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Gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen in den letzten zehn Jahren

5. FÖRDERUNG PHONETISCHER KOMPETENZEN DURCH DEN AKTIVEN EINSATZ VON TEXTBEZOGENER MUSIK:

5.2 EXKURS: Linguistische und kulturelle Rahmenbedingungen der Zielgruppe

5.2.2 Kulturelle Rahmenbedingungen

5.2.2.2 Gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen in den letzten zehn Jahren

143 staatlichen Schulen ist der Englischunterricht kaum interkulturell, sondern stark auf die saudische Kultur ausgerichtet. Der Englischunterricht beginnt hier erst ab der sechsten Klasse verpflichtend, obwohl sie als erste Fremdsprache eine bedeutende Rolle für die Kommunikation zwischen Saudi-Arabern und anderen Nationalitäten in verschiedenen Lebensbereichen übernimmt (vgl. Al-Wadie 2013: 69). Syllabus und Textbuch sind an allen staatlichen Schulen des Landes identisch (vgl. Almutairi 2008: 13). Der Schwerpunkt liegt auf

„reading and writing, which involves filling in blanks, reordering words to form sentences, handwriting, dictation, and elementary composition. Speaking and listening receive little attention and are limited to fixed drills“ (ebd. 13). Die Abschlussprüfungen am Ende jedes Schulhalbjahres sind begrenzt auf die Fertigkeiten Leseverständnis und Schreiben, sodass für die Lehrenden „the main concerns are to prepare the students for examinations and cover the syllabus in the time allotted. The main focus of the students is on what is covered in the final exams“ (ebd.).

An privaten Schulen beginnt der Englischunterricht dagegen schon mit dem ersten Schuljahr. Die Bücher sind für bilinguale Kinder ausgerichtet und enthalten vielfältige Themen und Aktivitäten:

„In private schools, the teaching of English starts from the first grade as an extra curricular activity of one period a day. Textbooks are designed for bilingual children with a wide variety of topics and activities. Teachers are mostly non-Saudis, either native English speakers or other Arabs. In middle and high schools, students take the school curriculum in addition to the national curriculum for English. It is noticeable that most students who come from private schools are more proficient in general English skills than those from government schools.“ (ebd. 14) Der Unterricht erfolgt dort in der Regel von Muttersprachlern. Die Unterrichtsmethodik ist nicht auf traditionelle Methoden begrenzt. So sind bei den meisten Lernenden von privaten Schulen die Englischfertigkeiten besser als bei denen von staatlichen Schulen (vgl. ebd. 14). Zudem existieren auch größere Unterschiede in den Lernstilen und Lernstrategien. Almutairi kommt zum Ergebnis, dass insbesondere fünf Lernstile für saudische weibliche Lernende charakteristisch sind:

„(1) a stronger preference for a visual mode of obtaining information than for a hands-on or the auditory mode; (2) a preference for using extrovert styles on the social level and introvert on the learning level; (3) a bi-stylistic intuitive and concrete styles; (4) a strong preference for approaching tasks using a closure oriented style rather than an open one; and (5) a global rather than an analytical way of understanding information.“ (ebd. 155)

Interessant ist vor allem die schwache Präferenz für auditive Lernstile, obwohl saudische Studierende aus einer oralen Tradition kommen, in der der Schwerpunkt auf das gesprochene Wort liegt (vgl. ebd. 162). Dagegen werden Lernstrategien der Memorierung wie erwartet stark genutzt (vgl. ebd. 161).

Trotz der Gewohnheit an traditionellen Unterrichtsmethoden bevorzugen die Lernenden selbst interaktive und kommunikative Methoden (vgl. ebd. 169).

