit Aristo-teles‟ Nikomachischer Ethik einen dreiteiligen Ansatz für die Entfaltung kennt.281 Dieser Ansatz hat sich zwar von Aristoteles über Herbart bis zu Ziller von einem dreiteiligen282 zu einem vier- bzw. fünfstufigen Modell weiterentwickelt, schliesslich wurde er aber von Dörp-feld und Willmann wieder auf die drei Begriffe ‚Anschauen, Denken, Anwenden„

zurückgeführt. Die Didaktik habe aber kein vergleichendes Augenmerk auf die gliedernde Dreiheit in der Nachbardisziplin gerichtet.283 Donatus formte diese Dreiheit im 4. Jh. n. Chr.

in einen dreifach gegliederten Vorgang mit Protasis, Epitasis und Katastrophe284 um und schuf so die für die abendländische Dramaturgie prägende Grundform. Hausmann kann kei-nen Einfluss dieses Schemas auf die Didaktik feststellen und selbst dort, „wo die didaktischen Operationen, wie etwa bei Dörpfeld als ‚Akte‟ bezeichnet wurden, war dieser Terminus nur im psychologischen, nicht aber auch im dramaturgischen Sinne gemeint.“285 Ihm erscheint es daher als besonders angebracht, den „vom Aufbau des Dramas handelnden Teil der Drama-turgie gerade unter diesem Gesichtspunkt und ihm Hinblick auf die Didaktik durchzusehen“, um Genaueres über diesen Aspekt herauszufinden.

Hausmann beschränkt sich an dieser Stelle auf Aussagen von Goethe und Freytag, da sie für die Didaktik aufschlussreiche Hinweise liefern. Für Goethe war besonders die Exposition und Motivation der Handlung bedeutend, Lessings erste Dramenakte nannte er in diesem Zusam-menhang „Meisterwerke der Exposition.“286 In einer Analogie weist er darauf hin, „dass es mit der Poesie wie mit dem Seefahren ist, wo man erst vom Ufer stossen und auf einer gewissen Höhe sein muss, bevor man mit vollen Segeln gehen kann.“287 Goethe formulierte auch: „Mein höchster Begriff vom Drama ist rastlose Handlung,“288 wobei er allerdings warnend anmerkte, dass wiederum „allzuvieles Motivieren inkommodiert“.289 Gemeinsam mit

277 Ludwig 1901, S. 214. Hervorhebung im Original.

278 G. Müller, zitiert nach: Ebd., S. 125.

279 Ebd., S. 125.

280 Ebd., S. 145.

281 Bei Aristoteles 1994, S.: Wahrnehmen, Denken, Wollen. In der Katechese: propositio, explicatio, applicatio.

Vgl. die ganze Darlegung in ebd., S. 125.

282 Grundlegend war die Unterscheidung der drei Seelenteile ‚Wahrnehmen, Denken und Wollen‟.

283 Anabasis: ‚aufsteigender Teil der Tragödie„; Peripetie: ‚Glückswechsel„; Katabasis: ‚absteigender Teil„.

284 Protasis: ‚Einleitung„ – später: ‚Exposition„; Epitasis: ‚Verwicklung, Anspannung„; Katastrophe: ‚Lösung„.

285 Dies und das nächste Zitat: Ebd., S. 126.

286 Dies und das nächste Zitat: Goethe, zitiert nach: Ebd., S. 126.

287 Auf die Didaktik übertragen: Ebd., S. 127.

288 Goethe, zitiert nach: Ebd.

289 Goethe, zitiert nach: Hausmann 1959, S.126f.

Abbildung 2: Der pyramidale Aufbau eines Dramas nach Freytag. Die Punkte von a bis e entsprechen den fünf Teilen des Dramas.

Aus: Freytag 1901, S 183.

Schiller kommt er zum Ergebnis, dass es vornehmlich drei Arten gibt, wie die Motive die Richtung der Handlung des Dramas beeinflussen: Sie können die Handlung fördern (vorwärtsschreitend), den Gang aufhalten und die Handlung verlängern (retardierend) oder (rückwärtsgreifend) die Handlung zur Vollständigkeit führen.290 Zusammenfassend stellt Hausmann fest, „dass die Didaktik diese Kunstgriffe, die sich bei der Exposition und Moti-vation der Handlung in der Dramaturgie herausgebildet und vielfältig bewährt haben, durch-aus als methodische Hilfsmittel, den Gang des Unterrichts dramaturgisch zu steuern, in An-spruch nehmen kann.“

Der dramatische Bildungsprozess kann im Unterricht durch behütende, unterstützende und gegen-wirkende Massnahmen ausgelöst, gesteuert und gestaltet werden. […]

(7. Leitsatz)291

Hausmann fährt fort, indem er auf die berühmte Pyramide von Freytag verweist. (Abbildung 2) Mit dieser hat Freytag das Voranschreiten der Handlung in fünf Teilen verbildlicht, die er schlüssig aus der inneren Form des Dramas ableitete.

