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Übertragbarkeit der Kriterien von Zwang und Pflicht auf das objektive

Kapitel 2 – Verfassungsrechtliches Umfeld

A. Verfassungsrechtliche Grenzen des Ertragsteuerrechts

III. Stellungnahme und Bedeutung der Ergebnisse für die weitere Arbeit

3. Limitierte Fundierung des objektiven Nettoprinzips

3.3 Übertragbarkeit der Kriterien von Zwang und Pflicht auf das objektive

Die vorgebrachten Einwendungen gegen eine Übertragung der Rechtsprechung des BVerfG auf das objektive Nettoprinzip sind für mich nicht durchgreifend.

Insofern als auf den Wortlaut der Entscheidungen abgestellt wird, ist dieses Argument schon ambivalent, denn eine andere Lesart und Betonung zeigen, dass das BVerfG es zumindest of-fen gelassen hat, ob eine Übertragung seiner Rechtsprechung auf Fälle eindeutig erwerbsdien-licher Veranlassung möglich ist. So lässt sich die Entscheidung auch wie folgt lesen: „(…) Dieser hat die unterschiedlichen Gründe, die den Aufwand veranlassen, auch dann im Lichte betroffener Grundrechte differenzierend zu würdigen, wenn solche Gründe ganz oder teilwei-se der Sphäre der allgemeinen Lebensführung zuzuordnen sind.“ 702

Dies zeigt für mich, dass die Frage nach Zwangsläufigkeit bzw. Pflichtbestimmtheit als Ver-anlassungsgrund auch eine Rolle für das objektive Nettoprinzip spielen kann. Natürlich ist der Kontext der bisher vom BVerfG hierüber gefällten Entscheidungen stets (nur) die Frage ge-wesen, ob ein bestimmter, teilweise privat veranlasster Sachverhalt als steuerlich unbeachtlich zu bewerten ist.703 Somit geht es dem BVerfG primär darum, den verfassungsrechtlichen Grenzen für die Nichtberücksichtigung gemischt veranlassten Aufwands Konturen zu verlei-hen. Dies liegt aber nur daran, dass eine Verletzung des objektiven Nettoprinzips im eindeutig

701 Seiler DStJG 34 (2011), 61 (79)

702 BVerfGE 107, 27 (49)

703 Hey in: Tipke/Lang, Steuerrecht (21.Auflage) § 8 Rn 73; Starke in: H/H/R (Jahresband 2007) EStG § 9 Rn J 06-9; So ging es in BVerfGE 107, 27 u.a. um die Frage, ob die rein zeitliche Begrenzung (2 Jahre) des Ab-zugs von Kosten einer doppelten Haushaltsführung ein verfassungskonformes Kriterium zur Abgrenzung zwi-schen relevantem, beruflichem und irrelevantem, privatem Aufwand darstellt. In BVerfGE 112, 268 ging es um die Frage, ob Kinderbetreuungskosten wegen Berufsausübung erst ab einer gewissen Mindestbelastung zu be-rücksichtigen sind. In BVerfGE 122, 210 stellte die skizzierte Rechtsprechung keinen tragenden Grund dar; trotz möglicher Einschlägigkeit eines zwangsläufigen und pflichtbestimmten Aufwands (vgl. etwa Richter/Söhn StuW 2008, 117 (125f.); Hennrichs BB 2004, 584 (587 f.) und Fn 736) wurde „nur“ eine Folgerichtigkeitsprüfung vorgenommen.

erwerbsdienlichen Bereich nach ständiger Rechtsprechung704 am Gebot der Folgerichtigkeit ausgerichtet ist. Für das BVerfG besteht kein Grund, diese Rechtsprechung zu ändern, solan-ge es weiterhin705 eine einfach gesetzliche Systementscheidung im Sinne des objektiven Net-toprinzips zu erkennen vermag, welche die Folgerichtigkeitsprüfung leitet. Auch sind die Rechtfertigungsanforderungen für eine Durchbrechung der Folgerichtigkeit oder der Berück-sichtigungspflicht für Zwangsaufwendungen (mit einigen Einschränkungen) vergleichbar.706 Relevant würde die Frage der Übertragbarkeit der Rechtsprechung zur Zwangsläufigkeit und Pflichtbestimmtheit erst dann, wenn eine solche Systementscheidung nicht mehr erkennbar sein sollte.

Die Stimmen in der Literatur, die sich vehement707 gegen einen Rückschluss von Zwangsläu-figkeit und Pflichtbestimmtheit auf das objektive Nettoprinzip wehren, tun dies anscheinend, um die ihrer Meinung nach eindeutige, verfassungsrechtliche Fundierung des gesamten objek-tiven Nettoprinzips gegen jede Form von Aushöhlung zu verteidigen. Es bleibt aber dabei, dass das objektive Nettoprinzip unter anderem auch durch Pflichten und Zwänge bestimmt ist.708

Klarstellen sollte man an dieser Stelle, dass zwangsläufige und pflichtbestimmte Aufwendun-gen auch (aber eben nicht ausschließlich) ein Anwendungsgebiet des subjektiven Nettoprin-zips darstellen können.709 Die Leitlinie des zwangsläufigen und pflichtbestimmten Aufwands ist eine „sphärenübergreifende“ (Privat- und Erwerbssphäre einschließende) Anforderung der Verfassung.710 Diese Vorgabe wirkt also im eindeutig erwerbsdienlichen, im eindeutig priva-ten und im gemischt veranlasspriva-ten Bereich. Allerdings muss jeweils unterschiedlich definiert werden, was zwangsläufig und pflichtbestimmt ist, da dies von der Veranlassungssituation abhängt.

704 BVerfG v. 06.07.2010 2 BvL 13/09 (Arbeitszimmer II) = BVerfGE 126, 268 (279f.) m.w.N.

705 Vgl. BVerfGE 127, 224 (248) stRspr. m.w.N.

706 Siehe hierzu unten S. 160 ff.

707 Englisch DStR 2009 Beihefter Heft 34, 92 (99) begründet die Ablehnung gerade mit einer Einschätzungs-prärogative des Steuerpflichtigen für gewillkürten Aufwand; vgl. auch Tipke BB 2007, 1525 (1531)

708 Jachmann DStR 2009 Beihefter Heft 34, 129 (130); vgl. auch Greite NWB 2006, 2505 (2508)

709 Englisch NJW 2006, 1025 (1026 f.); Söhn in: K/S/M EStG § 10 EStG Rn S18 qualifizieren etwa die rein pri-vaten Vorsorgeaufwendungen für Kranken- und Pflegeversicherungen als Ausprägung des zwangsläufigen und pflichtbestimmten Aufwands, ohne jedoch dass der Vorlagebeschluss des BFH v. 14.12.2005 X R 20/04 = BStBl II 2006, 312 (322 ff.) oder das BVerfG (BVerfGE 120, 125 ff.) dies aufgegriffen hätten. Dass zumindest der BFH jedoch die Anwendung auch im rein privaten Bereich prinzipiell in Betracht zieht, zeigt BFH v.

27.09.2007 III R 28/05 = BStBl II 2008, 287 (290 f.); allgemein zur Anwendung im privaten Bereich G.Kirchhof DStR 2013, 1867 (1869)

710 So Schilling (Fn 592) S. 62

Prinzipiell richtig ist jedoch der Einwand, dass ein unreflektiertes Abstellen auf Zwänge an sich keinen tauglichen Abgrenzungsmaßstab bringt.711 Vielmehr muss auf das Verhalten und die Veranlassung abgestellt werden, die einen Zwang hervorrufen. Meiner Ansicht nach be-steht hier ein erkennbarer und auf das objektive Nettoprinzip übertragbarer Zusammenhang zwischen der Rechtsprechung des BVerfG zu zwangsläufigen und pflichtbestimmten Auf-wendungen einerseits und den freiheitsrechtlichen Grenzen der Besteuerung andererseits.

Das BVerfG betont im Rahmen seiner Entscheidung zur Zwangsläufigkeit von erwerbsbe-dingten Kinderbetreuungskosten: „Der Gesetzgeber hat in jedem Fall zu beachten, dass Art. 6 Abs. 1 GG die elterliche Entscheidung für Kinder unter besonderen Schutz stellt und verbietet, erwerbstätigen Eltern bei der Einkommensbesteuerung die „Vermeidbarkeit“ ihrer Kinder entgegenzuhalten.“ 712

Hiermit sind gleich zwei Aussagen getroffen worden. Erstens: Eltern kann nicht vorgeworfen werden, dass sie Kinder haben. Zweitens (und das ist eventuell nicht so offensichtlich): Eltern kann auch nicht vorgeworfen werden, dass sie eine steuerbare Erwerbstätigkeit aufgenommen haben.

Die Zwangsläufigkeit in diesem Fall ergibt sich also daraus, dass die Eltern weder (1.) ver-pflichtet sind, auf Kinder zu verzichten, noch (2.) verver-pflichtet sind, auf ihre steuerbare Er-werbstätigkeit (so wie sie diese gewählt haben) zu verzichten oder in eine andere (besser mit Kindern vereinbare) Tätigkeit zu wechseln. Letztere (2.) Erwägung zeigt sich auch (wenn auch ohne explizites Abstellen auf eine für die Leistungsfähigkeit relevante Zwangsläufig-keit/Pflichtbestimmtheit)713 in der Entscheidung über die doppelte Haushaltsführung, soweit über die Fallgruppe der „Kettenabordnung“ entschieden wurde. Es wird dort die besondere Fremdbestimmtheit des Arbeitnehmers bei wiederholter, befristeter Abordnung an einen nicht am Wohnort gelegenen Dienstort (Kettenabordnung) betont, welche die Aufwendungen be-dingt.714 Auch hier wird nicht auf andere Gestaltungsmöglichkeiten der Erwerbstätigkeit (z. B.

Arbeitgeberwechsel) abgestellt.

Es lässt sich verallgemeinernd der Schluss ziehen, dass die Entscheidung für die Eröffnung einer Erwerbsquelle, so wie sie nun mal vom Steuerpflichtigen eröffnet worden ist, grund-rechtlichen Schutz genießt und deswegen nur mit einer verfassungsgrund-rechtlichen Rechtfertigung

711 Vgl. Seiler DStJG 34 (2011), 61 (79); ähnlich für den Bereich des subjektiven Nettoprinzips Schilling (Fn 592) S. 50; Wernsmann StuW 1998, 317 (328 f.)

712 BVerfGE 112, 268 (282); Hervorhebungen durch den Verfasser

713 Den Zusammenhang sieht auch Lindberg in: Frotscher EStG § 2 Rn 9 a.E.

714 BVerfGE 107, 27 (51 f.)

eingeschränkt bzw. „hinterfragt“ werden darf.715 Dies ist Ausprägung der freiheitsrechtlichen Grenzen der Besteuerung.

Dass der Staat die Entscheidung für oder gegen die Eröffnung einer steuerbaren Tätigkeit nicht in Frage stellen darf, zeigt sich deutlich auch am Verbot der Erdrosselungssteuer. Das Verbot der Erdrosselungssteuer knüpft gerade daran an, dass es dem Gesetzgeber verboten ist, über die Erhebung einer Steuer das Verhalten des Steuerpflichtigen dahin zu lenken, dass er seine Steuerquelle aufgibt.716 Umgekehrt muss sich daraus ergeben, dass er die Entscheidung für die Eröffnung einer Steuerquelle nicht ohne verfassungsrechtliche Rechtfertigung in Frage stellen kann.717

Aus der freiheitsrechtlichen Feststellung, dass der Staat die Entscheidung des Steuerpflichti-gen für eine Erwerbsquelle zu akzeptieren hat, lässt sich der Rahmen ziehen, aus dem die ver-fassungsrechtlich relevanten, zwangsläufigen und pflichtbestimmten Aufwendungen des Steuerpflichtigen für eindeutig erwerbsdienliche Aufwendungen stammen.

Zwangsläufige und pflichtbestimmte Aufwendungen, die dem Grunde und der Höhe nach ge-schützt sind, liegen vor, wenn der Zwang, der sie bedingt, unmittelbar mit der Eröffnung einer steuerbaren Erwerbsquelle zusammenhängt.718

Das Zusammenspiel zwischen freiheitsrechtlichen und gleichheitsrechtlichen Anforderungen ist es, das für mich eine nur limitierte Fundierung des objektiven Nettoprinzips begründet. Die Fundierung ist insofern limitiert, als sie sich nur auf den Bereich der Zwangsaufwendungen bezieht, während gewillkürte Aufwendungen nur durch das Gebot der Folgerichtigkeit ge-schützt sind.