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Gruppenkonversation und virtuelle Gemeinschaften

2 Das Internet als Quelle zur religionsgeschichtlichen Forschung

2.3 Kommunikationsformen und Medien im Internet – theoretische Vorüberlegungen

2.3.3 Gruppenkonversation und virtuelle Gemeinschaften

Eine Dimension, die immer wieder mit Kommunikationsformen nicht nur religiöser Art im Internet in Verbindung gebracht wird, ist der „Chat”133. Er ermöglicht eine Kommunikation in Echtzeit, die auf dem Computerbildschirm meist textbasiert wiedergegeben wird. Mehrere Userinnen und User treffen sich hierzu in einem virtuellen Raum, dem sog. Chatroom134.

130 Heibach, C., http://www.dissertation.de/PDF/ch267.pdf (30.01.03), S. 13.

131 Paccagnella, L., http://www.ascusc.org/jcmc/vol3/issue1/paccagnella.html (06.06.01). Vgl. hierzu Ackermann, A., 2000, S. 276-290.

132 ”The very concept of interpretative flexibility is a cornerstone of a perspective based on social constructivism, which is not solely an approach to technology study […], but also a wider epistemology conceived in reaction to the logical empiricist methodology and the bid to apply that framework to the social sciences […]. Rooted in the phenomenological tradition of Alfred Schutz, in the philosophical pragmatism of George Herbert Mead and in the formal sociology of George Simmel, social constructivism claims that the facts of the world are not independent of us as observers and that scientific knowledge is always the result of a situated perspective.

People create their own reality through an iterative process where man is at the same time producer and product of the social […].” Paccagnella, L., http://www.ascusc.org/jcmc/vol3/issue1/paccagnella.html (06.06.01). Innerhalb des Artikels findet sich ein Überblick über Forschungen im Bereich der Internetanalyse bis zum Jahr 1997.

133 Eine Variation des Chats wurde 1995 mit dem Programm „nettime“ gestartet: „Entwicklung und Aufbau neuer Kommunikationsformen nettime – gestartet 1995 [...], während der 46. Biennale von Venedig, [...] Die Publikationen sind Verdichtungen des täglichen Nachrichtenstroms, gewähren aber auch einen Ausblick in die Zukunft des Schreibens, weil sie zeigen, wie ein Text in gemeinsamer Arbeit entsteht. Sie lehnen sich damit zugleich an eine vergangene Kultur an, in der eine Vielzahl von Erzählern an einer Geschichte mitwirkten, und der Autor als zentrale Instanz noch fehlte. Vielleicht ist das Bewusstsein, in einer weltweit verstreuten Gemeinschaft von Lesenden und Schreibenden zu leben, auch der Schlüssel zum Erfolg von Nettime. Subskription: majordomo@bbs.thing.net.“

http://www.tagi.ch/ta/taOnlineDossier.html?dossierid=89&rubrikid=185&flag=t (12.04.02). Hier findet sich eine Zusammenfassung zur Entwicklung und zum Aufbau neuer Kommunikationsformen.

134 Die Begrifflichkeit „Chatroom“ übernimmt die Vorstellung, dass sich Menschen in einem Raum treffen, um miteinander zu diskutieren. Auf technischer Seite ist dies aber ein einfaches Programm, dass allen Userinnen und Usern die gleichen Informationen auf dem Bildschirm ausgibt.

Um eine Orientierung innerhalb der unzähligen Chatrooms zu erleichtern, sind diese in vielen Fällen thematisch geordnet. Es finden sich beispielsweise Chatrooms zu den Themen Mode, Entertainment, Computer, Gesellschaft und Umwelt, Geschichte, um nur einige zu nennen135. Diese textbasierte und computergestützte Gruppenkommunikation (CMGC = Computer Mediated Group Communication)136 wird auch für den Bereich der Religion von den Internetnutzern häufig frequentiert. Auf diesem Hintergrund können auch die Gespräche innerhalb der Chatrooms zu den Primärquellen der Religionsgeschichte gezählt werden. Die Bandbreite religiöser Chatrooms steht in der Bandbreite den Webseiten zum Thema Religion in nichts nach. Es finden sich beispielsweise unter http://chat.yahoo.com/c/roomlist.html folgende Bereiche137: Astrology, Buddhism Chat, Catholic Chat, Hinduism, Paganism. Chats finden sich in großer Zahl in der Umgebung der Ashtar-Command-Bewegung138.