144 Im Rahmen des arabischen Frühlings kommt es auch in Saudi-Arabien seit 2011 zu sozialen und politischen Protesten und Forderungen der saudischen Bevölkerung nach Reformen – unter anderem von der arbeitslosen Jugend, den Frauen und Angehörigen der schiitischen Minderheiten (vgl. Jaff 2013: 3). Die Regierung reagiert mit einer ‚Zuckerbrot-und-Peitsche’-Politik (vgl. ebd. 2), einer Kombination aus finanziellen Transferleistungen, politischen (Schein-)Reformen und Repression gegen kritische Akteure (vgl. ebd. 9).

Der gesellschaftliche Wandel ist gekennzeichnet durch eine durchschnittlich immer jüngere Gesellschaft mit einem Durchschnittsalter von 26 Jahren (vgl. Sons 2013: 27) sowie den vielfältigen Möglichkeiten von privatem Satellitenfernsehen, Internet und ausländischen Studienaufenthalten. Seit 1999 ist Internet für alle – wenngleich als letztes Land auf der arabischen Halbinsel – erhältlich (vgl. Hagmann 2010: 127). Hierbei spielt die Medienkontrolle und der Medienbesitz des Staates eine bedeutende Rolle für die Gesellschaft (vgl. ebd. 107ff.).

Vielfältige Zensurmechanismen stehen der Ungewissheit der Bevölkerung gegenüber, was genau erlaubt und nicht erlaubt ist. Auch im akademischen Bereich sind Veränderungen zu beobachten. So wurde 2009 eine Eliteuniversität errichtet, die King Abdullah University of Science and Technology (KAUST) (vgl. Internetquelle 12), an der das auf der Scharia basierende Rechtssystem nicht gilt. Hier studieren Frauen und Männer gemeinsam und haben die gleichen Rechte. Das Projekt soll einen Anschluss an die westlichen Wissenschaftszentren ermöglichen.

Insgesamt stellen die Arbeitslosigkeit und die damit zusammenhängende unausgefüllte Freizeit in Saudi-Arabien zwei der größten gesellschaftliche Probleme dar (vgl. Dehne 2010: 163). Vor allem die ‚neue Generation’66 steht hierbei zwischen Traditionen und globalisierter Welt und versucht beiden Welten gerecht zu werden:

„Die saudische Jugend sucht hierbei einen Weg, um die Traditionen und Werte der älteren Generationen zu respektieren, die gefestigte Hierarchie von Glauben und Königshaus zu akzeptieren, während sie gleichzeitig längst in der globalisierten Welt angekommen ist. Junge saudische Männer und Frauen wurden durch eine zunehmende Internationalisierung sozialisiert. Viele von ihnen studierten im englischsprachigen Ausland, haben sich von den traditionellen Normenmustern der vorherigen Generationen emanzipiert und sind ‚Wandler zwischen den Welten’.“

(Sons 2013: 29)

Es werden große Ansprüche an die jungen Männer gestellt, die oft unter einem enormen psychologischen Druck stehen:

„Traditionelle Vorstellungen sehen in ihm den Familienvater, der Frau und Kinder durch sein üppiges Einkommen versorgen kann, der das Bild des gütigen, strengen, verantwortungsbewussten und autoritären Patriarchen erfüllt, gläubiger und frommer Muslim ist, sich aber gleichzeitig den mannigfaltigen Herausforderungen der Moderne stellen soll, wirtschaftlichen Erfolg erzielt, sich internationalisiert und als integraler Bestandteil an der Moderne teilnimmt. Unter diesen gestiegenen Ansprüchen leiden viele saudische Männer, fühlen sich überfordert, unverstanden und isoliert, da Schwächen des Mannes nach wie vor als gesellschaftliches Tabu gelten.“ (Sons 2013:

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Auch die Anforderungen an die Frauen sind groß, denn sie benötigen bessere Ergebnisse als Männer, um Chancen in der Schule, im Studium und schließlich auf dem Arbeitsmarkt zu haben (vgl. ebd. 36). So ist etwa nur jede zehnte Frau in Saudi-Arabien berufstätig, die Männer arbeiten dagegen zu über 60% (vgl. ebd.), obwohl immer wieder berichtet wird, dass Frauen eine höhere Arbeitsmoral und Lerndisziplin als Männer zeigen und in der Regel deutlich bessere Noten als ihre männlichen Kollegen erhalten. Vielfach geraten sie auch „in Konflikt mit ihren Familien, die die neuen karriereorientierten Ambitionen ihrer Töchter nur selten nachvollziehen können oder fördern“ (ebd. 35-36).