Auf Aristoteles aufbauend betonte er, dass die Handlung ei-nen steigenden und später auch eiei-nen fallenden Teil haben soll. Freytag ging aber über die blosse bildliche Darstellung des Handlungs- und Spannungsverlaufs in Einleitung, Stei-gerung, Höhepunkt, Fall und Katastrophe hinaus, „indem er drei weitere Stellen aus der Handlung hervorhob: das ‚er-regende Moment‟ [welches am Ende der Exposition den „Be-ginn der bewegenden Handlung“ auslöst, MJ], das ‚tragische Moment‟ [den „Beginn der Gegenwirkung“ zwischen dem Höhepunkt und der Umkehr, MJ] und das ‚Moment der letzten Spannung‟ [welches nach dem Fall und „vor Eintritt der Katastrophe noch einmal zu steigern“ hat, MJ]. Er nannte sie ‚drei wichtige szenische Wirkungen, durch welche die fünf Teile sowohl geschieden als verbunden werden.„“292 Freytag gewichtet: „Die erste Wirkung ist jedem Drama nötig, die zweite und dritte sind gute, aber nicht unentbehrliche Hilfsmittel.“ Er entwickelte später in seiner Dramaturgie zwei Grundgestalten der Form des Dramas, denen jeweils zugrunde liegt, dass Spiel und Gegenspiel vorliegen, welche sich gegenseitig motivieren, aber nicht zwangs-läufig in dieser Reihenfolge in Erscheinung treten müssen: Die Reaktionsseite des Gegen-spiels kann auch vor der Aktionsseite des Spiels positioniert sein. Das jeweilige Führungs-verhältnis der beiden Richtungen wendet sich am Punkt der Umkehr. Der zeitgleich ent-standene Versuch einer ebenfalls fünfstufigen Formalstufentheorie der Vorgänge des Unter-richts durch Ziller293 zeigt sich in Hausmanns Augen im Vergleich zu Freytags dramatur-gischem Ansatz als klar unterlegen. Dies liegt unter anderem daran, dass Freytags Modell eben nicht formalistisch und starr, sondern „innerhalb der weit gesteckten Grenzen des Schemas variabel blieb“294 und neben konstitutiven auch akzidentielle Momente enthielt. In

290 Dies und das nächste Zitat: Hausmann 1959, S. 127. Hausmann ordnet das vierte der insgesamt fünf rich-tungsbestimmenden Motive, das „Rückwärtsschreitende“, dem Epos zu, übergeht das fünfte, „Vorwärtsgrei-fende“ jedoch vollständig.

291 Ebd., S 146.

292 Dies und das folgende Zitat: Ebd., S 128. Die eingebetteten Zitate stammen von Freytag.

293 „Zillers didaktischer Formalismus stellte im Wesentlichen eine logisch abstrakte Deduktion aus Herbarts psychologisch konkreter Unterscheidung des rhythmischen Wechsels der Phasen im Erkenntnisprozess dar, durch die Herbarts dynamische Auffassung der Gemütsbewegung bei der Erweiterung und Vertiefung des Gedankenkreises in die starre Form einer normativen Anweisung übersetzt wurde.“ Ebd., S. 129.

294 Dieses und das nächste Zitat: Ebd., S. 129. Vgl. Ebd., S. 161.

einer direkten Übersetzung der beiden Grundgestalten Freytags in die herbartianische Didak-tik hätte sich in Hausmanns eher szenisch ausgerichtetem Verständnis z. B. die Möglichkeit ergeben, dass bei dem einem Ansatz zunächst „der Lehrer (oder eine Schülergruppe), bei dem anderen die Klasse (oder eine andere Schülergruppe) zu Anfang die Führung übernimmt, um sie auf dem Höhepunkt des Unterrichtsganges abzugeben und zum Gegenspieler zu werden.“

Seine Überlegungen münden vor allem in den achten Leitsatz:

Für die Gestaltung des dramatischen Bildungsgeschehens im Unterricht bieten sich unterschied-liche Formen an. Die Unterrichtshandlung kann eine geschlossene oder eine offene Tektonik er-halten. Die geschlossene Form ist pyramidal aufgebaut. Bei ihr steigt die Unterrichtshandlung vom Fusspunkt der Einleitung über ein erregendes Moment bis zu einem Höhepunkt, an dem die Peri-petie eintritt, woraufhin die Handlung über ein Moment letzter Spannung absinkt und in einer bil-dungswirksamen Lösung einmündet. Die Unterrichtshandlung nach diesem Regeltypus ist in zwei gegensätzlichen Grundgestalten realisierbar. Das Unterrichtsgeschehen ist entweder so angelegt, dass eine Handlung des Lehrers (oder einer Schülergruppe) es bis zum Höhepunkt vorantreibt, um dann durch die Gegenhandlung der Klasse (oder einer anderen Schülergruppe) vollendet zu wer-den, oder es steigt durch eine Gegenhandlung der Klasse (einer Schülergruppe) auf und wird im Kulminationspunkt durch einen Führungswechsel schwerpunktmässig auf den Träger der Haupt-handlung (den Lehrer, eine andere Schülergruppe) verlagert, um durch ihn entschieden zu werden.

In beiden Fällen verläuft das Unterrichtsgeschehen von Anfang an und in allen Phasen zielstrebig und folgerichtig auf einen vorbestimmten Ausgang zu. […]

(8. Leitsatz)295

Dilthey und andere kritisieren später Freytags pyramidales Schema und weisen darauf hin, dass z. B. der innere Vorgang auch dann weiter ansteigen kann, wenn die äussere Handlung abfällt. Zwar wurde anerkannt, dass eine Verklammerung durch einen Spannungsbogen exis-tiert, Dilthey hebt aber hervor, dass zielstrebige Bewegungen, die kontinuierlich und linear voranschreiten (ein mathematischer Beweis, die Entwicklung eines Lebewesens, eine geplante Tätigkeit), nicht „im vollen Sinne dramatisch“296 sind. „Dramatisch wird eine solche Bewe-gung erst dann, wenn sie auf Schwierigkeiten stösst, die überwunden werden müssen, wenn Faktoren ins Spiel kommen, die sie vom Ziel abzulenken drohen, oder wenn unerwartet neue Situationen entstehen, die nicht nur die Lösung der Spannung verzögern, sondern die Span-nung fortgesetzt erneuern oder steigern.“ Dazu bedarf es Überraschungen im Lauf der Hand-lung oder Widerstände, die zu Stauungen führen und erst dann den Gang der HandHand-lung von innen oder von aussen wieder in Bewegung setzen. „Im dramatischen Geschehen ändert sich nicht nur das Zeitmass des Fortgangs ständig, sondern auch die Verlaufsrichtung, d. h. die Handlung schlägt fortgesetzt um.“

Petsch betont gerade dies noch einmal, wenn er feststellt, dass die „Umschlägigkeit“ und die Spannung wesentliche Merkmale des Dramas sind: Die Handlung geht ihrem Ziel mit einer

„Mischung von Freiheit (oder Zufälligkeit) und Zwangsläufigkeit entgegen, indem seine gera-de Linie dauernd durch punktweise Stauungen und überraschengera-de Umschläge (gera-der Lage und der Stimmung) unterbrochen wird, um auf neuer Ebene mit frischer Kraft wieder einzu-setzen.“297 Petsch definiert, das Drama sei die „Darstellung eines bewegten, unter dauernden Umschlägen zu einem bedeutenden Ziele aufsteigenden Vorganges.“ Die hier zuletzt angeführten Überlegungen Petschs entsprechen Hausmanns Ansicht nach eher einem moder-nen Standpunkt von einem „didaktisch wirksamen Unterrichtsverlauf“298 als der pyramidal strukturierte Aufbau Freytags. Diese Gedanken fliessen in Hausmanns 3. Leitsatz ein:

295 Hausmann 1959, S. 146f. Hausmann zeigt sich durch diese Schlussfolgerung in seinen Leitsätze bemüht, seine „Dramaturgie des Unterrichts“ mit der herbartianischen Didaktik in Übereinstimmung zu bringen.

296 Dieses und die folgenden drei Zitate: Ebd., S. 130.

297 Dies und das nächste Zitat: Petsch 1945, S. 48; S. 4. Hervorhebungen im Original.

298 Hausmann 1959, S. 132. Hausmann zieht als Beispiel den „freien Gesamtunterricht nach B. Otto“ heran, als Beispiele für den freytagschen Aufbau dient ihm „der Arbeitsunterricht in der Art Gaudigs und Kerschenstei-ners“. Ebd., S. 133.

Das dramatische Bildungsgeschehen […] drängt seinem Ziel mit einer Mischung von Freiheit, Zufälligkeit und Zwangsläufigkeit entgegen. Dabei entstehen immer neue, unerwartete Situationen, welche die Spannung steigern oder erneuern, das Interesse wachhalten und die Aufmerksamkeit fesseln. Die intendierte gerade Linie des Fortgangs wird dauernd durch punktweise Stauungen oder überraschende Umschläge unterbrochen und setzt auf neuer Ebene mit frischer Kraft wieder ein.

(3. Leitsatz)299

Freytags zwei Grundgestalten blieben in der Folgezeit erhalten, bei der Analyse regelwidriger, aber dennoch dramatisch wirkender Dramen zeigte sich jedoch, dass er mit seinen Varianten nur den Grundtyp der so genannten ‚geschlossenen Form„ beschrieben hatte. Der zweite vollwertige Grundtyp des Handlungsaufbaus wird als ‚offen‟ bezeichnet, seine Regeln wurden an Shakespeares Dramen entdeckt. So zeigt sich für das als geschlossen bezeichnete

‚Entscheidungs-, Einort- oder Zieldrama„, dass seine Handlung „von Anfang an und in allen Einzelheiten auf einen vorbestimmten Ausgang bezogen ist“, dass seine Spannungen

„Überraschungs- und Entscheidungsspannungen“ sind und dass die ihm zugrunde liegenden Prinzipien „die Präformation, die Handlungsökonomie und die Geschlossenheit der Form“

sind.300 Dem offenen ‚Geschehens-, Bewegungs- oder analytischem Drama„ liegt eine „Ent-wicklungs- oder Aufhellungshandlung zugrunde, die mit beunruhigenden Verhältnissen mitten im Geschehen anhebt und deren thematische Mitte noch nicht feststeht. Ihre Einheit ist stets erst im Werden. Ihre Spannungen sind Erwartungs- und Geheimnisspannungen. Ihre Prinzipien die Epigenese, die Assimilation, die Entwicklung in die Welt und die Integra-tion.“301 In diesen zwei Grundtypen des Dramenaufbaus erkennt Hausmann zwei potentielle Grundtypen des Aufbaus von Unterricht, wobei die Charakteristika des Unterrichts jenen des Dramas entsprächen.302 Er betont, dass die dramaturgisch denkende Didaktik von einem moderneren Standpunkt aus als nicht beim einfachen und schematischen Voranschreiten der Handlung im Sinne von Freytags Pyramide stehen bleiben darf, sondern im dramaturgischen Unterrichtsgeschehen die Geradlinigkeit immer wieder mit Stauungen und Umschlägen unter-bricht (vgl. oben, 3. Leitsatz). Ausserdem verlangt Hausmann auch die Berücksichtigung der offenen Tektonik.

Die Überlegungen Freytags, Diltheys und Petschs fliessen in Hausmanns 8. Leitsatz ein, der sich in erster Linie auf der Entfaltung des unterrichtlichen Geschehens konzentriert:

Für die Gestaltung des dramatischen Bildungsgeschehens im Unterricht bieten sich unterschied-liche Formen an. Die Unterrichtshandlung kann eine geschlossene oder eine offene Tektonik erhal-ten. Die geschlossene Form ist pyramidal aufgebaut. […] Seine Spannungen [des Unterrichtsge-schehens, MJ] sind Überraschungs- und Entscheidungsspannungen, seine Prinzipien die Präfor-mation, die didaktische Ökonomie und die formale Geschlossenheit. Der tektonisch offene Typus des Unterrichts ist nicht pyramidal aufgebaut. Er hebt zwar auch mit einer beunruhigenden Situa-tion an. Er hat auch erregende Momente, Höhepunkte und Umschläge im Verlauf des Geschehens.

Aber sein thematisches Motiv und sein Ziel stehen anfangs noch nicht eindeutig fest. Er gewinnt erst während des Fortgangs zunehmend an Einheit und Richtungsbestimmtheit. Seine Handlung zielt nicht von vornherein auf eine Entscheidung, sondern ist eine Entwicklungs- und Aufhel-lungshandlung. Seine Spannungen sind Erwartungs- und Geheimnisspannungen, seine Prinzipien die Epigenese, die Assimilation, der Ausgriff und die fortschreitende Integration.

(8. Leitsatz)303

299 Hausmann 1959, S. 145.

300 Ebd., S. 131.

301 Ebd., S. 131f. Zu diesen Dramentypen vgl. Volker Klotz (1985): Geschlossene und offene Form im Drama.

302 Hausmann 1959, S. 133.

303 Ebd., S. 146f.