Diese Gruppenkommunikation139 unterliegt gewissen Strukturen und Formen, gleichsam einer internen Grammatik. So zeichnet sich diese Kommunikationsform durch eine hohe Komplexität und Geschwindigkeit aus, verfügt aber (noch) nicht über non- oder paraverbale Signale140. So bezeichnet Bernhard Debatin das Medium Internet als „kontextarmes Medium”141. Unter einem kontextarmen beziehungsweise kontextreduzierten142 Medium versteht er den Mangel von „körpersprachlichen und anderen non- und paraverbalen Signalen”143. In seinem Aufsatz „Analyse einer öffentlichen Gruppenkonversation im Chat-Room”144 erkennt Bernhard Debatin „Referenzformen, kommunikationspraktische

135 Vgl. http://www.tripod.de/index_interact.php (25.05.01),

http://german.about.com/homework/german/library/blchatde.htm (25.01.01).

136 Debatin, B., 1998, S. 13.

137 http://chat.yahoo.com/c/roomlist.html (25.05.01), http://members.aol.com/alienb25/alien1.html (25.05.01).

138 http://members.nbci.com/ACCNL/AshtarChat.htm (25.05.01).

139 Zu dieser Gruppenkommunikation kann man meines Erachtens auch die Weblogs rechnen. Vgl. Blood, R.

http://www.rebeccablood.net/essays/weblog_history.html (05.06.03).

140 Das folgende Beispiel soll der Illustration des Codes dienen, der in der CMGC gebraucht werden kann:

„GCS/SS/H/CC dx s:- a-- C++++(!C) U? W+ N+ o- K? w--- O? M+ PS+++>(++) PE Y++ PGP-/++++

t++ 5? X? R? tv+++(tv--) b++++ DI++

D+++ G+ e+++ h-- r+ y*

Erklärung: diese Person identifiziert sich als Geek der

Computerwissenschaften/Sozialwissenschaften/Humanwissenschaften und Kommunikation (GCS/SS/H/CC) mit exzentrischem Kleidungsstil (dx), normal gross und leicht untergewichtig (s:-), 20-24 Jahre alt (a--), schwankend zwischen totaler Computer-Abhängigkeit und völliger Ablehnung von Computern (C++++(!C)) etc.“ Lüscher, C,. http://www.datacomm.ch/thisischris/Cyberseminar.html (01.04.03). Die weitere Erklärung dieser Buchstaben und Zahlenkombinationen findet sich in unzähligen Glossaren im Internet.

141 Debatin, B., 1998, S. 13.

142 Ebd. S. 14.

143 Ebd..

144 Ebd. S. 13.

Regularitäten und soziale Strukturen”145, die durchaus auch auf religiöse Chats übertragen werden können.

Einige seiner Ausgangsthesen und Resultate von Gruppenkonversationen sind im Rahmen der hier behandelten religiösen Gruppen relevant und dienen als Hintergrund zur Analyse ähnlicher Daten. So beschreibt Bernhard Debatin die computergestützte Kommunikation wie folgt:

„Der Aufbau und das Verstehen von Äußerungskontexten erfordert mehr Hintergrundwissen als dies bei dyadischer CMC oder face-to-face Kommunikation der Fall ist. [...] Explizite verbale Information muß stärker als in face-to-face Kommunikation als Träger von Hintergrundwissen und Mittel des Kontextaufbaus wirken, da die referentiellen Mittel für Zeigehandlungen (Ostensionen) und der Demonstration weitgehend fehlen und da ein gemeinsam geteilter Wahrnehmungsraum nur auf dem Bildschirm in Form von Textfenstern existiert (und selbst dieser kann je nach Hard- und Softwareausstattung sehr verschieden sein). [...] Deshalb kann CMGC auf neu Hinzukommende relativ schnell ausschließend wirken, was sich sowohl in der auf die gemeinsame Gruppenidentität bezogenen Selbstbeschreibung von regelmäßigen Mitgliedern als Regulars ausdrückt, als auch im demonstrativen Umgang mit Hintergrund- und Insiderwissen durch Regulars. Die Differenz Regulars/Newbies kann als konstitutive Differenz für die Gruppenidentität und die Gruppengrenzen angesehen werden. [...] Die durch die Regulars gebildete virtuelle Gemeinschaft ist von intensiven Freundschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühlen geprägt.

