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2 Digitale Arbeitswelt – ein prekäres Szenario oder eine reale Chance für Menschen mit Lernschwierigkeiten?

Digitalisierung der Arbeitswelt, Industrie 4.0, Arbeiten 4.0, Berufsbildung 4.0, Ar-beitswelt der Zukunft. Diese oder ähnliche Begriffe werden für das Phänomen der Vernetzung der virtuellen Computerwelt mit der physischen Arbeitswelt verwendet, das spätestens seit der Jahrtausendwende in aller Munde ist, für das spektakuläre Veränderungen und Entwicklungsperspektiven prognostiziert werden und dem eine bedeutende Rolle für ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen eingeräumt wird. Es soll nicht nur die Produktivität durch die Industrie 4.0 gesteigert, sondern u. a. auch die Arbeitsbedingungen, Arbeitsweisen und Arbeitsergebnisse verbessert werden. Dies impliziert einen Wandel der Arbeit (4.0) und ihrer Kompetenzanforde-rungen, die alle Beschäftigungsgruppen betrifft (vgl. Misselhorn & Behrendt 2017).

Gefordert sind Überblickswissen und das Verständnis des Zusammenspiels der be-teiligten Akteure. Durch die Vernetzung bislang getrennter Bereiche nimmt die Re-levanz sozialer Fähigkeiten und Interdisziplinarität zu (vgl. Misselhorn & Behrendt 2017, S. 34). Insgesamt kommt es zur Modernisierung der Unternehmensstrukturen und -kulturen. Hirsch-Kreinsen sieht das Erfordernis einer Neugestaltung des ge-samten sozio-technischen Systems (vgl. Hirsch-Kreinsen 2014, S. 1). Mit diesen Ent-wicklungen gehen Ängste vor einer vollständigen Entmündigung der Arbeitenden bis hin zur Auflösung der Erwerbsarbeit einher. Wenngleich Arbeitsplätze nicht ganz verschwinden werden, so wird sich aber ihre Gestaltung massiv ändern (vgl.

Misselhorn & Behrendt 2017). Es zeichnet sich ab, dass die Anzahl einfacher Tätig-keiten geringer wird, während neue hoch-spezialisierte Tätigkeitsfelder entstehen werden, die eines höheren Qualifikationsniveaus als das des Facharbeiters bedürfen (vgl. Castells 2001, S. 258 f.; Engels 2016; Hirsch-Kreinsen 2014, S. 3). Ein Effekt, der sich insbesondere auf die Beschäftigungsquote von Menschen mit Lernschwierigkei-ten auswirken könnte.

Die aktuellen Erhebungen zur Langzeitarbeitslosigkeit in der Arbeitsmarktbe-richterstattung der Bundesagentur für Arbeit (BA) zeigen, dass Geringqualifizierte ein hohes Risiko haben, langzeitarbeitslos zu sein. Im Jahr 2017 war die Arbeitslo-senquote von Personen ohne Berufsabschluss auf Bundesebene etwa fünfmal höher (18,7 %) als von Personen mit einer beruflichen Ausbildung (3,6 %) (vgl. Bundes-agentur für Arbeit 2018, S. 10). Die Zahlen für Geringqualifizierte sind an dieser Stelle relevant, weil „Menschen mit Lernschwierigkeiten nahezu ausnahmslos dazu zählen” (Miederer & Vieweg 2015, S. 6) und sie somit implizit darlegen, dass Men-schen mit Lernschwierigkeiten kaum am qualifikationsorientierten Arbeitsmarkt teilhaben.

Die Möglichkeiten und Herausforderungen einer zunehmend digitalisierten Ar-beitswelt werden mit Blick auf Auszubildende und Arbeitnehmer:innen mit Lern-schwierigkeiten, respektive mit unterschiedlichen Bedarfen, besonders deutlich.

Während der Mehrwert digitaler Technologien für Menschen mit Mobilitäts- und/

oder Sinnesbeeinträchtigungen offensichtlich erscheint (Stichworte Assistive

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nologien, Kommunikationshilfen, Home-Office etc.), wirken digitale Arbeitswelten für Menschen mit Lernschwierigkeiten auf den ersten Blick wenig vorteilhaft und sind mit vielen „Eintrittsbarrieren” verbunden (vgl. Engels 2016, S. 15).

