• Keine Ergebnisse gefunden

3 Digitales Lernen für Benachteiligte: Teilhabe sichern, Lernerfolg steigern

Die Herausforderung, den notwendigen persönlichen Kontakt und die Möglichkei-ten digitaler Unterstützung in eine praktikable Balance zu bringen, stellt sich auch bei der konkreten Ausgestaltung digitaler Lernansätze für benachteiligte Menschen.

Dabei steht das Thema „digitales Lernen“ im Kontext der tiefgreifenden Verände-rungsprozesse, die mit der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeitswelt verbun-den sind.

Christian Mittermüller 157

Die kontinuierliche Veränderung der Arbeitswelt durch technologischen Fort-schritt ist kein neues Phänomen. Allerdings verlaufen die Veränderungen, die durch die Digitalisierung der Arbeitswelt hervorgerufen werden, besonders schnell und in-tensiv; Berufsfelder, Arbeitsprozesse und Anforderungsprofile erfahren einen rapi-den Wandel. So geht das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) da-von aus, dass in Hessen rund 24 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse da-von einem hohen Substituierbarkeitspotenzial betroffen sind. Innerhalb von nur drei Jahren hat sich dieser Wert aufgrund des technischen Fortschritts nahezu verdoppelt (vgl.

Weißler 2018, S. 14). Hinzu kommt, dass nahezu jedes Beschäftigungsverhältnis zu-mindest in einzelnen Tätigkeitsbereichen durch die Digitalisierung tiefgreifende Veränderungen erfahren wird. In welchem Umfang die aktuellen Veränderungen für die Zukunft extrapoliert werden können und welche Anforderungsprofile sich daraus für künftige Berufsbilder ergeben, lässt sich allerdings kaum sicher prognos-tizieren.

Fest steht: Die Dynamik der Digitalisierung verändert Lebens- und Arbeits-räume, setzt Innovationsschübe in Gang und befördert Kreativität. Diese Dynamik kann aber auch Ängste auslösen, kann überfordern und zu Abwehrreaktionen füh-ren. Nicht alle sind gleichermaßen in der Lage, mit der hohen Veränderungsdyna-mik Schritt zu halten. Insbesondere die Zielgruppen der Arbeitsmarktförderung, wie beispielsweise benachteiligte Jugendliche, Langzeitarbeitslose, Menschen mit Migrationshintergrund und/oder geringen Deutschkenntnissen, werden den rasan-ten Wandel ohne Hilfestellung kaum bewältigen. Gleichzeitig bietet die Digitalisie-rung gerade für diese Zielgruppen große Chancen, insbesondere im Bereich von Pä-dagogik und Qualifizierung.

Die hohe Relevanz, die die Hessische Arbeitsmarktförderung dem Thema „digi-tales Lernen“ zumisst, lässt sich durch einen pointierenden Blick auf wissenschaft-liche Studien fundieren:

1. Eine aktuelle Studie des IW Köln zu „Weiterbildung 4.0“ (Seyda, Meinhard &

Placke 2018) untersucht den Verbreitungsgrad digitaler Lernformen in weiterbil-dungsaktiven Unternehmen. Er ist insgesamt hoch: 84 Prozent der Unternehmen nutzen digitale Lernangebote. Während Lernvideos und Podcasts sowie interaktives webbasiertes Lernen (Webinare, Online-Kurse) bei mehr als der Hälfte der Unter-nehmen genutzt werden, sind es bei computerbasierten Selbstlernprogrammen noch 40 Prozent. Lernen an mobilen Endgeräten durch Apps kommt nur in 30 Pro-zent der weiterbildungsaktiven Unternehmen zum Einsatz, digitale Planspiele und

„Serious Games“ lediglich noch bei acht Prozent (ebd., S. 117). Das zeigt: Digitales Lernen in der Weiterbildung findet momentan eher als Reproduktion der konventio-nellen analogen Unterrichts- und Lernsituation statt. Die spezifischen didaktischen Möglichkeiten digitaler Endgeräte werden in den Unternehmen eher zurückhaltend genutzt. Einige Projekte der Hessischen Arbeitsmarktförderung für Benachteiligte decken hingegen sämtliche der genannten digitalen Lernformen ab – und das mit positiven Ergebnissen.

