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Kapitel 2 – Verfassungsrechtliches Umfeld

A. Verfassungsrechtliche Grenzen des Ertragsteuerrechts

III. Stellungnahme und Bedeutung der Ergebnisse für die weitere Arbeit

1.1 Verfassungsrechtliche Geltung des objektiven Nettoprinzips

1.1.3 Freiheitsrechtliche Begründung

Die freiheitsrechtliche Verankerung des objektiven Nettoprinzips vermag mich nur in Ansät-zen zu überzeugen.

Letztlich geht es bei der freiheitsrechtlichen Fundierung des objektiven Nettoprinzips um die Frage, wer die Notwendigkeit von Erwerbsaufwendungen bestimmen darf.644 Geht also die Privatnützigkeitsgarantie des eingesetzten Vermögens nach Art. 14 GG oder die Berufsfrei-heit des Art. 12 GG so weit, dass die Entscheidung über die Verwendung seiner Mittel beim Steuerpflichtigen liegt (– soweit sicherlich ja –) und dass der Gesetzgeber grundsätzlich ge-bunden ist, diese Notwendigkeitsentscheidung des Steuerpflichtigen auch durch eine Minde-rung der Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen?

Eine solche Bindung an die Entscheidung des Steuerpflichtigen aus der Privatnützigkeit der vermögenswerten Rechte i.S.v. Art. 14 GG herzuleiten, würde zu erheblichen Konflikten mit jedweder Form von Besteuerung führen.

Der Gedanke, dass schon aus der Privatnützigkeit zu folgern sei, dass die erwerbsdienlichen Aufwendungen von der Bemessungsgrundlage abzuziehen sind, weil nur nach deren Abzug disponibles Einkommen zur Verfügung stünde,645 überzeugt mich nicht.646 Wenn die

641 Englisch DStR 2009 Beihefter Heft 34, 92 (93); Drüen StuW 2008, 3 (7) m.w.N.

642 Drüen StuW 2008, 3 (7) etwa nennt diese Aussicht nicht zu Unrecht „irritierend“

643 Vgl. Seiler DStJG 34 (2011), 61 (66); Hennrichs in: FS Lang S. 237 (247); Tipke StRO II (2.Auflage) S. 577;

im Ergebnis auch G. Kirchhof in: FS Lang S. 563 (565, 584)

644 Hey zitiert nach Paetsch (u.a.) DStR 2009 Beihefter Heft 34, 78 (80); Jachmann DStR 2009 Beihefter Heft 34, 129 (130)

645 Lehner DStR 2009, 185 (190)

vatnützigkeitsgarantie die Entscheidung, erwerbsdienliche Aufwendungen zu tätigen, schüt-zen würde, so müsste man konsequenterweise auch fordern, dass die auf diese Erwerbsauf-wendungen angefallenen indirekten Steuern nicht nur von der Bemessungsgrundlage der Er-tragsteuern, sondern gänzlich von den indirekten Steuern zu befreien sind.647 Wenn ein Steu-erpflichtiger Erwerbsaufwendungen in Höhe von 100 plus 19 Umsatzsteuer tätigt, so kann er zwar im geltenden System 119 von seiner ertragsteuerlichen Bemessungsgrundlage abziehen, jedoch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine privatnützige Entscheidung, Er-werbsaufwendungen zu tätigen, immer noch mit 19 % Umsatzsteuer belastet worden ist.648 Für mich muss diese Betrachtung aber noch sehr viel weitergehen. Der Anwendungsbereich des Art. 14 GG (insbesondere das Recht zur privatnützigen Nutzung von Vermögen) ist in keiner Weise beschränkt auf einen erwerbsdienlichen Bereich. Die Vorschrift unterscheidet weder nach dem Sinn und Zweck noch nach dem Wortlaut zwischen erwerbsdienlicher Ver-mögensnutzung und rein konsumorientierter VerVer-mögensnutzung. Die Privatnützigkeit umfasst mithin den Erwerb von Fachliteratur für die Fortbildung eines Arbeitnehmers ebenso wie die Buchung eines Urlaubs. Konsequenterweise müsste dann aber auch die bloß konsumorientier-te Vermögensnutzung von Art. 14 GG geschützt werden. Dies bedeukonsumorientier-tet, dass die Eigentums-freiheit jedenfalls im Bereich Verbrauchsteuern zum verfassungsrechtlichen Maßstab der Steuerbelastung werden müsste. Wenn aber Art. 14 GG sowohl erwerbsdienliche wie kon-sumorientierte Vermögensnutzung schützt, dann muss auch gefragt werden, warum gerade bei Ertragsteuern die konsumorientierte Vermögensnutzung unberücksichtigt bleibt bzw. ob die Nichtberücksichtigung verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist.

Die Berufung auf die Privatnützigkeit ist für mich daher nur eine schwierigere Herleitung des Schutzes des „Vermögens an sich“ durch die Eigentumsfreiheit.649 Da jeder Steuerzugriff immer nur durch Anwendung eines Steuertarifs auf eine Bemessungsgrundlage erfolgt, müss-te sich nach dieser Ansicht jedes ertrag- oder verbrauchsmüss-teuerliche Gesetz wegen der Festle-gung einer Bemessungsgrundlage an Art. 14 GG messen lassen, sofern nicht jede privatnützi-ge Entscheidung des Steuerpflichtiprivatnützi-gen akzeptiert wird. Dann kann man konsequenterweise und vorzugsweise auch das Vermögen an sich schützen.