Dabei sind sich die Mitglieder dieser Gemeinschaft über die Probleme bewusst, die mit den besonderen Bedingungen des Mediums verbunden sind. Insbesondere besteht große Klarheit darüber, dass das Eingehen von online-Beziehungen mit ebenso großen Konsequenzen verbunden ist, wie das von RL-Beziehungen. [...] In den Diskussionen wurde deutlich, dass die meisten Teilnehmer gegenüber ihren Online-Freunden ein starkes Verpflichtungs- und Verantwortungsbewusstsein haben und dieses ihrerseits auch von ihren Online-Freunden erwarten. [...] Es kann hier mit aller Vorsicht die generelle Vermutung aufgestellt werden, dass textbasierte CMGC scheuen, stillen oder gehemmten Personen Möglichkeiten der Kontaktaufnahme bietet, die sie im RL nicht finden. [...] Hinzu kommt schließlich, dass die computergestützte Kommunikation nur eine von vielen möglichen medial vermittelten Kommunikationen ist und auch Chatter je nach Bedürfnis das Medium wechseln können: So gibt es neben dem Chat eine Menge E-Mail Verkehr zwischen den Regulars, darüber hinaus wird viel telefoniert, werden Postkarten und Briefe geschrieben, sowie persönliche Treffen organisiert.

145 Ebd..

Die Grenzen der virtuellen Gemeinschaft sind also nicht [...] mit den Grenzen des Computernetzwerkes identisch.”146

Diese Ausführungen sind in analoger Weise auch auf Gemeinschaften zu beziehen, die sich rund um religiöse Inhalte und Konnotationen aufbauen und konsolidieren. „Die textbasierte CMGC ermöglicht die Bildung einer virtuellen Gemeinschaft, in der besondere Strukturen von Freundschaft und Zusammengehörigkeit entstehen. Innerhalb dieser virtuellen Gemeinschaften kann es zu intensiven Gefühlsbindungen kommen,”147 so Debatin an einer anderen Stelle. Auf dieser Grundlage könnte auch eine Brücke zu den sog. Online-Ritualen geschlagen werden.

Der Begriff der „Gegenöffentlichkeit“148 bildet einen weiteren Bereich, der im Rahmen der computergestützten Kommunikationsformen sowie der Bildung von virtuellen Gemeinschaften149 vor allem in der UFO-Bewegung eine zentrale Rolle spielt. Aufgrund der Technologie zur Bildung einer Gegenöffentlichkeit soll es möglich sein, „geheime“

Botschaften der „ganzen“ Welt zugänglich zu machen und somit für eine Öffentlichkeit jenseits der „alles verheimlichenden Regierungen“ zu sorgen.

Von besonderer Bedeutung sind im virtuell-religiösen Bereich die sog. Cybertempel im Cyberspace150. Brenda Brasher151 vergleicht den Besuch in einem realen (Kali-Tempel) mit

146 Ebd. S. 32f.

147 Ebd. S. 14.

148 Unter Gegenöffentlichkeit bzw. Bildung einer Gegenöffentlichkeit wird im Bereich des Mediums Internets oftmals die Möglichkeit verstanden, unabhängig von staatlich oder wirtschaftlich kontrollierten Medien Informationen zu verbreiten. Vgl. Zeyfang F.,

http://www.tagi.ch/ta/taOnlineDossier?dossierid=89&rubrikid=185&flag=r (14.02.02), (OQ In vorliegender Version sind die Offlinequellen leider nicht verfügbar!)

149 Zur virtuellen Identität und deren Konstruktion unter soziologischen Gesichtspunkten vgl. Lüscher, C,.

http://www.datacomm.ch/thisischris/Cyberseminar.html (01.04.03), vor allem seine Ausführungen zur virtuellen Identität und zur Konstruktion von Identitäten online.

150 Vgl. zum Cyberspace als sozialer Konstruktion in diesem Zusammenhang Massimo Introvigne: „The very notion of cyberspace is a somewhat obvious example of the social construction of a symbolic universe, as described by Berger and Luckmann […], through a three-fold process of externalization, objectivation, and internalization. The term "cyberspace" comes from fiction, and was originally defined by cyberpunk novelist William Gibson […] as "a consensual hallucination experienced together by billions of legitimate operators".

