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4.2 Der sonderpädagogische Förderbedarf – SPF (Rath)

4.3.3 Inklusive Bildung (Rath)

Inklusive Beschulung sieht vor, Kinder mit und ohne Behinderung in ein und derselben Klasse zu unterrichten, ungeachtet der Art oder des Schweregrads ihrer Beeinträchtigung. Es soll eine Änderung der Strukturen des Lernstoffs vorgenommen werden. Der Lehr- und Lernstoff soll derart angepasst werden, dass Kinder mit Behinderung gefordert und Kinder ohne Behinderung nicht unterfordert werden. Angedacht wird auch, dass die Kinder ihre individuellen Zugänge zu den dargebotenen Lerninhalten finden können. Unterschiedliche Lehr- und Lernformen sollen zur Anwendung kommen, was beinhaltet, dass auf alle Aspekte der Lernerfahrung Rücksicht genommen wird (sprachliche, emotionale, kognitive, sensomotorische und psychomotorische Aspekte) (Fischer et al., 2012). Dies soll gewährleisten, dass alle Kinder dem Unterricht folgen können. Eine weitere Umstrukturierung betrifft das Gesamtsystem Schule. Der Lehrkörper muss sich darüber im Klaren sein, dass er an einem Strang zieht, auch außerhalb der Unterrichtszeiten (Pausen, Freizeit innerhalb des Schulalltags) (ebd., 2012). Hier wird deutlich, dass sich das Schulsystem, wie von Schulze gefordert, maßgeblich verändern muss. Bei Fortbestehen der momentanen Strukturen, dem

41 notenorientierten System und den (hauptsächlich) sprachlichkognitiven (Fischer et al., 2012) Lernformen kann der Ansatz von Ahrbeck, dass den Kindern mit Behinderung eine massive Überforderung droht, nachvollzogen werden (Ahrbeck, 2014).

Um auf die bereits erwähnte Debatte rund um die Sonderschule zurückzukehren, sollen hier nun beispielhaft zwei konträre Standpunkte vorgestellt werden, die umfangreich die Bedenken der breiten Bevölkerung widerspiegeln. In einem Interview mit dem Sender Ö3, einem Radiosender des ORF (österreichischer Rundfunk), wurden Marianne Schulze, Juristin und Vorsitzende des Monitoringausschusses zur Einhaltung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Österreich und Bernd Ahrbeck, Bildungswissenschaftler am Institut für Rehabilitationswissenschaften an der Humboldt Universität Berlin, mit dem Schwerpunkt auf der Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern, um ihre Einschätzung der aktuellen Schulsituation von Kindern mit Behinderungen gebeten (science.orf.at, 2015). Schulze spricht sich mit Bezug auf die Menschenrechtskonvention gänzlich für eine inklusive Beschulung aus, egal um welchen Behinderungsgrad es sich handelt. Kinder müssen in eine Regelschulklasse inkludiert werden, da Inklusion nur auf diese Art und Weise funktioniert. Weiter führt sie die positiven Auswirkungen auf alle beteiligten Kinder in einer Schulklasse als Argument für eine Schule für alle an.

Das Schulsystem müsse sich radikal ändern und die Sonderschulen aufgelassen werden. Ihre Bedenken richten sich auf die negative Zuschreibung während und nach einem Besuch der Sonderschule, sowie den fixen Verbleib und die daraus resultierende Daseinsfristung in der Sonderschule, wenn sie einmal besucht wird.

Schulze argumentiert auch mit den positiven Auswirkungen auf das Sozialleben der Kinder, wenn sie in einer Regelschulklasse unterrichtet werden. Ahrbeck hingegen sieht die Diskussion um eine Abschaffung der Sonderschule eher kritisch. Für ihn müssen sowohl die Integration bzw. die inklusive Beschulung als auch, bei unüberbrückbaren Differenzen, die Möglichkeit der Sonderbeschulung weiterhin bestehen, da für ihn aus der UN-BRK nicht hervorgeht, bestehende Sondereinrichtungen zwingend zu schließen (Ahrbeck, 2014). Die positiven Auswirkungen auf manche Kinder sieht er nicht als Grund die Sonderschulen zu

42 schließen, da dies durchaus negative Auswirkungen auf Kinder haben könnte, sofern Kinder Opfer von Mobbing werden. Er sieht das Wohl der Kinder mit Behinderung gefährdet, wenn von ihnen verlangt werden würde, einheitlich Regelschulklassen zu besuchen. Für ihn steht das individuelle Kinderschicksal im Fokus, wonach es gilt bestmöglich und situationsabhängig zu entscheiden, welche Beschulungsform die beste für das Kind darstellt (science.orf.at, 2015). Schulze sieht die Zukunft der Bildung für Kinder mit Behinderung durch das Fortführen von Sonderschulen als gefährdet, da die positiven Auswirkungen und die deutliche Entwicklung von Kindern mit Behinderung in einer Regelschulklasse für sich sprächen.