646 Eine Ausnahme ist insoweit zu machen, als man Art. 14 GG dann konsequent zum Schutz des Vermögens als solches heranziehen will. Vgl. Wendt in: Sachs GG (6.Auflage) Art. 14 Rn 38; Depenheuer in v. Man-goldt/Klein/Starck GG I (6.Auflage) Art. 14 Rn 89, 169; Bryde in: v. Münch/Kunig GG I (6.Auflage) Art 14 Rn 23; Frye FR 2010, 603 (605 f.)

647 Englisch DStR 2009 Beihefter Heft 34, 92 (93); Di Fabio JZ 2007, 749 (753)

648 Dies jedenfalls außerhalb des Anwendungsbereichs von § 9b I EStG, wenn kein vorsteuerabzugsberechtigter Unternehmer (§ 15 I UStG) die Aufwendungen tätigt.

649 Obwohl Lehner DStR 2009, 185 (189) dies genau verneint.

Eine Unterscheidung zwischen Erwerbsdienlichkeit und privater Konsumdienlichkeit kann folgerichtig nur die Berufsfreiheit650 des Art. 12 GG begründen.651 Es ist also zu klären, ob die Nichtberücksichtigung erwerbsdienlicher Aufwendungen einen Eingriff in die Berufsfrei-heit darstellen kann. Beruf in diesem Sinne ist jede auf Dauer angelegte Erwerbstätigkeit, die zur Sicherstellung der Existenz ausgeübt wird.652 Dies ist natürlich schon insofern problema-tisch, als dass nicht jede steuerbare Tätigkeit (insbesondere im Bereich der §§ 20, 21 und 22 EStG) mangels Dauerhaftigkeit auch eine verfassungsrechtliche Berufsausübung darstellt.

Vielmehr handelt es sich jedenfalls teilweise im Bereich der §§ 20 ff. EStG um nicht ge-schützte, einmalige Erwerbsakte.

Mich vermag aber schon im Kern der obige653 Ansatz, die Berufsfreiheit für die Begründung des objektiven Nettoprinzips heranzuziehen, nur für Extremfälle zu überzeugen. Man mag da-rin zustimmen, dass eine wirkliche Sollertragsteuer auf die eigene Arbeitskraft, welche Ein-nahmen fingiert, wo keine existieren, letztlich eine Pflicht zur Arbeit bzw. zur Erwerbstätig-keit statuiert.

Eine Steuer, die jedoch „nur“ real existierende Erwerbsaufwendungen nicht zum Abzug von real existierenden Einnahmen zulässt, statuiert deswegen noch nicht per se eine Pflicht zur Erwerbstätigkeit. Ob eine zusätzliche Erwerbstätigkeit hierdurch erzwungen werden würde, ist eine Frage der Vermeidbarkeit der Erwerbsaufwendungen und eine Frage der Intensität dieser Belastung im Einzelfall. Letztlich stellt dieser Ansatzpunkt eine „umgekehrte Erdrosse-lungssteuer“ dar. Der Steuereingriff geht nach diesem Ansatz nicht so weit, dass der Beruf oder das Eigentum aufgegeben werden muss,654 sondern genau in die andere Richtung. Die Ausgestaltung der Steuer erfordert dann vielmehr, einen Beruf zu ergreifen oder Eigentum zu erwerben bzw. zu nutzen, um die Steuer bestreiten zu können. Als „umgekehrte Erdrosse-lungssteuer“ unterliegt dieser Ansatz aber auch den gleichen Kritikpunkten wie das Verbot der Erdrosselungssteuer selbst. Hier ist vor allem von Bedeutung, dass dieser Ansatz nur vor den absoluten Extremfällen – eben der Auferlegung einer Erwerbstätigkeitspflicht – schützt.

Allerdings ist zuzugestehen, dass das objektive Nettoprinzip zumindest partiell in den Frei-heitsrechten fundiert ist. Für mich sind hierbei Art. 14 GG und dessen Ausprägungen

650 a.A. z.B. Jachmann DFGT 2 (2005), 59 (71), die das jeweilige „ertragsorientierte Wirtschaften“ je nach Ein-satz der Mittel als von Art. 12 I GG oder Art. 14 I GG geschützt sieht.

651 Dies mag ein Grund sein, warum häufig gleich auf Art. 12 i.V.m. Art. 14 GG abgestellt wird, wenn die frei-heitsrechtliche Begründung des objektiven Nettoprinzips bemüht werden soll; vgl. Jachmann DStR 2009 Beihef-ter Heft 34, 129 (130); Englisch DStR 2009 BeihefBeihef-ter Heft 34, 92 (94)

652 Vgl. nur BVerfGE 126, 112 (136) stRspr. m.w.N.

653 Siehe oben S. 102 ff.

654 Siehe oben S. 109 ff.

scheidend. Ähnlich wie einzelne Stimmen der Literatur655 sehe ich dabei aber nicht vorrangig die Privatnützigkeitsgarantie oder die Berufsfreiheit betroffen, sondern primär das bereits er-wähnte Gebot der angemessenen Besteuerung.656 Hierüber erhält auch die Bemessungsgrund-lage einen gewissen Schutz. Ich bin allerdings nicht der Meinung, dass das Gebot angemesse-ner Besteuerung verlangt, alle Erwerbsaufwendungen des Steuerpflichtigen anzuerkennen.

Die Frage, welche Aufwendungen das Gebot angemessener Besteuerung schützt, wird spä-ter657 beantwortet.