In his novel Neuromancer, Gibson invented the notion of cyberspace as a computer-accessible location where all the existing information in the world was collected. Later, John P. Barlow described the real world of connected computers using the same term as Gibson used. Some claim, therefore, that cyberspace, as it exists today, should be called "Barlovian cyberspace" in order to distinguish it from the fictional "Gibsonian cyberspace" of cyberpunk literature […]. Interestingly enough, two of the most well-known social scientific textbooks on cyberspace, the first strictly sociological and the second social-psychological, divide their discussion of cyberspace into three parallel parts. Jordan […], who is primarily interested in power and social politics in cyberspace, sees three layers of the virtual space: individual, social, and imaginary. Gackenbach

dem „Besuch“ in einem virtuellen Tempel (Digital-Avatar152). Im Vergleich der Beschreibung dieser beiden Tempel fokussiert sie den Besuch im virtuellen Kali-Tempel auf mögliche Internetuser. Die User müssen sich nicht auf eine Reise zum Tempel bewegen und es ist möglich, ein Bild Shivas oder eine Filmsequenz auf den heimischen Computer zu holen und dort gegebenenfalls zum Gegenstand eines Ritual zu machen. Weiter schreibt sie :

„To contrast Digital Avatar with the Kali temple, in the former the journey to the site is gone. There is no wait to get into the temple [im Reallife muss man warten / G. M.]. There is no interaction with other pilgrims en route [sic]. The temple itself is gone. The heavy smell of flower and fruit offerings has vanished. In sum, in the transition from temple to screen, a radical alteration of the sense stimulation integral to Hindu worship has silently taken place. Consequently, the religious experience itself has been altered. The numinous, or holy, experience that cyberspace makes possible by way of Digital Avatar is almost entirely an affair of the mind. This stands in huge contrast to the immersion of mind and body in the numinous of an actual visit to the Kali temple.

Still, the Kali temple itself imposes limits. Only a select number of people beyond those who live in the immediate vicinity can readily visit the temple. Given its smallish size, a mere fifty or so can enter the temple at any one time. At the temple, novice worshipers may gaze without comprehension upon the iconography meant to summon the gods' presence. None of these limits apply to Digital Avatar. Its hyperlinked visual elements enable visitors who see an unfamiliar image or sound to learn all about it in their own language. Whereas a thousand may travel to the temple of Kali in one month, that many and more can visit Digital Avatar in one day.”153

[…] also divided the textbook she edited on Psychology and the Internet into three parts devoted respectively to the intrapersonal (or personal), interpersonal, and transpersonal dimension of cyberspace. The three dimensions in the two textbooks (personal-individual, interpersonal-social, and transpersonal-imaginary) are obviously parallel. To a certain extent, they also parallel Berger and Luckmann’s social construction model.

In the personal-individual stage, human actions, through a process of externalization, create cyberspace as a new form of social institution. When cyberspace appears, through objectivation, as a given "objective" reality, new forms of interpersonal-social relations develop. Subjective understanding of the objectified cyberspace, obtained through internalization, gives rise to transpersonal-imaginary experiences, a virtual imaginary in which both "visions of heaven" and "fears of hell" develop […].” Introvigne, M.,

http://www.cesnur.org/testi/anticult_terror.htm (30.01.03). In diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis von Beckerlegge von Bedeutung, die auf die gegenseitige Beeinflussung des Cyberspace und des Meatspace hinweist. Beckerlegge, G., 2001a, S. 257f und vor allem S. 259.

151 Brasher, B., 2001, S. 3ff.

152 Im Computerbereich allg. Bezeichnung einer virtuellen (eigenen) Gestalt.

153 Brasher, B., 2001, S. 4f.

Anzumerken wäre noch, dass es im virtuellen Tempel keine Zulassungsbeschränkungen gibt, sofern der Internetzugang möglich ist154. Brenda Brasher weist auf einen zentralen Unterschied hin: Die Räumlichkeiten des „Digital Avatar“ sind zeitlich ohne Einschränkungen besuchbar im Gegensatz zum realen Tempel. Das bedeutet, dass man sich an keine Öffnungszeiten des Tempels halten muss und dass der Besuch völlig frei gemäß den persönlichen Bedürfnissen gewählt werden kann.

2.4 Wer befindet sich im „Meatspace“? Soziodemographie des

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