Auf der anderen Seite finden sich in der Fachliteratur auch Hinweise darauf, dass die Digitalisierung durch unterschiedliche Effekte einen Beitrag zur Inklusion von Menschen mit Lernschwierigkeiten in die Arbeitswelt haben kann. Diese wer-den im Folgenwer-den dargelegt.

2.1 Herausforderungen der Digitalisierung für Menschen mit Lernschwierigkeiten

Die Herausforderungen liegen im Wesentlichen in den Bereichen der Arbeitstätig-keiten selbst, in der technischen Infrastruktur sowie in der Qualifizierung.

Erstens, in den Arbeitstätigkeiten: Komplexe Sachverhalte und schnellere Abläufe verändern die Anforderungen an Auszubildende wie Arbeitnehmer:innen sowie an ihre Qualifikationen und Kompetenzen (vgl. Engels 2016, S. 15; Hirsch-Kreinsen 2014, S. 2). Die Arbeit gestaltet sich durch den Einsatz von Geräten und Maschinen immer weniger körperlich. Der kognitive Aufwand hingegen steigt, insbesondere die Anforderungen an die Konzentrationsfähigkeit. Ferner werden abstraktes Vorstel-lungsvermögen, Verständnis für komplexe Navigationsstrukturen sowie die Fähig-keit zur Erfassung textlicher und grafischer Informationen benötigt, um in digitali-sierten Arbeitswelten zu bestehen (vgl. Revermann & Gerlinger 2010; Engels 2016;

Bühler & Fisseler 2008; Vanderheiden 2006). Auch technische Hilfen erfordern er-hebliche Kognitionsleistungen der Nutzenden (vgl. Revermann & Gerlinger 2010).

Diesen neuen Anforderungen können Menschen mit Lernschwierigkeiten oftmals nicht gerecht werden.

Zweitens, in der technischen Infrastruktur: Auch an die technische Infrastruktur von Unternehmen, Ausbildungsbetrieben und Berufsschulen stellt die Digitalisie-rung neue AnfordeDigitalisie-rungen. Die effiziente Nutzung neuer digitaler Möglichkeiten zur Unterstützung von Arbeits- und Lernprozessen setzt eine entsprechende technische Infrastruktur voraus, z. B. Internetzugang, WLAN, PC, Software und mobile Geräte.

Diese ist in vielen Berufsschulen und Ausbildungsbetrieben, mit besonderem Blick auf soziale Einrichtungen und/oder ländliche Regionen, noch immer nicht flächen-deckend ausgebaut (vgl. Bertelsmann Stiftung 2016). Bei Neuanschaffungen oder Weiterentwicklung der Unternehmens‐IT sollte eine (universelle) Barrierefreiheit geplant werden, um allen Mitarbeitenden, unabhängig von Alter und Einschrän-kung, die Nutzung von Arbeitsgeräten und -systemen zu ermöglichen. Allerdings vernachlässigen selbst barrierefreie Systeme und Anwendungen oftmals die speziel-len Bedarfe von Menschen mit kognitiven und/oder Lernschwierigkeiten (vgl. Edler 2016, S. 33). Dabei geht es nach Edler (2016) nicht nur um das Lesen und Verstehen von Texten, sondern auch und insbesondere um die Handhabung und individuelle, bedarfsgerechte Anpassung von Geräten und Geräteausgaben (ebd., S. 287).

Drittens, in der Qualifizierung: Ein großes Problem von Unternehmen ist oft-mals die Vorbereitung der Mitarbeitenden auf den technologischen Wandel und sich

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verändernde Arbeitsprozesse; mangelnde Qualifizierungsmaßnahmen, die Leh-rende und Ausbilder:innen zum Lehren mit digitalen Medien befähigen und die Ak-zeptanz gegenüber digitalen Lehr-Lernkonzepten stärken (vgl. Bertelsmann Stiftung 2016; Zierer 2017). Hier fehlen Regelungen, die den personellen und zeitlichen Mehraufwand kompensieren.