Die beiden Positionen machen die Kernprobleme sichtbar. Die Sonderschul-Gegner wollen eine radikale Umänderung des Schulsystems mit für die Befürworter undenkbaren Veränderungen. Werden einerseits die spezielle Förderung der Kinder in der Sonderschule als pro innerhalb der Diskussion angeführt, verweist die andere Seite bereits auf die Separierung der Kinder und den Widerspruch zur UN-BRK und weiter auf die Verletzung der Menschenrechtskonvention. In Deutschland gerieten Hilfsschulen, jetzt Förderschulen, bereits sehr früh in die Kritik. Da sie einerseits die spezielle Förderung der Kinder zum Ziel hatten, andererseits aber den Separationsgedanken weiterhin am Leben hielten. Nicht zuletzt scheiterten die Inklusionsversuche durch die Ängste der Eltern von Kindern ohne Behinderung, da diese eine Gefährdung der Bildung ihrer Kinder sahen. (Becker, 2015). Dass Kinder voneinander lernen und profitieren können, steht außer Frage. Die Bedenken der Eltern von Kindern mit Behinderung, ihre Kinder würden lerntechnisch den Anschluss verlieren und mit emotionaler und sozialer Ablehnung konfrontiert werden, müssen genauso Beachtung finden wie die der Eltern von Kindern ohne Behinderung, die meinen, dass der allgemeine Lernfortschritt unter den „langsamen Schülern“ leiden würde. Kurz zusammengefasst stehen sich das Argument der

„Nicht-Umsetzung“ von Inklusion und der Erhaltung des geschützten Rahmens Sonderschule für Kinder mit Behinderung gegenüber. Die Diskussion über die Abschaffung bzw. Beibehaltung der Sonderschule im österreichischen Schulsystem wird weiterhin von Vertretern beider Parteien angeheizt und ein definitives Ende ist nicht in Sicht. Eine Abschaffung könne das Miteinander in der Schule fördern,

43 dieses Miteinander könne aber auch Leid und weitere Ausgrenzung schaffen. Wie Becker in seinem Buch Die Inklusionslüge genau darlegt, muss immer nach den Interessen derjenigen gefragt werden, die ausgegrenzt werden (Becker, 2015).

Inoffiziell werden die Entscheidungen über Teilhabe oder nicht Teilhabe den Betroffenen überlassen. Offiziell scheint es jedoch, dass sich die Betroffenen nach den allgemeinen Maßstäben der Gesellschaft zu richten haben. So auch die Debattenthematik in puncto Sonderschule. Eine Abschaffung soll aufgrund der Vorstellung von Nichtbetroffenen erfolgen. Ob sich die Kinder in einer Sonderschule wohlfühlen, oder ob die Eltern betroffener Kinder die Sonderschule als geschützten Raum erachten ist denjenigen, die die Sonderschule als schwarzen Fleck des Schulsystems sehen, nicht wichtig. Auch Ahrbeck (2015) verweist auf den Umstand, dass es besser wäre die Wahlmöglichkeiten zwischen den unterschiedlichen Schulformen beizubehalten, da sonst wieder eine Beschneidung des Rechts (in puncto Entscheidungsfreiheit) passieren würde (science.orf.at, 2015). Inklusion meint hier das zusammenpressen von Meinungen und Ansichten über eine Thematik, die primär nach Offenheit und Toleranz strebt. Die befürchtete Stigmatisierung bei einem Besuch einer Sonderschule erfolgt nicht durch diejenigen die sich für diesen Schultyp entscheiden, sondern bleibt durch das stigmatisierende Gedankengut der normalen Gesellschaft erhalten. So wie Schulze es formuliert hat,

„Wir wissen aber, dass in Österreich gilt: einmal Sonderschule, immer Sonderschule. Die Sonderschule findet ihre Fortsetzung dann meist in Form einer Werkstatt, das sind Einrichtungen, in denen Menschen Beschäftigungen

nachgehen, ohne dafür adäquat entlohnt zu werden.(…)“(Schulze zit.

In: science.orf.at 2015).

Diese Aussage lässt Rückschlüsse auf die Unzufriedenheit über die Qualität der Sonderschule zu. Ein möglicher Ansatz wäre, wenn es nach dem Modell von Bernd Ahrbeck geht, die Qualität der Sonderschule derart anzuheben, dass ein Wechsel nach vier Jahren für Kinder in eine Regelschule kein Hindernis mehr darstellt.

Gestaltet sich die schulische Zukunft nach Marianne Schulze, wäre zu vermuten, dass das Schulsystem geändert wird, keine Benotungen mehr erfolgen und anstelle