So ist einerseits der westliche und vor allem US-amerikanische Einfluss auf die saudische Gesellschaft groß, andererseits werden westliche Einflüsse als Bedrohung der moralischen Maßstäbe der saudischen Gesellschaft empfunden. Aufgrund der von den Wahhabiten stark konservativ gesetzten Regeln für die Öffentlichkeit finden zudem viele Aktivitäten der Gesellschaft im geschützten Privatraum statt und führen zu einer Doppelmoral, die ins kollektive Bewusstsein übergegangen ist und ein Bestandteil des Alltäglichen geworden ist (vgl. ebd. 30):

66 Literatur speziell zur neuen Generation in Saudi-Arabien siehe Yamani (2000); Al-Rasheed (2007).

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„Diese ‚Doppelmoral’ wirkt sich am deutlichsten auf die junge Generation aus, die einen Mittelweg aus individualistischer Selbstverwirklichung und kollektivem Normkonformismus finden muss. Diese Konflikte betreffen Fragen nach Karriereplanung, Ausbildung, Freizeitgestaltung und der Bedeutung von sozialen Sicherungssystemen wie Familie. Je stärker sich in den letzten Jahren der wirtschaftliche Wohlstand und die internationale Integration Saudi-Arabiens erhöhten, desto evidenter wurde der emotionale Konflikt der jungen Generation.“ (ebd.)

Im kulturellen Bereich hat sich in den letzten Jahren auch in der Öffentlichkeit viel bewegt. Es lässt sich eine kulturelle Öffnung beobachten:

„Diese Öffnung lässt sich nicht nur an der steigenden Zahl literarischer Neuerscheinungen ablesen oder etwa an der wachsenden Bedeutung der Riader Buchmesse, die im März 2008 zum zwölften Mal stattfand, sondern zeigt sich auch in anderen Bereichen kulturellen Schaffens wie dem Bereich des Kinos: so wird mittlerweise diskutiert, die in den 1980er Jahren geschlossenen Kinosäle des Landes wieder zu öffnen, und in Jidda gibt es seit zwei Jahren ein Filmfestival.“ (Clauß 2010: 222)

So wird von einer literarischen Revolution zu Anfang des 21. Jahrhunderts (vgl. ebd. 223) gesprochen, die durch den ‚neuen saudischen Roman’ (vgl. Clauß 2010) ausgelöst wurde. Als erster neuer saudischer Roman erschien 2004 ‚Die Girls von Riad’ von der 23-jährigen saudischen Autorin Alsanea (vgl. Alsanea 2007), der in Saudi-Arabien viel Aufsehen erregte, obwohl das Buch nicht in Saudi-Saudi-Arabien, sondern im Ausland erschien. Auch in der Filmkultur sind Veränderungen zu beobachten. Zwar ist bisher aufgrund des Kinoverbotes eine Fernsehkultur dominant, aber neben dem zweijährig stattfindenden Filmfestival in Jidda erschien 2012 trotz des Kinoverbotes im Land der erste Kinofilm, der in Saudi-Arabien je gedreht wurde und international große Beachtung fand: ‚Wadjda’ (siehe Internetquelle 13). Das Drehbuch wurde wiederum von einer jungen saudischen Frau geschrieben, der Regisseurin Haifa al-Mansur (*1974). Oft versuchen insbesondere die Frauen unter Wertschätzung des Islams und der saudischen Kultur neue Wege zu gehen. Dabei steht nicht die Kritik an saudischen Werten im Vordergrund, sondern die Öffnung neuer Wege im Einklang mit der islamischen und saudischen Kultur.