2.2 Chancen für Menschen mit Lernschwierigkeiten

Mit der Digitalisierung gehen auch große Chancen zur Unterstützung von Men-schen mit Lernschwierigkeiten einher, z. B. bei der Bewältigung von Alltags- und Ar-beitstätigkeiten sowie von Lehr-Lernprozessen (vgl. Zierer 2017). Diese These stützen die PISA-Studien, die zeigen, dass eine Ursache für das schlechte Abschneiden von Deutschland der mangelnde Einsatz von digitalen Medien im Bildungssystem sein kann. Denn zwischen Schulleistungen und dem regelmäßigen Einsatz von digitalen Medien besteht ein positiver Zusammenhang. Der Einsatz von digitalen Medien im Schulunterricht ist in Deutschland so gering wie in kaum einem anderen OECD-Staat (vgl. Pfeffer-Hoffmann 2007, S. 12).

Digitale Medien, wie Lern-Applikationen, Wikis oder auch die Sprach- und Über-setzungsfunktionen der Endgeräte, ermöglichen Menschen mit Lernschwierigkeiten, wie in der UN-BRK gefordert, die Teilhabe an Bildung (vgl. Pelka 2017, S. 28). Sie stellen eine „preisgünstige, diskriminierungsarme, individualisierbare und zeitlich selbst steuerbare” Teilhabemöglichkeit dar (ebd.). Damit unterstützen digitale Me-dien nicht nur die Teilhabe an Bildung, sondern sie schaffen vielmehr auch einen Mehrwert für Bildung – eine Art Bildungs-Enhancement. Mit Blick auf Menschen mit Lernschwierigkeiten wird dies besonders deutlich. Sie erhalten durch die Adapti-vität digitaler Medien neue Möglichkeiten, ihre Beeinträchtigungen zu kompensie-ren, wie zum Beispiel durch die Wahlmöglichkeit unterstützender Funktionalitäten, wie Vorlesen, Vergrößern, Kontrastieren etc. (vgl. Weiser 2016, S. 203). Weitere Stär-ken digitaler Ansätze für eine inklusionsorientierte Bildung sind die Möglichkeiten der Individualisierung, z. B. im Hinblick auf Darstellung, Lerntempo etc., und der anschaulichen Aufbereitung von vormals textlastigen Lernangeboten durch Videos, Bilder, Audios, gamifizierte Elemente. Digitale Medien können die Praxis nicht nur realitätsnah abbilden, sondern auch flexibel dort eingesetzt werden, wo Fragen auf-tauchen oder sich häufig Fehlerquellen ergeben. Praxisorientierte, digital gestützte Lernangebote können einen wesentlichen Beitrag für eine bedarfsgerechte beruf-liche Ausbildung und eine handlungsorientierte Qualifizierung am Arbeitsplatz leis-ten (vgl. Bertelsmann Stiftung 2016, S. 7). Zudem bieleis-ten digitale Medien vielfältige Möglichkeiten, das gemeinsame Lernen und die selbstbestimmte Teilhabe zu för-dern (vgl. Schluchter 2014).

Wie gezeigt, verändert Digitalisierung nicht nur unsere Lebens- und Arbeits-welt, sondern erweitert auch unsere Lernmöglichkeiten. Jedoch müssen die in Kapi-tel 2.1 genannten aktuellen und zukünftigen Herausforderungen vergegenwärtigt und bearbeitet bzw. gelöst werden, um die Potenziale, die den neuen Technologien inhärent sind, voll auszuschöpfen.

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Die Fakultät Rehabilitationswissenschaften der Technischen Universität Dort-mund forscht bereits seit Jahren zu Fragestellungen, die sich mit dem Einsatz digita-ler Medien in Ausbildung und Beruf für Menschen mit Beeinträchtigungen beschäf-tigen. Nachfolgend werden vier vom BMBF geförderte Forschungsvorhaben vorge-stellt. In Kapitel 3 werden die in den Projekten adressierten Lernendengruppen – Menschen mit Lernschwierigkeiten, funktionale Analphabet:innen und Menschen mit Migrationshintergrund – beschrieben, bevor die didaktisch-methodischen Grund-lagen der digitalen Lernprojekte in Kapitel 5 und deren Umsetzung in Kapitel 6 dar-gestellt werden.

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