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Kapitel 2 – Verfassungsrechtliches Umfeld

B. Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Behandlung gemischter Aufwendungen142

II. Berücksichtigung von freiwilligem Aufwand

2. Abweichende (Sub-)Systementscheidung?

Aufgrund der Erwägungen des BVerfG über das allgemeine Regelungsmodell der Angemes-senheit sowie der Möglichkeit zu einem Systemwechsel lässt sich die Frage aufwerfen, ob nicht eine andere Systementscheidung als das objektive Nettoprinzip zum Maßstab der Folge-richtigkeitsprüfung werden müsste.800 Diese Systementscheidung soll nicht das objektive Net-toprinzip an sich ersetzen (vollständiger Systemwechsel), sondern will ausschließlich den

795 BVerfGE 122, 210 (235 f.); BVerfGE 126, 268 (280) wobei letztere Entscheidung, die von der in Frage ste-henden gesetzlichen Regelung auch umfasste Fallgruppe des nur beruflich genutzten häuslichen Arbeitszimmers als Ausgangspunkt nimmt. Es waren aber auch Fallgruppen von teilweiser beruflicher Nutzung von der gesetzli-chen Änderung betroffen (vgl. BVerfGE 126, 268 (283 f.)).

796 In die Richtung BFH v. 21.09.2009 GrS 1/06 = BStBl II 2010, 672 (681); vgl. auch BFH v. 19.10.1970 GrS 2/70 = BStBl II 1971, 17 (19); eindeutig hierfür: Aweh EStB 2011, 67; G. Kirchhof in: FS Lang S. 563 (586); Weber StuW 2009, 184 (191); a.A Droege StuW 2011, 105 (110 f.)

797 BVerfGE 122, 210

798 BVerfGE 122, 210 (236)

799 BVerfGE 122, 210 (241 ff.); BVerfGE 126, 268 (280 f.)

800 Vgl. auch Seiler DStJG 34 (2011), 61 (69 f.); Wernsmann DStR 2009 Beihefter Heft 34, 101 (105)

reich der gemischten Aufwendungen mit einer neuen Systementscheidung (Sub-Systementscheidung) besetzen.

Die Abgrenzung zwischen einer (vor dem Gebot der Folgerichtigkeit) an sich rechtfertigungs-losen Systementscheidung und einer (vor dem Gebot der Folgerichtigkeit) rechtfertigungsbe-dürftigen Durchbrechung dieser Systementscheidung gelingt umso weniger, je schwieriger sich die Systementscheidung identifizieren lässt.801 Der Findung der maßgeblichen System-entscheidung für die Folgerichtigkeit wird von Seiten der Literatur vereinzelt der Vorwurf gemacht, dass diese nicht rational nachvollziehbar sei.802 Es stellt sich somit die Frage, was eine Regelung des Gesetzgebers zu einer nicht rechtfertigungsbedürftigen Systementschei-dung werden lässt.803

Relativ einhellig kann man zunächst festhalten, dass eine singuläre, gesetzliche Regelung nicht mit einer neuen Systementscheidung gleichgesetzt werden kann. Bei anderer Sichtweise hätte die Folgerichtigkeitsprüfung keinen Anwendungsbereich mehr, da jede einzelne gesetz-geberische Regelung zur nicht rechtfertigungsbedürftigen Systementscheidung werden wür-de.804 Die andere Ansicht,805 die selbst „atomisierte“806 Systementscheidungen zulässt, ist deswegen abzulehnen.

Das BVerfG verlangt für die Anerkennung einer neuen Systementscheidung ein „Mindestmaß an neuer Systemorientierung“.807 Im Rahmen der nur auf den schmalen Bereich der Fahrtkos-ten zwischen Arbeitsstätte und Wohnort beschränkFahrtkos-ten, versuchFahrtkos-ten Einführung des „Werktor-prinzips“ durch das Steueränderungsgesetz 2007 vom 19.07.2006808 lag keine neue System-entscheidung vor.

801 G. Kirchhof DStR 2009 Beihefter Heft 49, 135 (143) etwa glaubt mittlerweile, ein System der „Schedulenbe-steuerung“ im Bereich des EStG zu erkennen, wobei nicht ganz klar wird, ob dieses wirklich als neue, rechtferti-gungslose Systementscheidung oder als eine Art rechtfertigungsbedürftige, „systematische“ Durchbrechung der synthetischen Einkommensteuer aufgefasst werden soll. Vgl. auch allgemein Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I (6.Auflage) Art. 3 Rn 49 ff.

802 Payandeh AöR 136 (2011), 578 (596); Kischel AöR 124 (1999), 174 (206 f.)

803 Sehr kritisch in diesem Kontext wurde die Entscheidung des BVerfG v. 12.05.2009 2 BvL 1/00 (Jubiläums-rückstellung) = BVerfGE 123, 111 ff. aufgenommen. Das BVerfG hat hier den Maßgeblichkeitsgrundsatz des

§ 5 I 1 EStG nicht als Systementscheidung (BVerfGE 123, 111 (123 ff.)) anerkannt und sich deswegen auf eine bloße Willkürkontrolle beschränkt. Zur Kritik vgl. Hennrichs in: FS Lang S. 237 (249 ff.)

804 Drüen StuW 2008, 3 (10); Tipke BB 2007, 1525 (1529); Jachmann DStR 2009 Beihefter Heft 34, 129 (130);

so auch BVerfGE 122, 210 (242)

805 Bundesregierung zitiert nach BVerfGE 122, 210 (224); Leisner-Egensperger BB 2007, 639 (643); Werns-mann DStR 2008 Beihefter Heft 17, 37 (44)

806 So Drüen StuW 2008, 3 (10); Jachmann DStR 2009 Beihefter Heft 34, 129 (130)

807 BVerfGE 122, 210 (242)

808 BGBl I 2006 S. 1652 ff. = BStBl I 2006, 432 ff.

Das BVerfG verlangte, dass bei einer auf einen so kleinen Bereich reduzierten, gesetzlichen Regelung das geforderte Mindestmaß an Systemorientierung nur durch weitergehende An-haltspunkte angenommen werden könne.809 Solche Anhaltspunkte lägen etwa vor, wenn sich bereits abzeichnet, dass eine Regelung durch zukünftige, weitere Regelungen zu einer neuen Systementscheidung entfaltet werden soll.810 Damit wird klar, dass das BVerfG singuläre Re-gelungen lediglich als erkennbares811 Durchgangsstadium hin zu einem neuen System als nicht rechtfertigungsbedürftige Systementscheidung anerkennt.

Teile der Literatur bejahen die Möglichkeit, eine neue Sub-Systementscheidung neben dem objektiven Nettoprinzip zu etablieren, solange sich diese neue Systementscheidung auf einen

„verselbständigbaren“ Sachbereich und nicht auf eine einzelne Regelung bezieht.812 Im Be-reich der gemischten Aufwendungen räumt eine Anzahl von Stimmen dem Gesetzgeber die Kompetenz zur rechtfertigungslosen Ausgliederung dieser Aufwendungen aus der Grundent-scheidung für das objektive Nettoprinzip ein.813

Am ehesten in Frage kommt für eine neue Sub-Systementscheidung wohl die Methodik der Angemessenheit. Das BVerfG sieht hierin immerhin das allgemeine Regelungsmodell für gemischte Aufwendungen.814 Nach Lang ist Angemessenheit das Rechtsprinzip, welches zur Lösung sämtlicher gemischt veranlasster Vorgänge herangezogen werden muss.815 Der BFH sieht in § 4 V 1 Nr. 7 EStG den „Schlüssel zum Verständnis“ der Abzugstatbestände des

§ 4 V 1 EStG, der wiederum zentrale Fallgruppen gemischter Aufwendungen regelt.816

Wie allerdings schon der einfach gesetzliche Teil dieser Untersuchung ergeben hat, ist die Angemessenheit keinesfalls die einzige Methodik zur Behandlung gemischter

809 BVerfGE 122, 210 (242)

810 BVerfGE 122, 210 (242)

811 So auch Englisch in: FS Lang S. 167 (193 f.) m.w.N.

812 Drüen StuW 2008, 3 (10 f.) und Birk DStR 2009, 877 (881) nennen als solchen Bereich etwa die „Abgeltung-steuer“ für private Kapitalerträge (zweifelnd Hey StbJb 2007/2008, 19 (36 f.)); Jachmann DStR 2009 Beihefter Heft 34, 129 (130); Die Verfasser wollen jedoch diese neue Systementscheidung selber als eine Art rechtferti-gungsbedürftiger „Subsystementscheidung“ der (höher gelagerten?) Grundentscheidung für das objektive Net-toprinzip sehen und nehmen damit letztlich eine Art Folgerichtigkeitsprüfung nicht für eine einzelne, abwei-chende Norm, sondern für den abweiabwei-chenden, verselbständigbaren Sachbereich insgesamt vor. Dies stellt dann aber gerade keine neue (rechtfertigungslose) Systementscheidung neben dem objektiven Nettoprinzip, sondern eher eine „systematische“ Durchbrechung (vgl. auch Fn 801) dar! Drüen Ubg 2009, 23 (27) scheint davon auch wieder abzurücken.

813 Wernsmann DStR 2007, 1149 (1152), der sich hierbei allerdings noch auf das aufgegebene Aufteilungsverbot bezieht; Richter/Söhn StuW 2008, 117 (124); Müller-Franken NJW 2009, 55

814 BVerfGE 122, 210 (236)

815 Lang (Fn 24) S. 314 f., 328 f.; dem folgend als Angemessenheitsprinzip betrachtend: Kreft in: H/H/R EStG

§ 9 Rn 200; Hey in: Tipke/Lang Steuerrecht (21.Auflage) § 8 Rn 244, 287 f.; in die Richtung auch Seiler DStJG 34 (2011), 61 (89); kritisch zur Geltung als Prinzip Drüen StbJB 2010/2011, 65 (70 f.) m.w.N.

816 BFH v. 30.07.1980 I R 111/77 = BStBl II 1981, 58 (59)

gen.817 Neben der eindeutigen Zuweisung erfolgt sogar die Aufteilung der gemischten Auf-wendungen nach 3 verschiedenen Methoden, die allesamt gesetzlich kodifiziert sind. Dass Angemessenheit als einzige Methode auch eine generalklauselartige Kodifizierung in

§ 4 V 1 Nr. 7 EStG erhalten hat, lässt meines Erachtens noch kein Mindestmaß an Systemori-entierung erkennen, welches nach der Rechtsprechung des BVerfG für eine neue Systement-scheidung notwendig wäre. Insbesondere die sukzessive Erweiterung des Mehraufwands,818 der Angemessenheit gerade umkehrt, zeigt, dass im Bereich der gemischten Aufwendungen keine Systemorientierung stattfindet. Insofern halte ich auch die Aussage, dass

§ 4 V 1 Nr. 7 EStG den Schlüssel für das Verständnis von § 4 V 1 EStG darstelle, für mittler-weile nicht mehr haltbar, denn in § 4 V 1 EStG manifestiert sich sukzessive auch die Metho-dik des Mehraufwands.

Für eine Systemorientierung müsste der Gesetzgeber einen eindeutigeren Kurs fahren, der nicht erkennbar ist.

Aus diesem Grund verbleibt es im Status Quo bei der einzig identifizierbaren Grundentschei-dung des objektiven Nettoprinzips als Maßstab für die Folgerichtigkeitsprüfung bei gemisch-ten Aufwendungen.