Da es keine Kinos, Theater, Kneipen oder Ähnliches in der Öffentlichkeit gibt, entwickeln sich weiterhin die Einkaufszentren (Malls) für die Saudis immer mehr zu einem öffentlichen sozialen Treffpunkt. Diese werden von der jungen Generation immer mehr als außerhäuslicher Treffpunkt genutzt, um soziale Kontakte zu knüpfen.

Ansonsten finden Aktivitäten fast immer im Privatraum statt:

„Öffentliche Räume sind nicht existent, Kinos, Theater oder Opernhäuser verboten, Shoppingmalls fast die einzige Lokalität für Freizeitgestaltung in der Öffentlichkeit (Le Renard: 2011). Stattdessen finden in privaten Räumen Aktivitäten außerhalb der strikten ideologischen Normen statt: Reiche saudische Geschäftsleute verfügen über Privatkinos und -diskotheken sowie eigene Alkoholvorräte“ (Sons 2013: 30)

Zudem wird auch von einer musikalischen Revolution seit Beginn des 21. Jahrhunderts gesprochen. Über die aktuellen Veränderungen konnten nur Internetquellen gefunden werden, deren Daten zwar nicht in allen Details zuverlässig sind, aber zumindest in ihrer Anzahl und ihrem Inhalt eine Veränderung im Land andeuten, die auch durch andere Quellen abgesichert wird:

„Even though music is considered a sin by the country’s religious leaders, there has been what many call ‘an explosion’ of Saudi pop, rock and rap bands within the past two-three years. Two years ago there were only two bands in Jeddah. Now there are said to be around 60 underground bands in Saudi Arabia playing Western style rock music, according to the daily newspaper Arab News. Many of these are heavy metal, grunge and death metal bands“ (Internetquelle 14)

Im Vordergrund stehen hierbei Pop-, Rock-, Rap- und (Heavy)Metal-Bands mit englischen Texten und männlichen Sängern. Daneben wird aktuell auch Electronic Dance Music (z.B. von dem DJ Omar Basaad) kreiert. YouTube ist offiziell verboten (vgl. Hagmann 2010: 130). Öffentliche Konzerte sind in der Regel ebenfalls verboten. Konzertaufführungen finden daher fast nur privat statt: „playing gigs in private homes, in residential compounds in the Saudi Arabia. For last three years it's been an explosion in Saudi Arabia's underground music scene“ (Moutushi 2013). Durch das Internet können Musiker nun ihre Musik im In- und Ausland bekannt machen. Webseiten wie My Space (siehe beispielsweise Internetquelle 15 und 16), Facebook

146 oder saudische Portale wie Saudi Rock and Metal Society (gegründet 2003; siehe Internetquelle 17) werden hierfür stark genutzt. Auch Musikgeschäfte sind nach Onlinequellen inzwischen in fast allen Städten zu finden:

„Particularly in the early days of the current Saudi state, religious authorities were quick to repress music other than the rhythmic percussion that still dominates contemporary Saudi music. The advent of radios, tape and CD players in the country saw the attendant growth of shops supporting them. Most cities of any size now have crowded music shops. With the coming of satellite TV, music video stations, ranging from MTV (Europe and Lebanon versions), VH1, and assorted European and Arabic music channels are very popular.“ (Internetquelle 18)

Insbesondere in Jidda, der kosmopolitischen Stadt und dem gegenwärtigen Zentrum der saudischen Musikszene, wird sogar von gelegentlicher Musik auf öffentlichen Straßen berichtet (vgl. Worth 2008). So ist zu erwarten, dass viele saudische Jugendliche (insbesondere aus der Heimatstadt Jidda) mit westlicher englischsprachiger Musik vertraut sind. Hierbei sind aufgrund der Diskussion von Musik im Islam (siehe Kap. 5.2.2.3) allerdings große Unterschiede bezüglich der Offenheit gegenüber westlicher Musik möglich.