2. Der „Monitor digitale Bildung“ der Bertelsmann Stiftung (Schmid, Goertz &

Behrens 2017) aus dem Jahr 2017 liefert ähnliche Befunde wie die zitierte Studie des 158 Digitalisierung als Schwerpunkt der Hessischen Arbeitsmarktförderung – Handlungsnotwendigkeiten, Projektbeispiele und Fördersystematik

IW Köln, erweitert das thematische Spektrum aber um die Frage der Chancenge-rechtigkeit beim digitalen Lernen. Er liefert Ergebnisse, die zeigen, dass auf diesem Feld beachtlicher Handlungsbedarf besteht. Es mag zunächst wenig überraschen, dass Menschen mit geringerer formaler Bildung sowie nicht Erwerbstätige seltener digital lernen. „Dass sich (formal) weniger Gebildete seltener weiterbilden als formal Gebildetere ist […] seit langem bekannt“ (ebd., S. 26) und kein spezifisches Phäno-men des digitalen Lernens. Was erstaunt, ist aber die Einschätzung der Lehrenden und der Einrichtungsleitungen in Weiterbildungseinrichtungen, wonach vor allem leistungsstarke Lerner:innen vom digitalen Lernen profitieren. Zwei Drittel der dort Befragten sind dieser Ansicht, während nur ein Drittel dieser Befragten glaubt, dass leistungsschwache Teilnehmende vom digitalen Lernen profitieren (ebd., S. 28). Die von den Befragten mehrheitlich formulierte Präferenz für eine Limitierung digitalen Lernens auf lernstarke Zielgruppen bedarf mit Blick auf die praktischen Erfahrun-gen der Hessischen Arbeitsmarktförderung einer deutlichen Korrektur. Denn ein solches Mindset der Lehrenden birgt die Gefahr, dass die Teilhabechancen und Potenziale digitalen Lernens gerade für die benachteiligten Teilnehmenden unge-nutzt bleiben. Hier gilt es gegenzusteuern, damit die Leistungsschwächeren durch bestmögliche Bildungsangebote gestärkt und nicht durch einen voreiligen Aus-schluss digitaler Methoden weiter geschwächt werden.

3. Die Chancengerechtigkeit beim digitalen Lernen auf einer früheren Stufe der Bildungsbiografie hat die im Herbst 2019 erschienene „International Computer and Information Literacy Study“ (ICILS) für Schüler:innen der Klassenstufe 8 in den Blick genommen. Ergebnis: In kaum einem anderen Land ist die Ausprägung digitaler Kompetenzen von Schüler:innen so stark vom soziokulturellen Status des Elternhau-ses abhängig wie in Deutschland (vgl. Eickelmann et al. 2018, S. 312). Da die Mög-lichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe künftig in zunehmendem Maße vom Ausprä-gungsgrad digitaler Kompetenzen abhängig sind, ergibt sich daraus ein großer arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Handlungsbedarf. Es gilt, Mittel und Wege zu finden, der drohenden „digitalen Spaltung“ entgegenzuwirken.

4. Das Potenzial der Digitalisierung gerade für benachteiligte Jugendliche wird durch den „Monitor Digitale Bildung“ der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2016 überzeugend nachgewiesen (vgl. Schmid, Goertz & Behrens 2016). Demnach sind formal geringer qualifizierte Jugendliche gegenüber digitalen Medien generell aufge-schlossener als Auszubildende mit allgemeiner Hochschulreife. „Internetrecherche, Lernspiele, Apps und das Erstellen eigener Inhalte“ sind für diese Zielgruppe beson-ders attraktiv (ebd., S. 6). So geben beispielsweise nur 17 Prozent der Auszubilden-den mit Hochschulreife an, dass sie es „sehr motivierend“ finAuszubilden-den, im Unterricht für Lernzwecke im Internet zu recherchieren. Bei den Auszubildenden mit Hauptschul-abschluss hingegen liegt dieser Prozentsatz mit 34 Prozent doppelt so hoch. Das überzeugende Fazit der Autor:innen: „Offenbar sind digitale Lernmedien und Ange-bote besonders gut dazu geeignet, gering qualifizierte Jugendliche zu interessieren, zu motivieren und ihnen […] bessere Teilhabe- und Erfolgschancen im beruflichen Ausbildungssystem zu eröffnen.“ (ebd., S. 15).

Christian Mittermüller 159

Der zitierte Befund entspricht den Erfahrungen aus der Förderpraxis der Hessi-schen Arbeitsmarktförderung: Gerade für die Förderung von benachteiligten Ju-gendlichen, aber auch in anderen Altersgruppen, bietet die Digitalisierung, wenn sie pädagogisch klug gehandhabt wird, ein besonderes Potenzial. Heterogene Lerngrup-pen können individuell angesprochen, Lerngeschwindigkeit und Bildungsinhalte können auf den einzelnen Teilnehmenden und seine Fähigkeiten und Bedarfe zuge-schnitten werden. Hinzu kommt, dass der Einsatz digitaler Medien einen zusätz-lichen Motivationsschub auslösen kann.

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE